# taz.de -- Netflix-Serie „The Days“ über Fukushima: Japan wird analog | |
> In „The Days“ wird die nächste Reaktorkatastrophe fiktional | |
> rekonstruiert. Diesmal: die Tage nach dem Unfall von Fukushima. | |
Bild: Todesmutige Helden tun, was getan werden muss | |
Als vor vier Jahren die [1][Sky- und HBO-Serie „Chernobyl“] die | |
Nuklearkatastrophe von Tschernobyl nacherzählte, gab es dort sowjetische | |
Apparatschiks zu sehen, hervorgekramt aus der Mottenkiste des Kalten | |
Kriegs. Der Unfall lag da auch immerhin schon 33 Jahre zurück. | |
[2][Fukushima ist erst zwölf Jahre her], Netflix ist mit seiner aktuellen | |
Serie dazu also 20 Jahre schneller. Und Japan, obschon geografisch fernster | |
Osten, wird ja, weil Demokratie und Rechtsstaat, politisch gern mal der | |
westlichen Welt zugeschlagen. | |
„The Days“, ausschließlich von japanischen Filmschaffenden verantwortet | |
(Regie: Hideo Nakata, Masaki Nishiura), zeigt, nicht nur, aber auch, wie | |
fremd, wie anders die japanische Kultur doch ist. Zum Beispiel die | |
Kleiderordnung: Kaum ist der Reaktorunfall passiert, tragen sämtliche | |
handelnde Personen plötzlich Leibchen, wie man sie hierzulande nur aus dem | |
Sportunterricht zur Kennzeichnung der Mannschaftszugehörigkeit kennt. | |
Was im feudalen Japan die Daimyōs und ihre Samurai waren, das sind heute | |
die Konzerne und ihre Angestellten. Selbst der Premierminister und seine | |
Entourage tauschen die dunklen Sakkos umgehend gegen kurze hellblaue | |
Jäckchen ein, die sie aussehen lassen wie Playmobilfiguren. Das ist | |
natürlich eine westliche Sicht. | |
Es gibt in „The Days“ keinen einzigen Nichtjapaner und keine erwähnenswerte | |
weibliche Haupt- oder Nebenrolle – abgesehen von der Mutter, die anfängt | |
buchstäblich eimerweise [3][Origami-Kraniche zu falten], als sie erfährt, | |
dass ihr Sohn vermisst wird. Und vermutlich hat das keinem der | |
Filmschaffenden auch nur einen Sekundenbruchteil lang zu denken gegeben. | |
Weil die Gegebenheiten zum Zeitpunkt des Unfalls wahrscheinlich genau so | |
waren. In der Katastrophenschutzzentrale, im seismisch isolierten | |
Notfalleinsatzraum in Fukushima und im Kontrollraum von Block 1 – den | |
Innenräumen, in denen die Serie ganz überwiegend spielt. | |
Das Erdbeben und [4][der anschließende Tsunami] sind in Folge eins durchaus | |
in Szene gesetzt. Und es gibt die – aus dramaturgischer Sicht viel zu | |
zahlreichen – Episoden, in denen Männer losziehen in die stromlose | |
Dunkelheit, um irgendein Ventil zu öffnen, während die Skalen ihrer | |
mitgeführten Messgeräte gar nicht mehr ausreichen, die Strahlung zu messen, | |
der sie sich aussetzen. Man ist gerne bereit zu unterstellen, dass das | |
alles mit größtmöglicher quasidokumentarischer Akkuratesse nachgestellt | |
wurde. Denn technisch kann man das als fachfremder Zuschauer ohnehin nicht | |
mehr nachvollziehen. | |
## Hochtechnologie-Land ist analog | |
Die dilettierenden Sesselfurzer sitzen in sicherer Entfernung, die | |
todesmutigen Helden tun vor Ort, was getan werden kann. Das ist, in a | |
nutshell, die Rechnung, die „The Days“ acht Folgen lang aufmacht. Die man, | |
apropos Sprache, tunlichst nicht in der englischen Synchron-, sondern in | |
der japanischen Originalfassung sehen sollte, mit Untertiteln. | |
Der Duktus ist ein ganz anderer, etwa wenn der Stationsleiter Masao Yoshida | |
(Kôji Yakusho, gerade erst den Darstellerpreis des [5][76. Filmfestivals | |
von Cannes] gewonnen), auf dessen Aufzeichnungen – wie auf Ryusho Kadotas | |
investigativer Recherche – die Serie beruht, seinem engsten Vertrauten | |
sagt: „Ab jetzt kann ich hier nicht mehr lebend raus. Ich habe alle immer | |
wieder an ihre Grenzen getrieben. Ich habe sie in Gefahr gebracht. Und | |
deshalb hätte ich kein Recht, lebend nach Hause zu gehen. Das habe ich am | |
ersten Tag so entschieden.“ | |
So grübelt er über den Bauplänen in seinen Aktenordnern und starrt auf die | |
von Hand auf Whiteboards notierten, sich kontinuierlich verschlechternden | |
Zahlen. Nach dem Stromausfall sieht die Welt im Hochtechnologieland Japan | |
plötzlich wieder sehr analog aus. | |
Und nachdem man dann als Zuschauer knapp acht Stunden lang vor der nur | |
gelegentlich von arabischen Zahlen durchsetzten Vielzahl japanischer | |
Schriftzeichen fast verzweifelt ist (selbst die Pressemappe gab es von | |
Netflix nur auf Japanisch), staunt man nicht schlecht, als man auf der | |
Betonpumpe, deren Einsatz das Allerschlimmste am Ende gerade noch | |
verhindert, den sehr putzig klingenden Namen eines deutschen Unternehmens | |
liest. | |
7 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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