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# taz.de -- Frankreichs Nationalfeiertag: Hausgemachte Sackgasse
> Am Freitag begeht Frankreich zwischen Frust, Gewalt und Pomp seinen
> alljährlichen Nationalfeiertag. Auswege aus der Misere sind nicht in
> Sicht.
Bild: Gewaltätige Auseinandersetzungen in Lyon am 30. Juni nach dem Tod des Ju…
Gemütlich frühstücken: Das hat Emmanuel Macron letzte Woche im
südfranzösischen Pau getan. Da waren die gewaltsamen Unruhen gerade
abgeflaut in den Banlieues, den Vorstädten der Republik, nach der
Erschießung eines 17-jährigen Sohns algerischer Einwanderer durch einen
Polizisten. Allein im Jahr 2022 tötete die Polizei insgesamt 13 Personen
bei Kontrollen. Und was verkündet der Präsident beim Croissant? „Die
republikanische Ordnung in Frankreich ist wiederhergestellt.“
Gut, dann hören wir hier auf zu schreiben. Doch leider ist nichts wieder
gut, und auch rund um den Nationalfeiertag kommt es wohl erneut zu Unruhen.
Seit 40 Jahren und mehr sind die meisten Menschen strukturell massiv
benachteiligt in den Banlieues, diesen schnell hochgezogenen Siedlungen,
die ab Mitte der 1950er Jahre entstanden, als Hunderttausende
Französ:innen aus ehemaligen Kolonialgebieten, meist in Afrika gelegen,
dringend Unterkunft brauchten.
Mitgearbeitet und mitgebaut haben sie alle an der Industrialisierung und
dem Wohlstand Frankreichs. Sie waren aber die ersten, die arbeits- und oft
auch mittellos wurden, als in den 1980er Jahren die Globalisierung begann.
Seitdem schneiden diese Quartiere bei Lebenserwartung, Bildungsabschluss
und Haushaltseinkommen extrem schlecht im Vergleich ab. Aktuell steigt die
Armut dort durch die Inflation.
Trotzdem gibt es Erfolgsgeschichten, besonders Mädchen und Frauen
emanzipieren sich oft von schwierigen Familienverhältnissen durch Bildung.
Es existieren soziale Angebote für die, die in überforderte Familien
geboren werden. „Es reicht aber hinten und vorne nicht“, sagen unisono
Sozialarbeitende in den Banlieues.
## Nach Corona auf der Strecke geblieben
Die sozialen Folgen der [1][Coronapandemie] zeigen sich jetzt während der
Unruhen sichtbar wie im Brennglas: Wegen des einst äußerst strengen
Lockdowns und der Schulschließungen gibt es Kinder und Jugendliche, die dem
System entglitten sind, die staatliche Autoritäten und niederschwellige
Unterstützungsangebote negieren. Sie sind geprägt durch die sozialen
Medien, die aber nur ein Baustein der Unruhen sind.
Für den leider größeren Teil der etwa 68 Millionen Französ:innen sind
die rund 6 Millionen, die in schwierigen Vorstädten leben (müssen), gefühlt
nicht existent. Und jetzt nimmt man zwei Millionen junge Menschen unter 24
Jahren samt ihren Eltern in moralische Kollektivhaftung dafür, was rund
10.000 allermeist Teenager sinnlos zerstört haben. Auch aus Wut auf einen
Staat, der die republikanischen Werte der Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit wie eine Monstranz vor sich herträgt.
Frankreich zieht keine Schlüsse daraus, dass an den Rändern der
Gesellschaft die gute Botschaft schon lange nicht mehr ankommt, ja auch
durch den Staat pervertiert wird. Hinter brutal attackierten
Kommunalpolitiker:innen und arrogant abgebügelten Jugendlichen, die
zwar den französischen Pass haben, aber von Konservativen und Rechten nicht
als „français de souche“, als echte Franzosen angesehen werden, sondern als
eingewanderte Muslime, steht ein multiples Fiasko.
