# taz.de -- Repressives Justizsystem in Frankreich: Im Zweifel gegen die Angekl… | |
> In Frankreich werden derzeit viele Jugendliche in Schnellverfahren | |
> verurteilt. Es ist der Versuch der Politik, nach den Krawallen Härte zu | |
> zeigen. | |
STRAßBURG taz | Dieses Mal haben wir keine Hoffnung mehr“, sagt Manuel*. | |
Mit zwei Freunden sitzt der junge Mann vor dem Gerichtssaal 101 im Palais | |
de la Justice in Straßburg – den Kopf in die Hände versenkt, die Ellenbogen | |
auf die Knie aufgestützt. Es ist heiß und stickig an diesem Tag Mitte Juli | |
im Gerichtsgebäude. Die drei Freunde sind zu früh und warten vor | |
verschlossener Tür. „Wir sind wegen meines Cousins hier“, sagt Manuel. | |
„Sonst kommt ja niemand seinetwegen.“ | |
Manuels 20-jähriger Cousin wurde zwei Nächte vorher festgenommen. Er war in | |
einem Vorort von Straßburg alkoholisiert auf einem nicht angemeldeten | |
Motorrad erwischt worden. „Es war einfach nur dumm“, sagt Manuel, „ich war | |
an dem Abend dabei. Er war schlecht gelaunt und hat die Polizisten | |
beleidigt, als sie ihn anhalten wollten.“ Manuel ist davon überzeugt, dass | |
sein Cousin dieses Mal ins Gefängnis geht. Es ist nicht das erste Mal, dass | |
er Probleme mit der Polizei hat. „Wir haben seine Sachen schon dabei“, sagt | |
Manuel und deutet auf die große schwarze Plastiktasche, die er zwischen | |
seine Füße gestellt hat. | |
Gemeinsam mit sechs weiteren Angeklagten wird Manuels Cousin – nennen wir | |
ihn Léo – in einer sogenannten Comparution Immédiate, einem | |
Schnellverfahren, verurteilt. Der Gerichtssaal ist voll, neben Léos | |
Freunden sind auch Angehörige der anderen Angeklagten gekommen. Doch manche | |
haben auch niemanden dabei. | |
Nacheinander werden die Angeklagten in einen Plexiglaskasten im | |
Gerichtssaal geführt. Die Anhörungen dauern jeweils kaum eine halbe Stunde. | |
Drei der Angeklagten sind 20 Jahre alt oder jünger, alle kommen aus | |
schwierigen sozialen Verhältnissen; sie haben eine Einwanderungsgeschichte, | |
mit Vorstrafen oder Sucht zu kämpfen. | |
Nach den [1][Unruhen Anfang Juli sind in ganz Frankreich] über 900 | |
Jugendliche in standardisierten Schnellverfahren verurteilt worden. In | |
vielen französischen Städten hatte es eine Woche lang Proteste und | |
gewalttätige Ausschreitungen gegeben, nachdem der 17-jährige Nahel M. am | |
27. Juni bei einer Verkehrskontrolle in Nanterre bei Paris von einem | |
Polizisten erschossen worden war. Vor allem junge Menschen aus den | |
Banlieues hatten ihrem Frust und ihrer Wut gegen die Polizei freien Lauf | |
gelassen. Insgesamt kam es zu über 3.800 Festnahmen. 1.056 Personen wurden | |
zu Haftstrafen verurteilt, davon 742 ohne Bewährung. Die durchschnittliche | |
Haftstrafe beträgt 8,2 Monate. | |
Der Großteil der Verurteilungen, insgesamt 900, erfolgte in | |
standardisierten Schnellverfahren. [2][Ein Drittel der Verhafteten] war | |
minderjährig, 60 Prozent von ihnen hatten zuvor noch nie Kontakt mit der | |
Justiz gehabt. | |
Auf der Social-Media-Plattform Tiktok wird das Video von Nahels Tod in | |
verschiedenen Variationen tausende Male geteilt. „Wann hört die Polizei | |
auf, uns umzubringen?“ schreibt ein Nutzer. „Leute, wir müssen gegen dieses | |
