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# taz.de -- 5 Jahre nach den Banlieue-Krawallen: Der Frust am Stadtrand
> In Clichy-sous-Bois begannen 2005 die Unruhen in der Pariser Banlieue.
> Wie sieht es dort heute aus? Die Bewohner sind genervt von
> Stigmatisierung und schlechter Verkehrsanbindung.
Bild: Nach den Krawallen in der Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois, 2005.
CLICHY-SOUS-BOIS taz | Vor dem Bürgermeisteramt steht ein Schaukasten, in
dem acht Aufgebote hängen. Sieben der teils sehr jungen Paare tragen
arabische oder afrikanische Namen, eines ist spanischer Herkunft. Dieses
heiratswillige Paar, 24 und 25 Jahre alt, hat Arbeit. Und zwar beide. Die
anderen Paare können schon froh sein, wenn nur bei einem als Berufsangabe
"arbeitslos" steht. Über der Eingangstür prangt ein großes Transparent, auf
dem eine Anbindung der RER, einer Art S-Bahn, nach Paris gefordert wird.
Darunter steht eine Webadresse, auf der Interessierte eine Petition
unterzeichnen können.
Willkommen in Clichy-sous-Bois, einer Stadt mit 29.412 Einwohnern, etwa 15
Kilometer östlich von Paris. Hier brachen 2005 die Banlieue-Unruhen aus.
Das Durchschnittseinkommen beträgt 9.000 Euro im Jahr, die
Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent, doppelt so hoch wie im landesweiten
Durchschnitt. Zwei Drittel der Einwohner leben von staatlicher Hilfe, 40
Prozent sind jünger als 20 Jahre, 33 Prozent haben keinen französischen
Pass.
Solche Zahlen sind Claude Dilain nur allzu vertraut. Der Sozialist, von
Beruf Arzt, ist Bürgermeister von Clichy-sous-Bois. Trotz der düsteren
Statistik fallen Begriffe wie "Begeisterung" und "Leidenschaft", wenn
Dilain von seinem Amt spricht. "Die Leute hier sind arm im doppelten
Sinne", sagt er. "im ökonomischen, aber auch im soziokulturellen Sinn." Ein
richtiges Stadtzentrum hat Clichy-sous-Bois nicht, kein Kino, kein
Schwimmbad. Und Arbeit gibt schon gar nicht.
Deshalb steht eine bessere Verbindung nach Paris ganz oben auf der
Wunschliste des Bürgermeisters. Mit der Verlängerung einer RER-Linie bis
nach Clichy-sous-Bois würde sich die einfache Fahrtzeit zu Arbeit,
Ausbildung oder Freizeit von derzeit anderthalb Stunden auf die Hälfte
reduzieren. Dilain hat noch mehr Wünsche für seine Gemeinde: bessere
Wohnverhältnisse, mehr Geld für die Bildung.
Auswärtige sind in Clichy-sous-Bois nicht gern gesehen, seit Fernsehteams
aus aller Welt 2005 anrückten und sich die EinwohnerInnen wie im Zoo
vorkamen. Eine Fahrt durch den Ort zeigt, dass im Wohnungsbau zumindest
einiges passiert ist. Manche der öden Wohnriegel sind weiß gestrichen und
mit gelben, organgefarbenen oder roten Streifen verziert. Andere wurden
abgerissen, an ihrer Stelle entstehen drei- bis fünfstöckige Mietshäuser
mit geräumigen Balkonen. Das städtische Umbauprogramm, 2003 beschlossen,
ist aber längst noch nicht abgeschlossen. Eine Ansammlung trister, eng
beieinanderstehender Mietskasernen bedarf dringend der Renovierung und
Aufhübschung.
Polizei ist stets präsent
Im Bau ist auch eine Polizeiwache. Sie soll im Sommer 2010 bezugsfertig
sein und 151 MitarbeiterInnen Raum bieten. Bislang gab es in
Clichy-sous-Bois keine Polizeiwache. Unter der sozialdemokratischen
Regierung erstellte Konzepte für eine "einwohnernahen Polizei" waren nach
den Wahlen von 2002 zurückgenommen worden - auf Anordnung von Nicolas
Sarkozy, der damals Innenminister wurde und inzwischen Präsident des Landes
ist. Polizisten sollten nicht "Sozialarbeiter und Stadtteilanimateure"
spielen, sagte er damals.
