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# taz.de -- Dichter Chihuailaf über Chile: „Was hast du geträumt?“
> Glücklich, braun zu sein: Der chilenische Literaturpreisträger Elicura
> Chihuailaf über Dichtung, die Kultur der Mapuche und die Stichwahl in
> Chile.
Bild: Elicura Chihuailaf, auf einem Wandbilds des Künstlers Danny Reveco in Va…
taz: Herr Chihuailaf, „Berge, Seen, Vögel. Gute Worte“ – in Ihren Gedich…
ist die Natur allgegenwärtig. Sie leben heute wieder an ihrem Geburtsort,
in der Nähe von Cunco im Süden Chiles. Was bedeutet diese Landschaft für
Sie und Ihre Literatur?
Elicura Chihuailaf: Für uns, die wir uns als ein Teil von ihr verstehen,
ist die Natur fundamental. Mapuche bedeutet Menschen der Erde. Wir
verstehen uns als Teil, nicht als Zentrum der Natur. Wir gehören zu ihr wie
alles Belebte und Unbelebte, wie die Steine, wie der Mond oder die Sonne,
unter deren Fluss wir leben. Für mich als Mapuche bedeutet Natur ein Ort
der Zugehörigkeit.
Wie kamen Sie zum Schreiben?
Die Poesie begegnete mir in dem Moment, als ich anfing, meinen älteren
Geschwistern, den Unterhaltungen meiner Eltern und Großeltern zuzuhören.
Den Erzählungen, Gesängen und Ratschlägen, die die Ältesten gaben. Und den
wunderschönen Geschichten, die die Träume uns geben – die Möglichkeit, sich
mit der Zukunft und der Vergangenheit zu verbinden.
In Ihrer Familie gab es noch die traditionellen Zusammenkünfte in der Ruka,
einer aus dem Holz der umliegenden Wälder gefertigten Hütte?
Das Erste, was man dort am Morgen tat, war, über die Träume zu reden. Ich
erinnere mich an meine Großmutter, die mich beim Frühstück fragte
„Pewmaymi? Chem Pewmaymi?“ – Hast du geträumt? Was hast du geträumt? Das
war eine Einladung, sich an diese bereits fast vergessene Sprache zu
erinnern – die Sprache der Träume.
2020 erhielten Sie für Ihr in Mapudungun und Spanisch verfasstes Werk den
Premio Nacional de Literatura de Chile. Man hat mir erzählt, dass heute
schon die Kinder in der Grundschule Ihre Gedichte lernen. Welche Rolle
spielt die Kultur der Mapuche in Chile?
Wie andere native Kulturen auf der Welt, wurde auch unsere negiert. In
Chile hat sich der Staat ausgedehnt, indem er die Territorien der Mapuche
verdrängte, um danach unsere Kultur und unser Wissen durch
wissenschaftliche Systeme zu ersetzen. Auch wir schätzen die Wissenschaft,
aber zu leicht vergisst man, dass auch deren Methoden aus Beobachtung
entstanden sind. Schließlich beschäftigt den Menschen überall auf der Welt
die Frage „Woher kommen wir und wohin gehen wir.“ Oft wird uns unterstellt
den Fortschritt abzulehnen. Doch unsere Leute sagen: Ja, wir sind für
Entwicklung, aber mit und nicht gegen die Natur.
Überall im Wallmapu, dem Territorium der Mapuche, begegnet man der blauen
Flagge mit dem weißen Stern. Ihr Gedichtband „Von blauen Träumen und
Gegenträumen“ erschien kürzlich in einer dreisprachigen Ausgabe in
Deutschland. Wofür steht diese Farbe?
Das ist etwas, das ich von meinen Großeltern, meinen Eltern und der Familie
gelernt habe. Der Geist jeder Person kommt aus dem Unendlichen, um sich in
einem Übergangshaus, unserem Körper, einzurichten. Der Körper wird durch
das Herz repräsentiert. Dieses Herz ist wie ein grober Stein. Der Geist im
Wasser der Worte kann die Bedeutung der Natur entschlüsseln. Der Geist der
Mapuche stammt aus dem Blau des Ostens, dort wo Mond und Sonne aufgehen,
denn deren Fluss bestimmt unser Leben. Das ist das Blau, an das wir uns
richten, weil es unser Leben ist. Es ist wie ein gleichmäßiger Strom, den
man bewegen muss, um das Herz, diesen rauen Stein, zu reinigen, bis er
transparent wird und man hoffentlich Weisheit erlangt.
In Valparaiso entdeckte ich Ihr Porträt auf einem Wandbild des Künstlers
Danny Reveco. In der Menge versteckt, halten Sie ein Schild mit der
Aufschrift „Asuma su hermosa morenidad“ (Bekenne dich zu deinem schönen
Braunsein). Wie ist dieses Zitat von Ihnen zu verstehen?
Im chilenischen Bildungssystem, wie ich es kennengelernt habe, wurde stets
das schöne europäische Weißsein hervorgehoben. Bildung, Gesundheit,
Entwicklung – alles drehte sich um das europäische oder später um das
nordamerikanische Modell. Unsere Leute aber sagen, die Erde ist ein Garten.