Unrecht kämpfen“, kommentiert ein anderer. | |
„Dieses Mal waren es nicht die politisierten, militanten Aktivisten, die | |
sich mit der Polizei angelegt haben“, sagt Laurent Feisthauer, Vorsitzender | |
der großen, einflussreichen Gewerkschaft CGT Bas-Rhin. „Dieses Mal waren es | |
Kinder aus der Vorstadt.“ | |
Feisthauer organisierte eine Woche nach den ersten Urteilen in Straßburg | |
gemeinsam mit anderen Veranstalter:innen eine Demonstration gegen die | |
Diskriminierung der Jugendlichen aus den französischen Vorstädten. „Unser | |
Land ist in Trauer und in Wut“, lautete das Motto des Protests. | |
„Manche dieser jungen Leute hatten noch nie mit der Polizei zu tun und | |
haben erst recht keinen Anwalt. Im Polizeigewahrsam macht man ihnen Druck, | |
die Schnellverfahren zu akzeptieren. Was sie aber nicht wissen, ist, dass | |
die Strafen viel höher ausfallen als in normalen Verfahren.“ Deshalb, so | |
glaubt der Gewerkschafter, wurden so viele der Verhafteten nach den Unruhen | |
zu relativ hohen Strafen verurteilt. | |
In Straßburgs Innenstadt sieht man nicht mehr viel von den Krawallnächten. | |
Nur die Fenster der geplünderten Geschäfte sind noch mit Spanplatten | |
verschraubt, und in den meisten Bushaltestellen fehlen Scheiben. Auch für | |
das Gericht ist es ein normaler Prozesstag – Schnellverfahren finden hier | |
jeden Tag, die ganze Woche über statt, sagt die zuständige | |
Gerichtsschreiberin am Telefon. | |
Der Ablauf dieser Express-Prozesse ist immer der gleiche. Nacheinander | |
werden die Angeklagten in den Plexiglaskasten im Gerichtssaal geführt. Der | |
Richter verliest die Anklage: Verweigerung, Widerstand, Fahren unter | |
Alkoholeinfluss, Morddrohung. | |
Léos Anklageliste ist noch etwas länger. Der junge Mann steht | |
eingeschüchtert hinter dem Mikrofon, durch das seine Aussage im | |
Gerichtssaal zu hören sein soll. Die Augen hinter der fein umrahmten Brille | |
wandern nervös hin und her. Der Richter stellt dem Angeklagten ein paar | |
Fragen, Léo nuschelt ein paar Antworten in das Mikrofon. Was er sagt, | |
scheint niemanden besonders zu interessieren. Die geschädigten Polizisten | |
sitzen ebenfalls im Gerichtsaal, einer von ihnen zeigt einen blauen Fleck | |
am Arm. Ihr Anwalt verlangt 500 Euro Schmerzensgeld pro Person. | |
Dann hat der Staatsanwalt sechs Minuten Redezeit. Zwei Jahre Haft ohne | |
Bewährung fordert er für Léo. Anschließend hat der Pflichtverteidiger | |
ebenfalls sechs Minuten. Das letzte Wort steht dem Angeklagten zu. „Es tut | |
mir leid, und ich werde alles tun, um das Geld für die Polizisten | |
aufzutreiben“, murmelt Léo. Dann ist sein Dossier abgeschlossen und der | |
nächste Angeklagte wird in Handschellen in den Plexiglaskasten geführt. | |
Das Strafmaß wird am Ende der Verhandlungen für alle Angeklagten gebündelt | |
verlesen. | |
Per Definition sind [3][die Comparutions Immédiates] dazu gedacht, die | |
oder den Angeklagte:n direkt aus dem Polizeigewahrsam heraus, innerhalb | |
von 48 Stunden nach der Festnahme, zu verurteilen. Schnellverfahren werden | |
anberaumt, wenn die Sachlage vermeintlich keine umfassende Untersuchung | |
nötig macht. Meistens handelt es sich um Delikte wie Sachbeschädigung, | |
Diebstahl, Fahren unter Alkoholeinfluss, Beleidigung, Verweigerung oder | |
