# taz.de -- Journalist über die französische Polizei: „Wie eine Mafia“ | |
> Valentin Gendrot war monatelang undercover bei der französischen Polizei. | |
> Dort erlebte er gewalttätige Kollegen und eine Kultur des Schweigens. | |
Bild: „Pas de justice, pas de paix“: Polizisten abseits eines Gedenkmarschs… | |
wochentaz: Herr Gendrot, Sie haben monatelang undercover bei der | |
französischen Polizei recherchiert und 2020 das Enthüllungsbuch „Bulle“ | |
(auf Deutsch 2022) veröffentlicht. Ein UN-Komitee hat der französischen | |
Polizei jetzt [1][strukturellen Rassismus] attestiert. Hat das Komitee | |
recht? | |
Valentin Gendrot: Ich habe als Hilfspolizist in Paris keinen Einblick in | |
die Strategiepapiere und Organisation der leitenden Abteilungen gehabt, | |
deshalb kann ich über strukturellen Rassismus nichts sagen. Das heißt aber | |
nicht, dass die Polizei kein Rassismusproblem hat. Ich habe mit 32 | |
Polizist:innen zusammengearbeitet, 5 oder 6 von ihnen waren rassistisch | |
und gewalttätig. Diese Leute sollten in einem normalen demokratischen Land | |
keine Polizist:innen mehr sein – aber sie sind es, noch immer. Bei der | |
Polizei wird das Wort „Bastard“ verwendet, wenn über 13 Jahre alte | |
arabische oder schwarze Kids gesprochen wird. Schwarze Jugendliche werden | |
kontrolliert, weiße nicht. | |
Spiegelt die Sprache das Verhalten und die Einstellungen der Polizei wider? | |
In gewisser Weise schon. Wenn ich Gewalt erlebt habe, richtete sie sich | |
immer gegen Minderheiten. Nie gegen Weiße oder gegen Schwarze in einer | |
gehobenen sozialen Position, die Anzug und Krawatte trugen. | |
Sie sagen, Sie haben insgesamt mit 32 Polizist:innen | |
zusammengearbeitet. Sind das Problem nicht eher die 27 Kolleg:innen, die | |
schweigen und nichts sagen? | |
Ja, sicher. Die französische Polizei funktioniert wie eine Mafia. Keiner | |
redet, niemand prangert die Verhältnisse an, es gibt eine Kultur des | |
Schweigens, keine Transparenz. So bleiben die fünf oder sechs gewalttätigen | |
Beamten bei der Polizei. Und so kann es sein, dass ein Polizist einen | |
17-jährigen Jungen wie [2][Nahel M.] tötet. | |
Gibt es also einen ausgeprägten Korpsgeist in der französischen Polizei? | |
Auch wenn etwas Schlimmes oder Falsches passiert, sind Polizist:innen | |
meist solidarisch mit den anderen. Ich glaube, das liegt auch daran, dass | |
es ein harter Job ist. Und wenn man Polizeigewalt anprangert, ist man ein | |
Verräter. Für mich ist es in der Polizei wie bei Asterix: Auch im Dorf von | |
Asterix gibt es Figuren, die nicht jeder mag. Aber wenn die Römer kommen, | |
halten sie alle zusammen. | |
In Deutschland wird oft kritisiert, dass es keine wirklich [3][unabhängigen | |
Ermittlungsbehörden] gibt, dass im Falle eines Fehlverhaltens die Polizei | |
gegen die Polizei ermittelt. Das scheint in Frankreich auch ein Teil des | |
Problems zu sein. | |
Ja. Auch in Frankreich werden Vergehen intern untersucht, es gibt keine | |
unabhängigen Behörden. Wir haben die „Inspection générale de la Police | |
nationale“ in Frankreich, wir nennen sie die Polizei der Polizei. In | |
Großbritannien ist das anders, in England gibt es etwa die „Independent | |
Police Complaints Commission“, in Schottland die „Police Investigations and | |
Review Commissioner“. Deshalb ist die englische Polizei vielleicht sauberer | |
als die französische. | |
Wie verhält sich das Innenministerium? | |
Innenminister Gérald Darmanin schützt fast immer die Polizei. Selbst wenn | |
ein Polizist etwas Schlimmes tut, zum Beispiel jemanden umbringt oder | |
jemanden schlägt, stellt er sich noch schützend vor die Polizei. | |
Lassen Sie uns über die Suizidrate unter Polizist:innen in Frankreich | |
sprechen. Die ist sehr hoch. | |
Ja, erschreckend hoch. Im vergangenen Jahr waren es 46! In der Berufsgruppe | |
der Polizist:innen werden die zweitmeisten Suizide verübt, mehr sind es | |
nur bei den Bauern. | |
