# taz.de -- Polizeigewalt im Pariser Vorort: Knüppel statt Respekt | |
> Théo Luhaka wurde nahe Paris von Polizisten schwer misshandelt. Gegen die | |
> Beamten wird ermittelt. Auf den Spuren von Rassismus und Polizeigewalt. | |
Bild: Vor zwanzig Jahren gab es in Aulray eine Art Nachbarschaftspolizei, die a… | |
AULNAY-SOUS-BOIS taz | In Reih' und Glied stehen die hellblau lackierten | |
Bänke im Hospital Robert Ballanger in Aulnay-sous-Bois, kurz Aulnay. Die | |
Dreiersitze sind so angeordnet, dass niemand gegenüber Platz nehmen kann. | |
Eléonore Luhaka und ihr Bruder Christopher betrachten das Setting, dann | |
verschieben sie eine der Eisenbänke. Sie wollen Blickkontakt zum Gegenüber, | |
suchen bewusst das Gespräch. | |
Ihre Familie, acht Geschwister, ist seit Wochen in den Schlagzeilen, vor | |
allem der jüngste Bruder Théo, der hier im Krankenhaus liegt. Eléonore ist | |
37 Jahre alt und engagiert sich in der Gemeinde sozial. Christopher, 24 | |
Jahre alt, spielt beim belgischen Zweitligisten KVV Coxyde. Die beiden | |
haben gerade für Théo den Heimtransport arrangiert. Zwei Wochen lag der | |
22-Jährige hier. | |
Offizielle Videoaufnahmen aus Aulnay, 18 Kilometer nördlich von Paris, | |
zeigen, wie Théo Luhaka Anfang Februar von vier Polizisten der | |
Spezialeinheit BST bei einer Personenkontrolle mit Stöcken attackiert und | |
schwer verletzt wird. Im Krankenhaus diagnostizieren die Ärzte einen zehn | |
Zentimeter langen Riss im After – einer der Polizisten soll einen | |
Schlagstock in Théos Anus eingeführt haben. Die Beamten sind suspendiert, | |
eine externe Untersuchung ist eingeleitet, es wird zum Prozess kommen. Ein | |
Beamter wird jetzt der Vergewaltigung verdächtigt, die anderen der | |
vorsätzlichen Waffengewalt. | |
Immer wieder gibt es seit dem Vorfall heftige, teils aggressive Proteste in | |
mehreren Pariser Vorstädten, Dutzende Menschen wurden verhaftet, auch in | |
der Hauptstadt. Am Samstag fand in Paris auf der symbolträchtigen Place de | |
la République eine weitgehend friedliche Demo mit mindestens 3.000 | |
Teilnehmern statt, darunter dem linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc | |
Mélenchon und dem Ex-Fußballnationalspieler Lilian Thuram. | |
## Eine allseits respektierte Familie | |
Massive Folgen des Vorfalls, der sich am 2. Februar, am Tage, direkt vor | |
dem Kulturzentrum „Le Nouveau cap“ im Viertel „La Rose des Vents“ von | |
Aulnay ereignet hat. Théo, athletisch, knapp zwei Meter groß, mit | |
kongolesischen Wurzeln, hat keine Vorstrafen, nichts. Die Familie Luhaka, | |
wird der Kulturzentrumsleiter später sagen, „gilt hier als Idealfamilie, | |
als offen und engagiert“. Théo leitet Fußballgruppen mit Kindern, ist | |
allseits respektiert. „Die Tatsache, dass er als Schwarzer verbal Partei | |
ergriff für einen Bekannten, der sich nicht ausweisen wollte, genügte der | |
Polizei, ihn zu misshandeln“, sagt seine Schwester Eléonore. | |
Personenkontrollen sind in französischen Problembezirken, den sogenannten | |
„quartiers sensibles“, extrem häufig. Dort ist die Kriminalitätsrate meist | |
doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Und sie betreffen | |
überproportional Nichtweiße und Arabischstämmige. Immer wieder kommt es zu | |
Gewalt – im vergangenen Juli starb in einer Polizeistation im Pariser | |