Gewalt gegen die Polizei. | |
Angeklagte können das Verfahren ablehnen, um ihre Verteidigung gründlicher | |
vorzubereiten. Allerdings riskieren sie dann, die Zeit bis zu ihrer | |
Anhörung in Untersuchungshaft zu verbringen. Meistens sind die Angeklagten | |
jung, männlich und aus prekären sozialen Verhältnissen. 70 Prozent aller | |
Angeklagten werden in diesen Schnellverfahren zu einer Haftstrafe | |
verurteilt. „Klassenjustiz“, sagen kritische Jurist:innen dazu. | |
Für Frankreichs Justizminister Éric Dupond-Moretti waren diese | |
beschleunigten Verfahren nach den Unruhen genau das richtige Instrument, um | |
schnelle Fakten zu schaffen. Am 30. Juni forderte er die | |
Staatsanwaltschaften in einem Schreiben zu einer „harten strafrechtlichen | |
Reaktion“ auf. | |
Gut zwei Wochen später zieht er im Radiosender RTL die Bilanz seiner | |
Politik und bedankt sich bei den Staatsanwaltschaften für ihr Durchgreifen. | |
„Es war zwingend notwendig, dass wir die öffentliche Ordnung | |
wiederherstellen“, rechtfertigt der Justizminister den harten Kurs. | |
Das Syndicat de la Magistrature, eine linksgerichtete Gewerkschaft von | |
Richter:innen, wirft ihm jetzt „Strafrechtspopulismus“ vor. Kim Reuflet, | |
Vorsitzende des Syndicat, erklärt am Telefon: „Ein Justizminister, der die | |
Staatsanwaltschaften zu einem harten geschlossenen Vorgehen auffordert, | |
nimmt eindeutig Einfluss auf die Rechtsprechung. Und die | |
Staatsanwaltschaften haben offensichtlich gehorcht.“ | |
Die Gewerkschaft kritisiert die beschleunigten Verfahren schon lange. „Sie | |
sind von Grund auf diskriminierend, ungerecht und nicht objektiv“, sagt Kim | |
Reuflet. „Die Angeklagten und die Geschädigten können so kurz nach der Tat | |
noch keine sachliche Stellungnahme abgeben. Unter dem Einfluss all dieser | |
Emotionen ist es für die Richter schwierig, ruhig und unparteiisch zu | |
urteilen. Und die Verteidiger haben nicht genug Zeit, das Dossier ihrer | |
Angeklagten richtig vorzubereiten.“ | |
Trotzdem beobachtet die Richterin, dass die beschleunigten Verfahren | |
[4][in den letzten Jahren immer häufiger] werden. 2021 kamen sie laut | |
Daten des Justizministeriums in genau 58.222 Fällen zum Einsatz, fünf | |
Jahre zuvor waren es noch knapp 50.000 gewesen, bei einer stabil bleibenden | |
Zahl von Strafverfahren insgesamt. Eine Analyse der NGO Observation | |
internationale des prisons bestätigt ihre Vermutung. Die NGO sieht zwei | |
Gründe für diese Zunahme: Abschreckung und den verzweifelten Versuch eines | |
überforderten Justizapparates, irgendwie mit dem endlosen Fluss an Fällen | |
fertig zu werden. | |
Rechtsanwalt Patrick Rodier hat Léo und einige andere Angeklagte an diesem | |
Prozesstag vertreten. Es ist schon fast halb acht, als der über 80-Jährige | |
endlich aus dem Gerichtssaal kommt. Endlos lange Prozesstage sind für ihn | |
keine Ausnahme. Trotzdem findet Rodier die Abläufe bei den Schnellverfahren | |
korrekt: „In Frankreich hat jeder das Recht auf einen Anwalt. Wenn man | |
selbst keinen hat, springt der Pflichtverteidiger ein.“ Er hatte in der | |
Nacht Bereitschaft, als Léo verhaftet wurde. „Ich habe kurz mit ihm | |
geredet, vor allem um zu sehen, ob ich etwas finde, was sich strafmildernd | |
