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# taz.de -- Elektronische Musik aus Afrika: Avantgarde und Piraterie
> Africa goes electronic: Neue Alben mit Hochzeitsmusik vom sudanesischen
> Keyboarder Jantra und die Modularsynthese von Afrorack aus Uganda.
Bild: Jantra bei einer Party im sudanesischen Dargoog
Wann waren Sie zuletzt auf einem Polterabend, dessen Musik nachhaltig
verzauberte? Wo die Junggesellinnen und -gesellen nicht zu Salzsäulen
erstarrt ins Bierglas schauen, sondern auf dem Dancefloor herumwirbeln wie
Derwische und selbst notorische Heiratsmuffel erstaunt aufhorchen. Alle
werden elektrisiert von einer hypnotischen Musik, deren tiefes Verständnis
für zischelnde und tänzelnde Rhythmen zu Herzen geht. Deren fliehende
Rhythmen zwischen 155 und 168 Bpm die Erde zum Beben bringt; uptempo ist
dieser Sound, aber scheinbar ohne Bestimmtheit vorwärtstreibend, einzig um
den Tonkaskaden und endlos improvisierten Melodien maximale
Bewegungsfreiheit zu garantieren.
Die schnellen Beats werden im Sudan „Seyra“ oder „Sera“ genannt, der
Musikstil nennt sich Jaglara, was im sudanesischen Arabisch allgemein als
Bezeichnung für Improvisation steht. Dank des Hamburger Labels Ostinato
erklingt Jaglara-Sound nun erstmals auf dem Album [1][„Synthesized Sudan:
Astro-Nubian Electronic Dance Sound from the Fashaga Underground“]. Hier
wird zwar Extraterrestrisches suggeriert, die Musik kommt aber einzig und
allein vom bodenständigen sudanesischen Keyboarder Jantra. Als Solist
spielt Jantra auch so virtuos auf wie ein ganzes Hochzeitsorchester.
Al-Fashaga heißt die abgelegene ländliche Region, in der Jantra lebt und
aufgewachsen ist. Sie liegt im südöstlichen Grenzgebiet zwischen Sudan und
Äthiopien, unweit von Eritrea, abseits der gängigen Durchgangsrouten.
Hoheit auf das Gebiet beanspruchen sowohl Sudan als auch Äthiopien. In der
Zeit nach der sudanesischen Unabhängigkeit von England, 1956, kam es immer
wieder zu Landstreitigkeiten. Erst 1995 einigten sich die Anrainer, dass
äthiopische Bauern das Land bewirtschaften und der Sudan die Verwaltung
übernimmt. Dieser Kompromiss endete mit dem Tigraykonflikt 2020. Auch jetzt
im sudanesischen Bürgerkrieg sei es hier zu bewaffneten
Auseinandersetzungen zwischen Kämpfern der beiden Länder gekommen, meldet
Wikipedia.
## Jaglara ist upfliftend
Jaglara Musik von Jantra klingt weder angriffslustig noch kriegerisch, es
ist ein zutiefst upliftender, ja heiterer und friedfertiger Sound,
entstanden bei Hochzeitspartys in seiner Heimatstadt Gedarif. Westliche
Ohren glauben eine entfernte Verwandtschaft zur nordafrikanischen Tanzmusik
und den arabischen Tonskalen zu hören. Der Senegalese Janto Djassi Koité,
einer der beiden Betreiber von Ostinato, dementiert: „Jaglarasound hat
wenig gemein mit anderen lokalen oder regionalen Musikstilen. Jantra hatte
in seiner Jugend auch kaum Berührung mit der Außenwelt, er ist vor allem
mit dem Klang von Fashaga aufgewachsen.
Als Künstler ist er sehr verbunden mit dem Fleckchen Erde, von dem er
stammt. Man könnte sogar sagen, Jaglaramusik speist sich aus den
fruchtbaren Böden von Fashaga.“ Ob das auch erklärt, warum die zehn Tracks
auf dem Album nach seinen Töchtern, seiner Frau und anderen Verwandten von
Jantra benannt sind?
Songs im herkömmlichen Sinne komponiert Jantra gar nicht, er freestylt, wie
es in den Linernotes zum Album heißt. Die Aufnahmen, die Ostinato bei
insgesamt sieben Besuchen vor Ort getätigt hat und die zum Teil auf älteren
eigenen Aufnahmen des Künstlers basieren, sind gemeinsam von den
Labelmachern mit Jantra editiert. Aus langen Improvisationen haben sie
Hybridversionen zusammengesetzt oder Langfassungen eingedampft.
