Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die FDP in der Bundesregierung: Das Symptom Kemmerich
> Kubicki, Kemmerich, Schäffler: Manche Liberale bedienen hier und da
> rechte Narrative. Ist das die Zukunft der FDP – oder wo will die Partei
> hin?
Bild: Thüringer Landtag, Februar 2020: AfD-Fraktionschef Björn Höcke gratuli…
Wenn die Temperaturen sich langsam regulieren im politischen
Heizungskeller, dann kann es sein, dass Wolfgang Kubicki kommt und den
Regler hochdreht. Seit Wochen streitet die Ampel erbittert über das Gesetz
mit dem sperrigen Namen Gebäudeenergiegesetz, das nach und nach Gas- und
Ölheizungen durch klimafreundliche Alternativen ersetzen soll. Prominente
Gegner: FDP-Vize Wolfgang Kubicki, bekannt für seine lockere Zunge, und
FDP-Politiker Frank Schäffler, bekannt als Eurokritiker und einst
[1][bekennender Klimaskeptiker].
Es gibt berechtigte Kritik an dem Gesetzentwurf. Aber es gibt auch Leute,
die unter dem Vorwand der Kritik das Gesetz grundsätzlich torpedieren
wollen.
Schäffler nannte das Heizungsgesetz eine „Atombombe“. Er war es auch, der
auf dem letzten Parteitag einen Dringlichkeitsantrag gegen „die falsche
Klima- und Energiepolitik der Grünen“ einbrachte, der auf breite Zustimmung
stieß. Von ihm und Kubicki stammen auch die berüchtigten 101 Fragen zum
Gesetz, von deren Existenz man über Bild erfuhr. Lange war nicht klar, ob
es sie wirklich gibt und ob das Ganze von der Fraktion abgesegnet war.
Offiziell kamen 77 Fragen im Wirtschafts- und im Bauministerium an, die
inzwischen brav abgearbeitet wurden. Aber Kubicki will immer noch alle 101,
teils absurde Fragen beantwortet haben. Zum Beispiel, in wie vielen
Mehrfamilienhäusern der Dachstuhl als Wäschetrocknungsraum genutzt wird.
Nun sprechen Kubicki und Schäffler nicht für die gesamte FDP-Fraktion, aber
sie haben Rückhalt und bestimmen zunehmend den Ton.
## Kein Hinterbänkler
Kubicki ist kein populistischer Hinterbänkler, der den Wirtschaftsminister
aus Versehen mal mit Putin vergleicht und später um Entschuldigung bittet.
Er ist Parteivize und Bundestagsvizepräsident – und äußerst beliebt bei der
Basis. Er und Schäffler richten sich an ein gewisses Spektrum:
Klimaskeptiker, Coronaleugner, Putin-Freunde, den Stammtisch, der gegen den
linken Zeitgeist wettert. Grünen-Bashing inklusive.
Die Frage ist: Wie sehr wird das den künftigen Kurs, die Rhetorik der FDP
bestimmen? Und das Regierungshandeln? In Umfragen steht die FDP derzeit bei
7 Prozent. Die Blockaden und die PR-Nummer mit den Fragen haben ihr nicht
geschadet. FDP-Chef Christian Lindner arbeite für ein „nichtlinkes
Deutschland“, sagte er jüngst auf dem FDP-Bundesparteitag. Aber was heißt
„nichtlinks“? Liberal? Konservativ? Rechts?
## Keiner schleppt den Koffer?
Am ersten Tag des Parteitags im April 2023 geht FDP-Mann Thomas Kemmerich
zum Rednerpult. Er spricht über die Stärkung des deutschen Mittelstands und
fehlende Fachkräfte. „Die alleinige Lösung ist auch nicht, sie nur per
Zuwanderung aus dem Ausland zu gewinnen“, sagt er. Dann erzählt er eine
Anekdote eines Bekannten, der am Flughafen Frankfurt 90 Minuten auf seinen
Koffer warten musste. Dieser habe gesagt: „Wir haben in Deutschland keinen
mehr, der einen Koffer schleppt, aber alle Beauftragtenstellen für
Gleichberechtigung und solche Dinge“ seien besetzt.
Man muss sich die Botschaft schon mühsam zusammenreimen. Dürfen im Weltbild
von Thomas Kemmerich ausländische Arbeitskräfte nur Koffer schleppen? Der
Applaus ist bescheiden. Gegen Ende der Rede blickt er zum Parteichef
Christian Lindner, der mit einem Teil des Präsidiums auf der Bühne sitzt.
Er bedankt sich per Du, dass die Schuldenbremse steht. Als Kemmerich die
Bühne verlässt, klatscht niemand vom Präsidium.