Erklärt sich die hohe Zahl durch die Arbeitsbedingungen? | |
Bei Polizeieinsätzen ist man häufig mit Gewalt konfrontiert. Man sieht | |
viele Verletzte und Tote. Außerdem ist das Bild des guten, heldenhaften | |
Polizisten ein Zerrbild aus dem französischen Kino. Wenn du ein „kleiner“ | |
Polizist bist, bist du kein Held. Du bist nur ein armer Kerl, der Dinge | |
ausführen muss, die dir andere vorgeben. Und es gibt noch einen anderen | |
Faktor: Viele der Polizisten, die mit mir zusammenarbeiteten, kamen nicht | |
aus Paris. Sie kamen aus kleinen Dörfern, in denen nur weiße Menschen | |
leben. Sie kennen überhaupt keine schwarzen, keine arabischen Menschen. Ich | |
komme auch aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Rennes, wo 2.000 Menschen | |
leben, alles Weiße. Wenn man dann in eine Banlieue kommt und dort arbeiten | |
soll, ist das eine Überforderung. Dazu kommt, dass die Polizei in Paris in | |
einem schlechten Zustand ist. Schmutzige Polizeireviere, schlechte | |
Ausstattung. Wahrlich kein Traumjob. | |
Sie schreiben auch, dass Sie in Ihrer Zeit bei der Polizei täglich | |
homophobe und frauenfeindliche Sprüche erlebt hätten. | |
Ja, auch das waren oft die gleichen fünf oder sechs Kollegen, die die | |
Sprüche klopften. Es gab noch einen anderen Fall, den ich im Buch nicht | |
erwähnt habe: Eine Kollegin erzählte mir zunächst, dass sie eine sexuelle | |
Beziehung zu einem Polizeibeamten gehabt habe. Okay, dachte ich. Zwei | |
Wochen später sagte sie, es sei eine Frau gewesen, mit der sie Sex hatte. | |
Aber auf der Polizeiwache erzählte sie es keinem … | |
… weil man sein Schwul- oder Lesbischsein besser verschweigt? | |
Ja, du hältst einfach deine Klappe. Als Polizist sollst du ein harter Mann | |
sein, Muskeln zeigen. Wenn du homosexuell bist, sprichst du besser nicht | |
darüber. | |
Nahel M. ist ein weiteres Opfer in einer ganzen Reihe von Opfern mit | |
Migrationshintergrund. Am bekanntesten wurde der Fall von [4][Adama Traoré] | |
im Jahr 2016, der mit dem Tod von George Floyd vergleichbar ist. Warum | |
ändert sich nichts? | |
Ich weiß es nicht. Es ist einfach schrecklich. Die Familie von Adama will | |
seit Jahren herausfinden, was passiert ist. Aber die Polizei schweigt. Es | |
gibt verschiedene Expertengutachten, die zu jeweils anderen Ergebnissen | |
kommen. Ich verstehe, dass die Familie von Adama Traoré weiter | |
Demonstrationen organisiert wie am Samstag vergangener Woche – die wurde | |
dann von den Behörden verboten. Die Polizei hat Adamas Bruder Youssouf | |
verhaftet und geschlagen. Furchtbar. | |
Nun hat Frankreich nach dem Tod von Nahel M. eine Welle der Gewalt erlebt, | |
und ein Ergebnis ist, dass laut einer Umfrage 60 Prozent der Franzosen für | |
eine härtere Einwanderungspolitik sind. Schieben die Franzosen das Problem | |
den Migrant:innen in die Schuhe? | |
Es sind zwei verschiedene Sachen, der Tod von Nahel und die Gewalt danach. | |
Wenn es um den Fall Nahel geht, liegt das Problem ganz klar bei der | |
Polizei. Vergangenes Jahr wurden 13 Menschen von der Polizei getötet, weil | |
sie der Aufforderung, anzuhalten, nicht nachkamen. Die Frage der Gewalt | |
nach dem Tod von Nahel und wie man sie bekämpft, ist eine andere. Ich kann | |
nur über die Polizei sprechen. Und ich weiß, dass wir dort aufräumen | |
müssen. | |
Haben Sie nach Ihrer Investigativrecherche in der Polizei eigentlich viele | |
Drohungen erhalten? | |
Eher Beschimpfungen in sozialen Netzwerken, keine Drohungen. Wenn ich heute | |
Polizisten sehe, die in meiner Gegend arbeiten, denke ich einfach, das sind | |
arme Jungs. Jeden Tag müssen sie eine schwierige, schlechte Arbeit für | |
wenig Gehalt leisten. | |
Haben Sie jemals eine:n Ihrer früheren Kolleg:innen getroffen? | |
Nein. Aber eins ist klar: Ich bin jetzt ein Verräter. | |
14 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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