Umland der 24-jährige Adama Traoré nach einer Kontrolle und unter bis | |
heute vor Gericht nicht abschließend geklärten Umständen. | |
„Manchmal checken sie dich bis zu viermal täglich, fragen nach dem Ausweis, | |
außer du siehst aus wie ein ‚français de souche‘, ein ordentlicher weißer | |
Franzose“, erzählt Christopher. „Das Ganze ist für die Katz und trifft die | |
Falschen im Viertel. Die brutalen Dealer, die hier Millionen verdienen, die | |
wirklich Kriminellen – an die traut sich die Polizei nur selten ran.“ Zum | |
Abschied im Krankenhaus fordert Eléonore „Respekt auf beiden Seiten. Die | |
Polizei hat einen schwierigen Job. Aber sie darf nicht Front machen gegen | |
Aufklärung.“ | |
## Präsident Hollande will aufklären | |
Anders als bei den Unruhen in den Pariser Vorstädten 2005, die durch den | |
Tod zweier Jugendlicher ausgelöst wurden, zeigt die sozialistische | |
Regierung Aufklärungswillen. Präsident Hollande besuchte Théo Luhaka im | |
Krankenhaus und verlangte „schonungslose Aufklärung“. Innenminister Bruno | |
Le Roux spricht allerdings lieber von „einem tragischen Unfall“. Und Marine | |
Le Pen vom Front National nennt in ihrem Statement zum Fall Théo Luhaka | |
noch nicht einmal seinen Namen. Sie fordert, Demos gegen die Polizei zu | |
verbieten. | |
Bei der Busfahrt vom Hospital in das Viertel „La Rose des Vents“, wo auch | |
Familie Luhaka wohnt, dominieren die Gegensätze. Schmucke Ein- und | |
Mehrfamilienhäuser wechseln sich ab mit leerstehenden, ramponierten | |
Sozialwohnungen aus den 70er und 80er Jahren. Irgendwo dazwischen bieten | |
junge schwarze Männer auf einem provisorischen Markt ein paar Cola-Dosen | |
und Zigaretten an, unter sich blankes Erdreich. | |
Angekommen am „Le Galion“, einem tristen Betonriegel, der nur noch wenige | |
Bewohner hat und abgerissen werden soll, prangt ein riesiges Plakat von | |
Moussa Sissoko, einem französischen Fußballnationalspieler, der hier | |
aufwuchs. Gleich gegenüber steht eine nagelneue Appartmentanlage: „Jetzt | |
Eigentum erwerben – 4 Zimmer ab 238.000 €.“ Gesichert mit Eingangscode, | |
Zaun und Gegensprechanlage. In Paris ist so etwas je nach Lage nicht mehr | |
unter 1,2 Millionen Euro zu haben. | |
## „Fickt euch Bullen“ | |
Die Verdrängung von Mittellosen noch weiter hinaus in die Peripherie | |
beginnt auch hier im Norden von Aulnay mit seinen 83.000 Einwohnern, wo bis | |
vor Kurzem, anders als im südlichen Gemeindeteil, keiner auch nur einen | |
Immobilien-Cent investiert hätte. Um die Ecke vom „Le Galion“ fordert ein | |
Graffito: „Nique la police“ – frei übersetzt: „Fickt euch Bullen“. D… | |
zwei Wannen der Polizei. Seltsamerweise keine Beamten drinnen zu sehen. | |
„Die haben sich versteckt“, ruft ein Steppke grinsend und reckt den Daumen. | |
„In den neunziger Jahren gab es eine Art Nachbarschaftspolizei in den | |
Vorstädten“, sagt Lunis, der als Techniker für die Gemeinde arbeitet. Aus | |
Sorge vor Problemen mit seinem Chef will der 40-Jährige nicht seinen | |
richtigen Namen nennen. Das Gespräch findet vor dem „Nouveau Cap“ statt. | |
Knallrot und blau angestrichen steht das Kulturzentrum wie ein Leuchtturm, | |
gegenüber ein eingezäunter Bolzplatz, außen herum funktionale, ordentliche | |
Wohnungen. Lunis ist ein zierlicher Mann, er hat eine zugewandte Art. Viele | |
grüßen ihn, plauschen kurz. | |
Die „Police de Proximité“, erklärt Lunis, war nicht hochgerüstet, „mei… | |