## „Unverzeihlich“, dieser „großartige Erfolg“
Es sind diese Feinheiten im Umgang, die zeigen, dass es sich bei Thomas
Kemmerich nicht um irgendwen handelt, sondern um den Mann, der eine
Regierungskrise in Thüringen ausgelöst hat. Der Handschlag am 5. Februar
2020 zwischen ihm und dem rechtsextremen AfD-Politiker Björn Höcke ist ein
Bild, das in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist: Die
damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte Kemmerichs Wahl mit
AfD-Stimmen „unverzeihlich“. FDP-Vize Wolfgang Kubicki gratulierte
zunächst, das sei „ein großartiger Erfolg“, ruderte aber wieder zurück.
FDP-Chef Christian Lindner wirkte wie ein Getriebener. Schließlich musste
Kemmerich zurücktreten. Die Parteispitze entzog ihm jede weitere
Unterstützung.
Heute, drei Krisen später, wirkt die Causa Kemmerich wie eine Anekdote aus
der Mottenkiste. Aber das ist sie nicht. Kemmerich bezeichnet die AfD zwar
als „Feind“ und schließt jegliche Zusammenarbeit aus. Aber politische
Mehrheiten mit Stimmen der AfD zu erreichen, findet er legitim. „Natürlich
werben wir in den Parlamenten für unsere Anträge und unsere Überzeugungen.
Wenn die AfD am Ende zustimmt, dann werde ich mich nicht von meiner
politischen Überzeugung abbringen lassen“, sagt er am Rande des
Bundesparteitags.
## Hauptsache, gegen links
Thomas Kemmerich, der immer noch gern Visitenkarten als „Ministerpräsident
a. D“ verteilt, ist in Thüringen politisch erstaunlich unbeschadet aus
dieser Geschichte hervorgegangen. Auf den AfD-Trick eines Scheinkandidaten
sei er nicht vorbereitet gewesen, sagt er bei einem Treffen in Erfurt. „In
wenigen Sekundenbruchteilen“ habe er eine Entscheidung treffen müssen: die
Wahl annehmen oder ablehnen. Also alles ein Versehen?
Nur wenige Monate nach dem Eklat, während der Pandemie im Mai 2020 trat
Kemmerich auf einer Demo gegen Coronaschutzmaßnahmen in Gera auf. Mit
dabei: Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und AfD-Spitzenpersonal. Für
Kemmerich eine Veranstaltung von „mehreren Hundert Bürgerlichen“, er
verweist darauf, dass auch der Thüringer Innenstaatssekretär den Großteil
der Demonstranten dem bürgerlichen Spektrum zuordnete. „Auf dem Markt war
nicht zu erkennen, wer da noch mit auftaucht.“ Noch so ein Versehen.
## Stramm konservativ geführter Laden
Kemmerich genießt Rückhalt in seinem Thüringer Landesverband. Im Oktober
2022 wurde er erneut mit 87 Prozent zum Landesvorsitzenden gewählt. Bei der
anstehenden Wahl 2024 will er wieder Spitzenkandidat werden. Er begründete
das mit seiner Bekanntheit.
Der Thüringer SPD-Fraktionschef Matthias Hey spricht vom „stramm
konservativ geführten Laden von Kemmerich“. Mit ihren vier Stimmen hätte
die FDP im Landtag etwa bei Haushaltsberatungen der rot-rot-grünen
Minderheitsregierung zur Mehrheit verhelfen können, wie das die CDU
punktuell tut. Das aber verweigere die Thüringer FDP wegen ihrer
Linken-Aversion hartnäckig. Wer die Thüringer FDP verstehen will, muss nur
in den Leitantrag des jüngsten Landesparteitags schauen. Da wird eine
Koalition mit der AfD ausgeschlossen, ebenso mit der Linkspartei. Der
Hauptfeind steht für den gebürtigen Westdeutschen Kemmerich unübersehbar
links. Ohne jede Differenzierung gilt ihm die Linke als
SED-Nachfolgepartei. Man kann den Handschlag mit Höcke auch so
interpretieren: lieber rechts als links.
## In tumbem Trotz
Martin Debes, der ein Buch über die Thüringer Regierungskrise geschrieben
hat, kritisiert eine mangelnde Aufarbeitung der Thüringer FDP. Stattdessen
stehe „sie in tumbem Trotz zu Kemmerich“. Gerade in Parlamenten, in denen
die AfD stark sei, müsse bei allem dringend nötigen politischen Wettbewerb
ein Grundkonsens der Demokraten herrschen, meint Debes. Leider werde diese
staatspolitische Verantwortung zwar oft zitiert, aber seltener danach
gehandelt.
Bei der Wahl im Herbst 2024 könnte die AfD in Thüringen stärkste Kraft
werden. Bei der FDP ist unklar, ob sie den Einzug in den Landtag schafft.
Doch ein Spitzenkandidat namens Kemmerich würde die Bundes-FDP in
Erklärungsnot bringen.
