# taz.de -- Nach den Unruhen in Frankreich: Normalität vor zerstörten Scheiben | |
> In Frankreichs Hauptstadt Paris kehrt nach den Ausschreitungen Ruhe ein. | |
> Doch die Folgen bleiben im Straßenbild sichtbar – und Ladenbetreiber | |
> wachsam. | |
Bild: Shoppen mit Ambiente – nur die Holzplatten vor den Fenstern stören das… | |
PARIS taz | „Ihr Laden ist geöffnet und empfängt Sie zu den gewohnten | |
Öffnungszeiten“ – diese Botschaft prangt derzeit an vielen Geschäften in | |
der Pariser Innenstadt. Wo zuvor breite Schaufensterfronten den Blick ins | |
Innere der Läden gewährten, prangen nun braune Holzspanplatten – | |
Schutzmaßnahmen, die viele Geschäfte in Frankreich während der | |
gewalttätigen Ausschreitungen der letzten Juni-Woche ergriffen. | |
Der Auslöser für die Unruhen im Land war der Tod des 17-jährigen Nahel, der | |
am 27. Juni während einer Verkehrskontrolle [1][in dem Pariser Vorort | |
Nanterre von einem Polizisten] erschossen wurde. Noch in derselben Nacht | |
wurden zahlreiche Geschäfte im Zentrum der Hauptstadt zerstört und | |
geplündert, insbesondere im bei Touristen und Parisern beliebten | |
Châtelet-Viertel und an der berühmten Rue de Rivoli. | |
„Wir hatten Angst“, sagt Paula, die in einem Kosmetikshop an der Rue de | |
Rivoli arbeitet. Ihren Nachnamen will sie aus Angst vor beruflichen | |
Nachteilen nicht nennen. Während der Unruhen war sie jeden Tag im Geschäft. | |
„Als die Leute plötzlich anfingen, Autos anzuzünden, haben wir verstanden, | |
dass die Lage ernst ist“, erzählt sie, daraufhin wurden die Holzbarrikaden | |
vor den Scheiben errichtet. „Wir hatten echt Glück“, sagt sie rückblickend | |
erleichtert – das Geschäft, in dem Paula arbeitet, wurde nicht beschädigt. | |
Auf über eine Milliarde Euro schätzt der Arbeitgeberverband der | |
französischen Unternehmen die durch die Aufstände entstandenen Schäden. | |
Über 300 Bankfilialen, 250 Tabakgeschäfte, 220 Supermärkte und rund 1.200 | |
Einzelhändler wurden geplündert und demoliert. | |
## Übermalte Graffiti, verbrannte Mülleimer | |
Im 15. Arrondissement von Paris, etwa fünf Kilometer südwestlich der Rue | |
Rivoli, lebt der Architekturstudent Elie. Auch er möchte seinen Nachnamen | |
nicht veröffentlicht sehen. In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni, | |
Donnerstag auf Freitag, als die Krawalle ihren Höhepunkt erreichten, wurde | |
er vom Lärm der Feuerwehr geweckt. „In meiner Straße brannten Autos“, | |
erzählt er. Doch als er am Freitagmorgen darauf aus dem Haus trat, so Elie, | |
sei von den verbrannten Autos in seiner Straße nichts mehr zu sehen | |
gewesen. „Alles war … total normal“, erinnert er sich. Wie schnell die | |
Spuren der Krawalle beseitigt wurden, überrascht ihn. | |
Auch im Châtelet-Viertel zeugen nun von den Ausschreitungen nur noch ein | |
paar Graffiti an den Hauswänden: „La police tue“ – „Die Polizei tötet… | |
„Justice pour Nahel“ – „Gerechtigkeit für Nahel“. Auf dem Wellblech … | |
Baustellenumzäunung wurde der Schriftzug „Justice pour Nahel“ schon fast | |
gänzlich übermalt. | |
Auch auf der Rue de Rivoli ist eine Woche nach den Krawallen alles beinahe | |
wieder wie immer. Touristengruppen schlendern die Einkaufsmeile entlang, | |
Kolonnen von Fahrradfahrern ziehen eilig vorüber. Ein Laden bereitet sich | |
auf die Neueröffnung vor: Reinigungskräfte polieren die Fensterscheiben, | |
Maler renovieren die hellblaue Fassade. | |
Um die Spuren der Unruhen zu entdecken, muss man genauer hinsehen. Dann | |
fällt der Blick auf [2][verbrannte Mülleimer und angeschlagene Fassaden]. | |
Etwa am Schmuckgeschäft Mauboussin wird das Ausmaß der Zerstörung deutlich: | |
Eine Holzspanplatte ersetzt die komplette geborstene Scheibe. Auch | |
gegenüber, am berühmten Kaufhaus Samaritaine, bedeckt eine braune Platte | |
neben dem Eingang den Platz, an dem vor den Ausschreitungen mal eine | |
Scheibe war. Das benachbarte Klamottengeschäft Caroll wurde zwar von der | |