Eines davon ist die viel zu geringe und wenig wirkungsmächtige
Repräsentation der Banlieue im politischen Alltag der Fünften Republik.
Hier muss eine Initiative greifen, die zum Ziel hat, nicht Mimikry an die
weiße Republik zu betreiben, sondern die selbstbewusst die Vorstädte
vertritt. Unglaubwürdig signalisiert Macron jetzt „Demut“ vor dem
galoppierenden Unruhenverlauf in ganz Frankreich.
## Kein Geld für „Plan Banlieue“
2020 hatte er in Les Mureaux bei Paris, einer Art Vorzeige-Banlieue,
kritisch getönt: „Unsere Republik hat die Ghettoisierung zugelassen,
Ballungsräume für Elend und Schwierigkeiten geschaffen.“ Auch ließ er
gleich 2017 einen „[2][Plan Banlieue]“ erstellen. Der wurde versenkt, wohl
zu teuer, zu viel Ärger verursachend mit einer von Grund auf autoritär
organisierten Polizei, für die Menschenfreundlichkeit meist ein Fremdwort
ist.
Die muss, soll sich in der Banlieue, die stellenweise mit viel Geld baulich
aufgehübscht wird, etwas zum langfristig Guten wenden, dringend reformiert
und stärker durch andere staatliche Organe kontrolliert werden. Sofort
enden müssten die ständigen grundlosen, häufig rassistisch motivierten
Personenkontrollen. Sie blockieren effektive Ermittlungen.
Macron, der nach den [3][Gelbwestenprotesten Ende 2018] und dem
Durchpeitschen der Rentenreform am Parlament vorbei dieses Jahr bereits
seine zweite inländische Krise erlebt, dankte beim Frühstück in Pau der
Polizei. Es gäbe ein Problem fehlender Autorität in der Banlieue, aber
dieser Mangel sei in der Familie begründet. Punkt. Die Exekutive steht
stramm an der Seite der Polizei. Die kämpft mit Personalmangel, kriegt aber
nur immer noch schärferes, teures Geschütz.
Begleitet wird das von teils radikalisierten Polizeigewerkschaften. Eine
nannte die Aufrührer „Schädlinge und wilde Horden“, schuld sei unter
anderem die unkontrollierte Immigration. Dabei kommen laut Statistik rund
90 Prozent der Unruhestifter aus Frankreich. Geschickter Nutznießer der
Unruhen ist der rechtsextreme [4][Rassemblement National] unter Marine Le
Pen, der, wie schon bei den Rentenprotesten, trügerisch moderat auftritt.
Über ein Drittel in Frankreich befürwortet die Partei.
Keinen Plan hat das [5][zerstrittene linke Sammelbecken Nupes], zu sehr ist
man mit sich selbst beschäftigt. Le Pen inszeniert sich als die
republikanische und autoritätentreue Befriederin Frankreichs, die nichts
gegen „gute“ Einwanderung hat. Die ewige Präsidentschaftskandidatin will
Wahlstimmen von Frustrierten und Verängstigten aus der Banlieue. Außerdem
sät sie Zwietracht bei Les Républicains, die unter deren Chef Éric Ciotti
ins ultrarechte, identitäre Lager abdriften.
Für die Präsidentschaftswahlen 2027 verheißt das nichts Gutes. Die von Le
Pen ausgerufene „Rückkehr zur Ordnung“ wäre eine noch repressivere,
menschenverachtendere. Am meisten leiden unter ihr würde die Banlieue.
14 Jul 2023
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
[2] /Debatte-Franzoesischer-Wahlkampf/!5400891
[3] /Protest-gegen-Rentenreform-in-Frankreich/!5648447
[4] /Vorsitzender-des-Rassemblement-National/!5890232
[5] /Vor-den-Parlamentswahlen-in-Frankreich/!5847794
## AUTOREN
Harriet Wolff
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