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# taz.de -- Proteste von Jugendlichen in Frankreich: Sie haben keine Wahl
> Die Proteste in Frankreich reagieren auf die Polizei, die einen
> 17-Jährigen erschoss. Sie sind für Jugendliche der einzige Weg, gehört zu
> werden.
Bild: Kämpft für „ur-französische“ Ideale: Mann umgeben vor brennenden B…
Seitdem der 17-jährige Nahel in Nanterre von einem Polizisten
[1][kaltblütig erschossen] wurde, brennt es in Frankreich. Dort, wo die
rassifizierte Arbeiterklasse vom Staat auf Ewigkeiten geparkt und von
[2][seiner Polizei unterdrückt] wird, lassen vor allem Jugendliche ihrem
Frust freien Lauf. Das Video, das den Mord an Nahel zeigt, wurde längst von
Bildern der Zerstörung abgelöst: eine ausgebrannte Tram nach Protesten in
Bordeaux, demolierte Glasfassaden in Marseille.
Insbesondere viele deutsche Korrespondent*innen zeigen sich schockiert
über die Ausmaße des Protests. Die Demonstrant*innen werden zur Ruhe
aufgerufen. Sie würden mit den Randalen nur ihr eigenes Eigentum zerstören,
heißt es.
Diesem eingeübten Blick von außen – manchmal vom Homeoffice mit Aussicht
auf die restaurierte Kathedrale von Notre-Dame aus – liegt ein
grundsätzliches Missverstehen des historisch gewachsenen Kastensystems in
Frankreich zugrunde. Die Bilder der brennenden Autos, der Feuerwerkskörper,
die auf die Staatsmacht abgefeuert werden, wirken wie eine fragile
Lebensversicherung für die rassifizierte Jugend Frankreichs.
Auch in anderen Ländern mussten in den vergangenen Jahren Polizeiwachen in
Flammen aufgehen, damit die Schwächsten eine Überlebenschance bekommen.
Diesen Zusammenhang zwischen Mobilisierung und Selbstschutz verstehen nur
die wenigsten.
Rein analytisch und aus der Perspektive der Demonstrant*innen
betrachtet: Paris muss brennen, damit sich zumindest kurzfristig etwas
[3][in Sachen Polizeigewalt] im Land tun könnte.
Der Preis für die Morde, die von Polizist*innen begangen und von der
Politik überhaupt ermöglicht werden, muss nach oben getrieben werden. In
diesen Tagen erinnern sich viele an das Jahr 2005. Damals starben die
beiden Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Traoré in Clichy-sous-Bois bei
Paris. Sie versteckten sich vor einer rassistischen Polizeikontrolle in
einem Elektroverteilerkasten und wurden von Stromschlägen getroffen.
## Verbale und physische Dehumanisierung
Es folgten heftige Proteste, die von der Polizei und mit dem Segen einer
Mehrheit in Politik und Gesellschaft gewaltsam niedergeschlagen wurden. Der
damalige Innenminister Nicolas Sarkozy hatte seine Beamt*innen
angestachelt, „den Abschaum“ mit einem „Dampfreiniger“ zu entfernen.
Die Proteste gegen diese verbale und in der Polizeipraxis normalisierte
Dehumanisierung entfalteten nach 2005 ihre Wirkung in den Vorstädten: Wir
müssen uns im äußersten Fall selbst verteidigen, erkannten damals viele
Jugendliche. Ihre jüngeren Geschwister knüpfen an diese
Mobilisierungs-Tradition nun an. Sie haben keine Wahl.
In Frankreich hat bisher keine andere Maßnahme gegen Polizeigewalt gewirkt:
weder der friedliche Protest mit Schildern und Sprechchören, noch ein
geordneter Diskurs, noch die Demokratie selbst. Im Gegenteil. Ein Gesetz
aus dem Jahr 2017, das Polizist*innen erlaubt bei Verkehrskontrollen zu
schießen, wurde von einer demokratisch gewählten Regierung verabschiedet
und diente als Grundlage für den Polizisten, der Nahel mit einer
Maschinenwaffe ermordete.
Die Jugend in den Vorstädten kennt es gar nicht anders: Der französische
Zentralstaat, mit allem, was ihn ausmacht, möchte sie kontrollieren,
unterdrücken, im äußersten Fall töten. Dagegen hilft nur die Revolte. Und
die gehört in Frankreich zum Standardrepertoire der
Bürger*innenbeteiligung. Die Jugendlichen, so kann man es auch lesen,
erfüllen mit den Randalen eine ur-französische, republikanische Pflicht
gegen die unmenschliche Staatsgewalt, die ihre Würde mit Polizeistiefeln
tritt.