Doch auch ohne Wache ist die Polizei präsent. Es kommt immer wieder zu
Kontrollen und Schikanen durch Polizisten aus der Umgebung. Ein 18-jähriger
Rapper namens Canon erzählt, dass ein Kumpel von ihm auf der Straße ohne
besonderen Anlass Schuhe und Strümpfe ausziehen musste. Klar, dass Canon
die Polizei nicht gern sieht. Seine dreiköpfige Band probt gerade im
Aufnahmestudio des Jugendclubs von Clichy-sous-Bois. Es ist einer der
wenigen Orte, wo sich Kinder und junge Leute treffen können. Hier kann man
lernen, wie man eine Bewerbung und einen Lebenslauf schreibt, Videos dreht
oder vernünftig mit dem Internet umgeht. Und man kann eben auch Musik
machen.
Canons Band heißt GDH. Das Kürzel steht für gardiens des halles, also für
die Hauswarte in den Mietskasernen, die das Kommen und Gehen überwachen.
Mit Politik hat Canon nichts am Hut. Der Rap ist für ihn eine Möglichkeit,
sich zu äußern. "Manchmal haben wir was zu sagen, können es aber nicht
ausdrücken. Das sagen wir dann rappend", erklärt er und fügt hinzu: "Wir
haben einen Hass auf den Staat, auf die Polizei. Wenn wir den Leuten das
sagen, ist ihnen das völlig egal. Aber wenn wir es mit Musik ausdrücken,
dann hören alle zu. Und wenn die Leute das verstehen und genauso denken,
dann werden alle darüber sprechen. Deshalb machen wir das."
Auch Canon hat Wünsche für Clichy-sous-Bois: "Wenn die Politiker wollen,
dass weniger Leute auf der Straße rumhängen, sollen sie doch ein Kino oder
ein Einkaufszentrum bauen, dann können die Menschen raus, sich amüsieren.
Die Polizeiwache macht alles nur schlimmer."
Die falsche Adresse
Die Vorstellungen der Schülerin Ipek Özdemir bewegen sich in eine andere
Richtung. Sie möchte nach dem Abitur in Paris Politikwissenschaft studieren
und später Journalistin werden. Wer während der Unterrichtszeit die
Alfred-Nobel-Schule besuchen will, muss sich an einem Wachhäuschen melden
und sein Anliegen oder die Verabredung nennen. Dort sitzt eine junge Frau,
die bei Bedarf das Tor in dem hohen Eisengitter öffnet. Diese Schleuse
dient dazu, schulfremde Jugendliche fernzuhalten und zu vermeiden, dass
außerschulische Konflikte ins Innere getragen werden. Beim morgendlichen
Einlass müssen die Mädchen und Jungen ihre Schülerausweise vorzeigen. 1.100
Jugendliche zehn unterschiedlicher Nationalitäten, davon 95 Prozent
Stipendiaten, besuchen hier den berufsbildenden Zweig oder schlagen wie
Ipek den Weg zum Abitur ein.
Ihre Familie habe früher in Paris gewohnt, sagt die 17-Jährige und fügt
freimütig hinzu, dass sie ihren Eltern den Umzug lange vorgeworfen habe.
Angesichts des forschen Auftretens der selbstbewussten jungen Frau kann man
sich gut vorstellen, wie bei ihr zu Hause die Fetzen flogen. Auch Ipek ist
genervt von der schlechten Verkehrsanbindung von Clichy-sous-Bois und von
der Stigmatisierung der Vorstadtbewohner.
Wer mit einer Adresse in der Banlieue Arbeit sucht, ist deutlich
benachteiligt. "Die Unruhen von 2005 kleben bis heute an uns wie ein
Etikett, obwohl sie damals nur eine Woche gedauert haben", kritisiert sie.
Ipek verteidigt Clichy-sous-Bois mittlerweile. Sie habe hier alles,
Familie, Schule, Freunde - und Gewalt gebe es auch in Paris und Marseille.
Doch ihre Zukunft sieht sie hier nicht. "Ich möchte, dass meine Kinder mal
studieren, so wie ich, und dass sie auf ihre Bewerbungen zum Beispiel Paris
als Adresse schreiben können. Dann haben sie es leichter."
Am Tag des Besuchs in Clichy-sous-Bois ist auch Präsident Sarkozy in der
Banlieue unterwegs, begleitet von einer Delegation des Innen- und
Finanzministeriums. Das Programm beginnt mit einem Besuch der
Polizeistation von Épinay-sur-Seine und endet mit einem runden Tisch in
Perreux-sur-Marne. Dort unterbreitet Sarkozy seine Vorstellungen von einer
Verbesserung der Situation in der Banlieue: Er will, dass die Zahl der
Überwachungskameras verdreifacht wird - derzeit gibt es in Frankreich
22.000 -, und den Drogenhandel bekämpfen. Mit den Wünschen der Betroffenen
hat dies nichts zu tun.
3 Mar 2010
## AUTOREN
Beate Seel
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