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# taz.de -- Künstler über Ausstellung im HKW: „Man empfängt und gibt Dinge…
> Bernardo Oyarzún über seinen Beitrag zur Eröffnungsausstellung „O
> Quilombismo“ im Berliner HKW, präkolumbianische Traditionen und urbane
> Kulturen der Mapuche.
Bild: Bernardo Oyarzún in seinem Berliner Gastatelier
wochentaz: Bernardo Oyarzún, Sie nehmen an der Ausstellung „O Quilombismo“
teil, mit der das Haus der Kulturen der Welt nun wiedereröffnet. Das
interdisziplinäre Projekt präsentiert egalitär-demokratische Entwürfe aus
Vergangenheit und Gegenwart, die dominierende Gesellschaftsmodelle infrage
stellen. Zur Eröffnung in Berlin zeigen Sie die performative Installation
„El Medán“. Wovon handelt diese Arbeit?
Bernardo Oyarzún: „El Medán“ ist ein Gemeinschaftswerk. Die Ursprungsidee
war, keine Kosten zu produzieren und ausschließlich durch die
Zusammenarbeit von vielen zu entstehen. Diese Arbeit hatte ich auf
Einladung von Alfons Hug und Paz Guevara 2012 in der Ausstellung „Poetas en
tiempos de escasez“ (Poeten in Zeiten von Knappheit) in Santiago de Chile
gezeigt. Die Performance beruht auf Wechselseitigkeit, sei es symbolisch
oder materiell. Man empfängt und gibt Dinge. Bei seiner Realisierung
produziert das Werk eine Menge Interaktion. Wo Geld nicht zirkuliert,
funktioniert die Operation in gewisser Weise antikapitalistisch. Sie kehrt
zu der präkolumbianischen Tradition des Tauschhandels zurück.
„El Medán“, was so viel bedeutet wie „sie geben mir“, bezieht sich auf…
kollektive Praxis, die bis heute auf Chiloé im Süden Chiles gepflegt wird.
Was ist das Besondere dieser Insel?
Chiloé ist ein Gebiet mit einer hybriden Vergangenheit. Als die spanische
Armee 1818 besiegt wurde, gab es eine Gruppe von Spaniern, die auf der
Insel verblieb. Mehr als tausend Kilometer von Santiago entfernt lebten sie
dort lange unbehelligt. Ein Jahrhundert lang gab es in diesem Gebiet keine
Verwaltung, keine Ärzte, nichts. In dieser Zeit entwickelte sich nicht nur
der Einfluss der verbliebenen Spanier, sondern es entstand ein sehr
eklektischer kultureller Mix, in dem die Bräuche der Mapuche und auch der
Aymara mit europäischen Mythen zusammenkamen. So ist „El Medán“ eine
Variante der Minga. Das Aymara-Wort bedeutet so etwas wie
Gemeinschaftsarbeit und wurde auch von den Mapuche übernommen. Es wird
veranstaltet, wenn sich eine Familie gründet und ein neues Haus entsteht.
Man bringt alles Mögliche mit, um das Heim einzurichten, Haushaltsgerät,
Saatgut, Geflügel oder Lebensmittel. Im Gegenzug organisieren die Besitzer
des Hauses ein Fest. So wird dieses neue Haus ausgestattet und gleichzeitig
vollständig in die Gemeinschaft integriert.
Nicht weit von Chiloé entfernt wurden Sie 1963 in der Región de los Lagos
geboren. Bald zog Ihre Familie nach Santiago und Sie wuchsen in der
Großstadt auf. Wie kamen Sie dazu, Kunst zu studieren?
Nun, in meinem Umfeld war es seltsam, Kunst zu studieren. Auch meiner
Mutter gefiel die Entscheidung nicht, weil die Absicht des Studiums darin
bestand, sich wirtschaftlich zu verbessern, und das war nicht der Weg. Aber
für mich war es naheliegend, denn solange ich mich erinnern kann, habe ich
gezeichnet und gemalt, und ich hatte handwerkliches Geschick. Ich habe
viele Comics gelesen und Comics gezeichnet. Als ich erwachsen wurde, bin
ich dann aus eigenem Antrieb in Museen gegangen. Das war ungewöhnlich.
Niemand in meiner Nähe tat das.
Wir sprechen von den letzten Jahren der Diktatur?
Nein, das war mitten in der Diktatur. Ich habe 1982 an der Universidad de
Chile angefangen zu studieren. Also habe ich die ganze Diktatur sehr
deutlich erlebt. 1983 begannen die großen Proteste in Chile, die mit dem
Plebiszit und schließlich dem Abgang von Pinochet 1988 endeten.
In den 1990er Jahren haben Sie begonnen, Ihre familiäre Herkunft, indigene
Kultur und den Alltagsrassismus in Chile künstlerisch zu thematisieren.