Gewalt verschont, behält die Holzbarrikade aber bei – zur Sicherheit. | |
## Die Nachfrage nach Flügen nach Paris sank kurzfristig | |
Auch im Office de tourisme, dem Touristeninformationsbüro, spürt man den | |
Einfluss der Unruhen. Besonders drastisch seien die Auswirkungen auf den | |
Tourismus jedoch nicht, erläutert Sprecherin Inès de Ferran auf Anfrage der | |
taz. Vergleiche man die Wochen vor und während der Aufstände, sei insgesamt | |
„die Nachfrage nach nationalen und internationalen Flügen nach Paris um 2 | |
Prozent zurückgegangen.“ | |
Doch am Donnerstag, dem 28. Juni, sei ein Rückgang der Flugbuchungen von 33 | |
Prozent im Vergleich zum Vorjahr festgestellt worden, am 29. Juni sogar um | |
41 Prozent. Eine „Verlangsamung“ der Ticketverkäufe sei das, sagt de | |
Ferran, und die Rate der Stornierungen nicht nennenswert. Im Vergleich dazu | |
hätten die Streiks gegen die Rentenreform im März 2023 zu einer | |
Stornierungsrate von knapp fünf Prozent bei internationalen Flügen nach | |
Paris geführt, die Proteste der Gelbwesten im Dezember 2018 sogar zu einer | |
Stornierungsrate von über acht. | |
In einer schmalen Querstraße zur Rue de Rivoli befindet sich das | |
4-Sterne-Hotel L’Empire. Sonia Cardoso, die Rezeptionschefin, geht mit | |
ihren beiden Kollegen die neuen Buchungen durch. Äußerlich hat das Gebäude | |
aus der Zeit Napoleons keinen Schaden erlitten. „Aber einige Gäste haben | |
ihre Buchungen aufgrund der Unruhen storniert. Die Leute hatten Angst“, | |
sagt Cardoso. Die Gäste, die bereits vor Ort waren, seien jedoch | |
größtenteils geblieben. | |
Dass der Einfluss der Ausschreitungen auf die Hotels eher gering ausfällt, | |
bestätigt auch das Office de tourisme. Man beobachte zwar eine leichte | |
Abschwächung der Buchung, aber keinen signifikanten Rückgang, so de Ferran. | |
Der Buchungstrend für die Pariser Hotels bleibe positiv. | |
## Eine Touristenfamilie musste den Urlaub umplanen | |
Am Sonntagmorgen nimmt Familie Müller, die ihren echten Namen nicht | |
veröffentlicht sehen möchte, Platz in der Métro Linie 6, die direkt zum | |
Eiffelturm führt. Außer der vierköpfigen Familie ist es leer in der U-Bahn. | |
Paris sei der krönende Abschluss ihrer Frankreichreise, erzählen sie. Fast | |
hätten sie ihre Reise in die Hauptstadt abgesagt. „Wenn sich die Lage nicht | |
beruhigt hätte, wären wir direkt nach Hause gefahren“, versichert | |
Familienvater Peter. | |
In der Atlantikstadt La Rochelle, wo sie ihre Reise begonnen hatten, sei es | |
zwar ruhig gewesen. Doch den Zwischenstopp in Roubaix, nahe der belgischen | |
Grenze, musste die Familie umplanen. „Am Freitagmorgen, als wir gerade los | |
wollten, rief uns das Hotel an und teilte uns mit, dass es nicht mehr | |
bewohnbar ist“, sagt Peter Müller. Ein Kiosk nebenan hatte in der Nacht | |
gebrannt. „Meine Eltern daheim haben sich schon Sorgen gemacht“, erzählt | |
Mutter Annette. | |
„Ich bin ein Paris-Fan“, sagt sie lächelnd, sie besucht die Stadt schon zum | |
zehnten Mal. In den letzten Jahren habe Paris sich jedoch verändert: „Man | |
sieht immer mehr Armut auf offener Straße, viele Obdachlose und ganze | |
[3][Zeltlager von Geflüchteten] – das war in meiner Erinnerung nicht so.“ | |
Für den Zorn der Jugendlichen aus den Banlieues hat sie teilweise | |
Verständnis: „Natürlich ist man dann unzufrieden.“ | |
Während ihres Aufenthalts in Paris habe die Familie bisher noch keine | |
Spuren der Aufstände bemerkt. „In Nanterre waren wir natürlich nicht“, sa… | |
Peter. „Morgen geht es noch ins Disneyland, bevor wir nach Hause fahren“, | |
sagt er. Jetzt reiht sich die Familie aber erst mal in die Warteschlange | |
vor dem Eiffelturm ein. „Leider nur bis zur zweiten Etage, alles andere war | |
schon Anfang Juni ausgebucht.“ | |
10 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Elisa Kautzky | |
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