## Customisierter Synthesizer
Ländliche Folktraditionen hin oder her, er benutzt für seine Musik einen
Yamaha-Synthesizer. Der Synthie ist nach seinen Vorstellungen customisiert.
Die Einstellungen des Yamaha-Synthesizers sind vom Hersteller auf westliche
Klangvorstellungen maßgeschneidert. Jantra hat sein Instrument auf dem
Markt von Omdurman nahe der sudanesischen Hauptstadt Karthum von
Mechanikern so umprogrammieren lassen und hinterher weiter an der
Klangpalette „feinjustiert“, bis die charakteristischen
Jaglara-Melodiegirlanden entstehen konnten.
[2][Die Anglistin Tsitsi Ella Jaji legt in ihrem Buch „Africa in Stereo“]
anschaulich dar, wie konstitutiv Piraterie in Afrika für den Kultursektor
funktioniert. „Piraterie ist eine Praxis des unautorisierten Kopierens und
der alternativen Distributionswege, sie basiert auf informellen Ökonomien
und umschifft die Logistik einer zentralisierten Kulturindustrie.“ Während
wir bei Piraterie in Afrika zuerst an Schiffsentführungen vor der
somalischen Küste denken und an kulturelle Rückständigkeit, beschreibt die
[3][in den USA lehrende Professorin], dass „Piratenlogik dabei verstehen
hilft, wie experimentelle afrikanische Kulturtechniken funktionieren, die
von der Kritik allzu oft übersehen wurden“.
Selbstverständlich gelingt im Internetzeitalter der Austausch zwischen
europäischen und US-amerikanischen mit den afrikanischen Musikmärkten weit
intensiver als früher. Hier sieht Jaji sogar eine Dialektik am Werk, denn
wirkmächtige (angloamerikanische und französische) Vorbilder sind Wasser
auf die Mühlen der eigenständigen afrikanischen Kulturmodelle, schreibt
sie. Und durch die große afrikanische Diaspora im Westen klappt der
Austausch inzwischen auch in die andere Richtung besser.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der [4][ugandische Elektronikproduzent The
Afrorack alias Brian Bamanya]. Anders als Jantra, der einen
Analogsynthesizer geentert und seine Sounds für seine Zwecke geändert hat,
piratisiert Bamanya westliche Produktionsmethoden und Elektronik Know-how.
## Improvisation mit Ersatzteilen
Sein bereits im vergangenen Jahr virtuell erschienenes gleichnamiges
Debütalbum ist nun als physischer Tonträger weltweit erhältlich. The
Afrorack gilt als ostafrikanischer Pionier, hat er doch für seine Musik
Sounds kreiert, die aus einem eigenhändig programmierten Modularsynthesizer
als Klangquelle abgezapft sind. Obwohl die Preise für Effektgeräte, Kabel
und Musiksoftware in den letzten Jahrzehnten gesunken sind, musste Bamanaya
aus Kostengründen improvisieren.
Er suchte bei [5][Computer-Reparaturhändler in Kampala] nach Ersatzteilen
und brachte sich das Programmieren mithilfe von Online-Tutorials und
Hacker-Know-how selbst bei. Seinen Oszillator hat Afrorack etwa aus
Komponenten ausrangierter Computerlautsprecher zusammengebaut. Alle
Effektgeräte und seine CV-Schnittstelle hat er selbst entworfen. Wer jetzt
denkt, dass die Musik deshalb obskur klingt, sieht sich getäuscht. Es
zwitschert, ziseliert und wabert nach Cutting-Edge-Art und trotzdem blitzen
und blinken eigenständige Beats auf, wie sie zuletzt auch auf Produktionen
aus Uganda und Tansania zu hören waren.
Afrorack bringt damit den Computer zum Singen. „Mein Modularsynth ist wie
ein lebender Organismus. Ich muss Harmonie zwischen seinen Organen
herstellen. Da fast alles aus Analogtechnik besteht, funzt nicht alles so,
wie gedacht. Die Unschärfe kommt mir entgegen, denn ich rechne beim
Musikmachen immer mit Überraschungen“, hat Afrorack dem Magazin PAM
erzählt.
15 Jun 2023
## LINKS
[1] https://ostinatorecords.bandcamp.com/album/synthesized-sudan-astro-nubian-e…
[2] /Debuetalbum-von-Awori/!5766582
[3] /Elektronikproduzent-ueber-Lage-der-USA/!5739260
[4] https://hakunakulala.bandcamp.com/album/the-afrorack
[5] /Album-von-ugandischer-Rapperin-MC-Yallah/!5929687
## AUTOREN
Julian Weber
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