Egal ob Gelbwesten oder monatelange Streiks: Immer gehen in Frankreich
Fensterscheiben zu Bruch, werden Barrikaden errichtet und Autos angezündet.
Immer antwortet die Polizei mit noch mehr Gewalt. Doch nur im Fall der
Jugendlichen in den Vorstädten wird mit einem derart großen Entsetzen
reagiert. Es stellt sich die Frage, ob einige Beobachter*innen hier
mit zweierlei Maß messen.
## Hauptverantwortlich ist die Polizei selbst
Zumindest ist es mehr als nur weltfremd, auf die Lage in Frankreich eine
deutsche Sehnsucht gesellschaftlicher Friedensromantik zu projizieren.
Während hierzulande von Rassismus betroffene Menschen zur Grünen Jugend
oder den Jusos stoßen, schmeißen Jugendliche in Nanterre und Marseille
Pflastersteine, um ihr Leben zu retten. So funktioniert das politische
System in Frankreich nun mal.
Ebenfalls rein analytisch betrachtet: Hauptverantwortlich für die
brennenden Städte und Vorstädte ist Florian M. Jener Polizist, der Nahel
zuerst bedroht und dann in die Brust geschossen hat. Florian M. ist
derjenige, der all die Gewalt gegen Sachen verursacht hat. Auf ihn könnte
man gut die eigene Empörung umleiten.
Das sollten wir uns als Beobachter*innen stets vergegenwärtigen. Von
Lille bis Marseille hat die Polizeigewalt in den vergangenen Nächten also
großen Sachschaden angerichtet – der die betroffenen Jugendlichen
nachvollziehbar emotional wenig trifft.
Selbst die Idole der Banlieues, so wie der Fußballer Kylian Mbappé, können
die Situation derzeit nicht beruhigen, die Jugendlichen nicht erreichen.
Mbappé bat in einer Stellungnahme die jungen Demonstrant*innen, keine
Gewalt anzuwenden.
„Es ist euer Eigentum, das ihr zerstört, eure Nachbarschaften, eure
Städte“, schrieb der Fußballer von Paris Saint-Germain. Nur: Wenn man von
der Polizei erschossen wird, hat man von Eigentum, Nachbarschaften und
Städten nichts.
## Polizei droht mit Gewalt
Das haben die jungen Demonstrant*innen verinnerlicht, weil viele von
ihnen in bedrohliche Situationen gegenüber der Polizei geraten sind oder
mit hoher Wahrscheinlichkeit geraten werden. Viele Eltern verzweifeln in
diesen Tagen an ihren eigenen Kindern. 13, 14 oder 16 Jahre alt, lassen sie
sich nicht mehr bändigen und bestehen darauf, dem tödlichen Zentralstaat
die Stirn zu bieten.
Einige Eltern sollen aus Angst ihrem Nachwuchs Hausarrest auferlegt haben.
Um ihre Leben zu schützen, dürften diese Jugendlichen aber nie wieder auf
die Straße gehen – zumindest nicht, solange die Polizei in Frankreich im
Auftrag von Staat und einem großen Teil der Gesellschaft frei dreht.
Zur Ruhe könnte und müsste daher in diesen Tagen die Polizei selbst gerufen
werden – bevor sie noch mehr Sachschaden anrichtet und Menschen tötet. Das
Gesetz von 2017 und andere Regelungen müssten zurückgenommen werden, die
Sicherheitskräfte in den Vorstädten abrüsten.
Was haben Maschinenpistolen bei Verkehrskontrollen zu suchen? Der Protest
könnte Reformen erzwingen. Ein Blick in die Realität ist allerdings mehr
als schockierend: Die beiden größten Polizeigewerkschaften des Landes
forderten vor wenigen Tagen in einem martialischen Ton auf, „angesichts
dieser wilden Horden“ nicht nur um Ruhe zu bitten, sondern sie
„durchzusetzen“. Die „Schädlinge“ müssten mit „allen Mitteln“ bek…
werden.
Das kann nur als Gewaltankündigung verstanden werden und ist der
eigentliche Grund für brennende Trams und Autos, für eingeschlagene
Scheiben und schockierte Beobachter*innen.
3 Jul 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Mohamed Amjahid
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