auf Verständigung aus. Und als ich Kind war, gab es sogar noch günstige | |
Ferienlager, die die Polizei organisierte.“ Ende der 80er Jahre habe ihn | |
als „algerischen Franzosen“ aber auch niemand als „Franzose zweiter Klass… | |
betrachtet. Damals, als die Jugendarbeitslosigkeit nicht wie heute im | |
Viertel bei rund 40 Prozent lag, damals, als das um die Ecke liegende und | |
2013 geschlossene Peugeot-Werk stetigen Bedarf an Arbeitskräften hatte. | |
Damals lebten in „La Rose des Vents“, als Arbeitersiedlung für Peugeot | |
entstanden, Franzosen jeder Couleur. „Aber es war kein Thema, woher du | |
kamst.“ Heute haben die meisten Bewohner Wurzeln in Algerien, in anderen | |
Staaten Nordafrikas, aber auch in Zentral- und Westafrika und der Türkei. | |
## Seit Sarkozy setzen die Regierungen auf Schlagstöcke | |
Unter Nicolas Sarkozy als Innenminister und scharfem Hund einer | |
konservativen Regierung wurde die Nachbarschaftspolizei ab 2003 abgeschafft | |
und schließlich Ende der nuller Jahre ausgetauscht durch die auf Abwehr und | |
totale Autorität ausstrahlende BST, die „Brigade spécialisée de terrain“. | |
Überall gehe die Aufrüstung der Polizei weiter, sagt Lunis. So auch unter | |
dem konservativen Bürgermeister von Aulnay, Bruno Beschizza, dem ehemaligen | |
Hardliner einer Polizeigewerkschaft. „Auf Kosten sinnvoller sozialer | |
Projekte wird extrem viel in die Police municipale, die Gemeindepolizei, | |
gesteckt.“ | |
Bis vor Kurzem organisierte der studierte Bautechniker an Schulen | |
Konflikttraining. „Der Fall von Théo, das ist der Baum, der den Wald | |
versteckt“, meint Lunis. „Es muss sich grundlegend was ändern im Umgang mit | |
den Vorstädten.“ Nur weil einige dort extrem kriminell aufträten, dürften | |
nicht ganze Viertel stigmatisiert werden. Der Unmut jetzt, „der ist gut. | |
Aber wir müssen langfristig denken und die autoritären, oft rassistisch | |
handelnden Ordnungskräfte verändern.“ Polizeigewalt sei kein Einzelfall | |
sondern ein strukturelles Problem. | |
Youcef Kahali, Musiker und seit Kurzem Leiter des Kulturzentrums, greift | |
sich wenige Minuten später in seinem spartanischen Büro an den Kopf. „Mein | |
Ziel ist es, auch Leute von außerhalb, aus Paris, für unser Programm zu | |
interessieren. Aber was ist das Einzige, was dort von der furchtbaren | |
Geschichte mit Théo im Kopf bleibt? Dass das hier ein No-go-Viertel sein | |
soll.“ | |
## Duzen als verbale Gewalt | |
Kahali, 40 Jahre alt, der noch oft von der Polizei kontrolliert wird, „die | |
mich unhöflicherweise immer duzt“, sieht die Demonstration in Paris | |
zwiespältig: „Jede Solidarisierung ist gut, aber ich befürchte, dass die | |
nicht langfristig ist. Die Pariser gehen halt an der Place de la République | |
kurz mal demonstrieren und beruhigen damit ihr demokratisches Gewissen. | |
Aber zu uns raus kommen sie deshalb noch lange nicht.“ | |
Auf dem Rückweg nach Paris mit der leicht rumpeligen S-Bahn sticht auf fast | |
jeder der Zugstationen ein Plakat ins Auge: „Stolz darauf, der Justiz zu | |
dienen“, sagt auf ihm ein vollbärtiger, weißer Mann. Der Staat wirbt für | |
die Arbeit in Gefängnissen. Das Plakat wirkt wie eine Ohrfeige für die | |
Banlieue. | |
19 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Harriet Wolff | |
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