auswirken kann – und um sicher zu sein, dass er vor Gericht keine | |
Dummheiten erzählt.“ | |
Rodier spricht mitfühlend von seinen jungen Mandant:innen. Als das Gespräch | |
aber auf die Unruhen kommt, ist er trotzdem der Meinung, dass das harte | |
Durchgreifen der Justiz gerechtfertigt war. „Das sind wirklich manchmal | |
kleine Dummköpfe“, kommentiert er die Ausschreitungen in Straßburgs | |
Vierteln Cronenbourg und Neudorf bedauernd. „Sie zünden ihr eigenes Viertel | |
an. Die Autos, die sie verbrannt haben, das sind die ihrer Nachbarn oder | |
ihrer Familien. Irgendwie muss man ihnen einen Riegel vorschieben.“ | |
Hier treffen zwei gegensätzliche Positionen aufeinander. Die eine Seite | |
glaubt, dass nur eine repressivere Polizei und Justiz das Problem lösen | |
kann. Noch mehr Gewalt gegen die Gewalt auf den Straßen. „Angesichts dieser | |
wilden Horden reicht es nicht mehr, nur zur Ordnung aufzurufen, man muss | |
sie ihnen aufzwingen“, schreiben die zwei größten Polizeigewerkschaften | |
Frankreichs in einer gemeinsamen Pressemitteilung. Frankreichs | |
Justizminister will bis Ende nächsten Jahres 25 neue Gefängnisse bauen | |
lassen – für seine Justizreform bekam er letzte Woche grünes Licht im | |
Unterhaus des französischen Parlaments, der Assemblée Nationale. | |
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die davon überzeugt sind, dass | |
erst das brutale Vorgehen des Staates die Gewalt eskalieren lässt. Leute | |
wie der Gewerkschafter Feisthauer, der den Protestmarch organisiert hatte. | |
„Ex-Präsident Nikolas Sakozy hat 2003 die Police de Proximité, die Polizei | |
als Freund und Helfer, wie man sie aus Deutschland kennt, abgeschafft“, | |
erinnert er. „Sarkozy sagte, die Polizei sei nicht dazu da, mit den Kindern | |
in den Problemvierteln Fußball zu spielen.“ | |
Heute sei die französische Polizei ausgerüstet wie zu einem Bürgerkrieg | |
gegen die eigene Bevölkerung. „Und dann wundern wir uns, dass Gewalt | |
irgendwann das einzige Mittel der jungen Leute bleibt, um ihren Frust | |
auszudrücken“, sagt er. | |
Feisthauer ist überzeugt davon, dass die repressive Justiz ein Teil des | |
Problems in Frankreich ist. „Sie macht aus jungen potenziellen | |
Arbeitnehmern Kriminelle.“ Neben seinem 20-jährigen Engagement in der | |
Gewerkschaft ist Feisthauer auch Berufsschullehrer. Er sagt: „Niemand | |
stellt die Leute ein, wenn sie eine Lücke in ihrem Lebenslauf haben, weil | |
sie im Gefängnis waren. Wir werfen junge Leute, gerade volljährig, damit | |
aus der Gesellschaft heraus.“ | |
Léo hat vor Gericht ausgesagt, dass er sich eine selbstständige Existenz | |
aufbaut und Kurse in Betriebswirtschaft besucht. Er wolle eine | |
Suchtberatung beginnen. Stattdessen geht er nun ein Jahr ins Gefängnis, | |
ohne Bewährung. Dazu kommen jeweils 500 Euro für die geschädigten | |
Polizisten. | |
Als das Urteil verlesen wird, drängt sich Manuel mit der Plastiktasche in | |
der Hand zum Plexiglaskasten vor. Der Richter weist ihn zurück: Die | |
Übergabe der persönlichen Dinge bitte in der Haftanstalt. | |
*Name geändert | |
27 Jul 2023 | |
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Luise Mösle | |
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