Die Kulturen sind wie die Blumen in unterschiedlichen Farben. Wenn eine
davon verschwindet, verlieren wir alle. Keiner wählt den Ort, die Zeit oder
die Sprache, in die er oder sie hineingeboren wird. Aber man sollte seine
Geschichte kennen, denn die einzige Möglichkeit, die Vielfalt zu
akzeptieren, besteht darin, sich selbst zu schätzen, sein Inneres und
Äußeres im Spiegel zu betrachten, um sagen zu können, das bin ich.
Im vergangenen Jahr nahm die Verfassunggebende Versammlung unter dem
Vorsitz der Linguistin und Angehörigen der Mapuche, Elisa Loncón, ihre
Arbeit auf. [1][Nach den sozialen Protesten von 2019 hatte die Mehrheit der
chilenischen Bevölkerung] für die Verfassungsänderung gestimmt. Welche
Hoffnung verbindet sich mit diesem Vorhaben?
Ich halte mich für einen skeptischen Optimisten. Das gilt auch in Bezug auf
das Projekt einer neuen Verfassung. Das hat weniger mit der Arbeit dieses
Gremiums zu tun. Aber die Machthaber in Chile sprechen von einem Konflikt
der Mapuche, den sie selber schufen. Sie reden von Frieden und von
Gewaltfreiheit, obwohl sie es waren, die Gewalt angewendet haben. Deshalb
werden sie auch alles unternehmen, um zu verhindern, dass dieses Projekt
zum Erfolg führt.
Wenn man durch die Region Temuco reist, wo Sie leben, fällt es schwer, die
Karawane der Holztransporte aus Monokulturen zu übersehen. Welche
Problematik verbindet sich mit der Forstindustrie?
Wir befinden uns hier in dem ursprünglichen Territorium der Mapuche, das
überfallen wurde, mit allem, was dazu gehört – mit Landnahme, Repression,
Tötung und dem Verschwinden von Personen. Solange diese historische
Realität von der Politik nicht anerkannt wird, gibt es keine Lösung. Unsere
Gemeinden hier im Wallmapu sind umzingelt von Tausenden Hektar großen
Plantagen der Holzwirtschaft, die sich immer weiter ausbreiten. Und überall
kommt es zu Konflikten mit diesen Firmen. Dort wo ich lebe, in der Nähe des
Sees Collico, gibt es ursprüngliche Wälder, mit einer Vielfalt an Vögeln,
Pilzen, Insekten und Pflanzen, die wir pflegen und verteidigen. Doch das
Wasser in der Region wird immer knapper, weil die Forstindustrie auf
brutale Weise die Ressourcen der Flüsse und Seen zur Bewässerung ihrer
Plantagen plündert. Doch diese Folge des „Fortschritts“ wollen sie nicht
sehen.
Der verheerende Effekt des Neoliberalismus auf die Umwelt lässt sich in
Chile besonders gut beobachten – Megabergbau, intensive Lachszucht,
industrielle Landwirtschaft und Forstindustrie. Was könnte die Kultur der
Mapuche zu einer Neuausrichtung der Wirtschaft und einem sozialen Wandel
beisteuern?
Sehr viel. Ich denke, dass der Blick für eine Entwicklung im Einklang mit
der Natur essenziell ist. Wir hätten es heute nicht mit einem Klimawandel
zu tun. Der kommt nicht von irgendwoher, sondern er wird von
Wirtschaftsgruppen verursacht, die ihn durch ihr Handeln produzieren –
nicht nur hier, sondern überall auf der Welt.
Am kommenden Sonntag wählt Chile in einer Stichwahl seinen zukünftigen
Präsidenten. Zuvor war die Wahlbeteiligung niedrig, im Süden erhielt der
rechtsextreme Kandidat José Antonio Kast zahlreiche Stimmen. Er hatte
angekündigt, zusätzliches Militär in die Konfliktzonen im Süden zu
schicken. Die Proteste der Mapuche bezeichnete er als Terrorismus. Was
bedeutet dies für die Region und für das Land?
In Chile könnte es zu einem großen Rückschritt kommen. Für die Mapuche
bedeutet es nur die Fortsetzung – wenn auch unter größerem Druck – von de…
was man immer schon erlebt hat. [2][Auch sogenannte progressive Regierungen
der chilenischen Postdiktatur] haben nichts oder viel zu wenig unternommen,
um mehr Gerechtigkeit zu schaffen. Während man gleichzeitig immer
umfangreichere Flächen in den Privatbesitz einflussreicher Unternehmen
wandern ließ. Trotz all der demokratischen Defizite, möchte ich jedoch
gerade die Jugend in ihrem eigenen Interesse dazu aufrufen, sich zu
mobilisieren und den existierenden Spielraum zu wählen, den eine Regierung
der extremen Rechten nicht bieten wird.
15 Dec 2021
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[1] /Feministisches-Manifest-aus-Chile/!5751295
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## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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