Welche Reaktionen hat das hervorgerufen?
Im Jahr 1999 habe ich eine Arbeit mit dem Titel „Photo Album“ produziert,
in der ich im Wesentlichen die Geschichte meiner Familie, der Migration vom
Land in die Stadt und meiner Mapuche-Abstammung erzählte. Meine Großmutter
war eine Huilliche Mapuche. Im Katalog sagte ich es deutlich, dass in der
Mitte des großformatigen Fotos im Leuchtkasten meine Großmutter steht. Es
war das Foto einer Erstkommunion und fast alle waren ohne Schuhe, aber
festlich gekleidet. In Chile sprechen die Leute immer über ihre
italienische, deutsche, englische oder baskische Herkunft. Aber sie reden
nie über ihre indigene Abstammung. Also habe ich es umgekehrt gemacht. Ich
sprach darüber, dass meine Großmutter Mapuche war – als etwas, auf das man
stolz sein kann. Einige Leute haben gelacht, andere haben es nicht
verstanden, weil es für sie sehr, sehr seltsam war.
Neben der Performance „El Medán“ zeigen Sie in Berlin auch „Piwichen“,…
Installation aus Holz und Karton. Welche Medien bevorzugen Sie
künstlerisch?
Ich denke, dass meine thematischen Interessen ausschlaggebend sind, denn
meine Materialien und Techniken sind vielfältig. Fast immer habe ich den
Eindruck, eine Arbeit zum ersten Mal zu machen. Es sind immer völlig neue
Ideen, deren Umsetzungen echte Herausforderungen sind.
Wenn sich Ihre Arbeitsweise auch ändert, scheinen Populärkultur, Körper und
Territorium wiederkehrende Themen in Ihrem Werk zu sein.
Ganz genau. Es gibt Elemente, die in meiner Arbeit grundlegend sind und mit
dem Kollektiv zu tun haben. Obwohl es sich um ein sehr autobiografisches
Werk handelt, ist die Gemeinschaft immer in irgendeiner Form beteiligt. Ich
stelle fest, dass auf die eine oder andere Weise immer viele Menschen
involviert sind und dass sie sogar fast immer Teil des Werks sind.
Heute lebt die Mehrheit der Mapuche nicht mehr auf dem Land, sondern in der
Stadt. Was hat sich kulturell verändert?
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre gab
es eine massive Migration. Denn das ursprüngliche Territorium der Mapuche
wurde von eingewanderten Siedlern besetzt. Es gab große
Wanderungsbewegungen von Menschen, die als einfache Hausangestellte oder
Arbeiter in die Stadt kamen und ihre Herkunft vergaßen. Doch ab den 1990er
Jahren begannen die städtischen Mapuche-Gemeinschaften wieder aufzublühen,
mit Rucas und all den Ritualen. Was dort geschah, finde ich interessant.
Die Erinnerung, die in der Stadt geschlummert hatte, erwachte. Es sind die
Kinder und Enkel, die diese neuen Gemeinschaften großgezogen haben. Sie
haben ein ganz eigenes kulturelles Phänomen hervorgebracht, mit einer
starken Verbindung zu den Ursprüngen. Aber sie sind völlig urban.
[1][Die soziale Revolte 2019 in Chile] und der Wunsch vieler nach einer
Abkehr vom Neoliberalismus scheinen nicht nur innerhalb der Kunst [2][ein
neues Interesse an Formen kollektiven Handelns] geweckt zu haben. Von
welchen Erfahrungen könnte die chilenische Gesellschaft profitieren?
Wenn Sie ein Mitglied der Mapuche fragen, was Gemeinschaft ist, wird es
Ihnen sagen, dass alles, die Insekten, die Vögel, die Luft, der Baum, das
Gras, alles Teil der Gemeinschaft ist. Horizontal gibt es keine
übergeordnete Beziehung. Und so ist diese Gemeinschaft auf der Grundlage
von zwei Achsen verankert, von denen eine die Vorfahren selbst sind. Die
Geschichte, die durch Träume und mündliche Erzählung noch lebendig ist, das
ist es, was sie aufrechterhält. Das ist eine fundamentale Achse, denn sie
hält die Kultur am Leben, und sie impliziert auch den Respekt vor den
Älteren, der im Westen praktisch verschwindet. Dann gibt es noch die andere
große Achse, das ist die Natur, das heißt, alles Physische. Mit diesen
beiden Elementen marschiert die Gemeinschaft in die Zukunft. Wenn also
eines davon fällt, wird sie zerstört.
4 Jun 2023
## LINKS
[1] /Feministisches-Manifest-aus-Chile/!5751295
[2] /GaleristInnen-ueber-Protest-in-Chile/!5683801
## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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