Kemmerich ist jedoch kein reines Thüringenproblem. Es geht um die Frage,
wie man strategisch weitermachen will mit einer AfD im Umfragehoch. Harte
Abgrenzung oder verbale Annäherung? Das Erstarken der AfD bringt vor allem
konservative Parteien in die Bredouille. Punkten will man offenbar nicht
links der Mitte. Aber rechts der Mitte sieht man Platz. Kemmerich ist mehr
als nur ein Ausrutscher in der Geschichte. Kemmerich ist ein Symptom eines
Richtungskampfes, der sich auch beim Heizungsgesetz beobachten lässt. Wo
und wie lassen sich Unterstützer*innen gewinnen? Die FDP mit ihrer kleinen
Stammwählerschaft will unterschiedliche Wählermilieus binden.
## Brandmauer gegen die AfD
In der FDP-Bundestagsfraktion gründete sich 2020 nach dem Dammbruch in
Thüringen eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Umgang mit der AfD
beschäftigte. Es ging darum, wie man den Rechtspopulisten im
parlamentarischen Raum begegnen will, und um langfristige Strategien.
Leiter dieser Arbeitsgruppe war Benjamin Strasser, der heute
parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium ist. Strasser
will auf Nachfrage nicht mit der taz reden. Die Arbeit sei mit einem
internen Abschlussbericht beendet, die Gruppe gebe es nicht mehr, teilt
sein Pressesprecher mit.
Unter anderem gehörte Marie-Agnes Strack-Zimmermann dieser Gruppe an. Im
Gegensatz zu Lindner und Kubicki hatte sie sich von Anfang an deutlich von
Kemmerich distanziert. „Meine Haltung hat sich nicht verändert“, erklärt
sie. Sie verweist auf den Beschluss des FDP-Präsidiums, der besagt, dass
eine Spitzenkandidatur von Kemmerich finanziell und organisatorisch nicht
unterstützt wird. Doch die Landesverbände seien „frei in ihrer
Entscheidung, wen sie zu Wahlen aufstellen“, sagt Strack-Zimmermann.
Kemmerich aber hofft auf Unterstützung der Bundespartei. Er sieht den
Beschluss des Präsidiums als verjährt an. Mehr noch: Er behauptet, er sei
„in Gesprächen mit Christian Lindner und dem Bundespräsidium“. Das
Verhältnis zu Lindner sei „professionell entspannt“.
Die Bundespartei weist diese Erzählung zurück. „Es finden keine Gespräche
zwischen Thomas Kemmerich und dem Präsidium der FDP statt“, heißt es auf
Nachfrage. Zudem wird betont, der Beschluss des [2][FDP-Präsidiums vom 9.
Oktober 2020] gelte. Ebenso der Beschluss des [3][Bundesvorstandes der FDP
vom 7. Februar 2020] mit dem Titel „Brandmauer gegen die AfD“. Darin heißt
es, die Partei lehne es auf allen Ebenen ab, „mit der AfD
zusammenzuarbeiten oder eine Abhängigkeit von der AfD in Kauf zu nehmen“.
## Immer wieder direkte Zusammenarbeit
Doch trotz der offiziellen Beschlusslage gibt es vor allem auf kommunaler
Ebene ähnlich wie bei der CDU immer wieder Übernahmen von AfD-Themen und
auch direkte Zusammenarbeit: Erst am 16. März 2023 stimmten CDU und FDP im
Stadtrat Stralsund für den AfD-Antrag „Gendern konsequent unterbinden –
Kommunikation in regelkonformer Sprache“. In der Hamburger Bürgerschaft hat
die FDP vor 2020 [4][zehnmal für AfD-Anträge gestimmt]. In Thüringen
wählten CDU und FDP im Saale-Holz-Kreis einen AfD-Kandidaten, der [5][zuvor
beim rechtsextremen Thügida aufgetreten] war, in einen überregionalen
Zweckverband. Rechtsextremismusexperten beklagen, dass man durch die
Übernahmen rassistischer Narrative zur Flüchtlingspolitik oder durch
AfD-Themen letztlich den Resonanzraum der extremen Rechten vergrößere und
dem [6][Original mehr Stimmen verschaff]e.
Die FDP grenzt sich offiziell von der AfD ab. Dennoch verdient das
Verhältnis zum rechtspopulistischen Spektrum zumindest den
Beziehungsstatus „kompliziert“. Aufschlussreich war eine Umfrage vom
ARD-Deutschlandtrend unmittelbar nach dem Kemmerich-Eklat. Unter befragten
FDP-Anhänger*innen sprachen sich 25 Prozent prinzipiell gegen eine
Zusammenarbeit mit der AfD aus, 62 Prozent wünschten sich, dass man von
Fall zu Fall entscheide.
## Nationalliberale Traditionen
Nationalliberale und rechtsliberale Strömungen sind seit jeher Teil der
FDP-Geschichte. Die [7][Zeiten in den 1950er Jahren, als Altnazis die
Partei unterwanderten], sind zwar vorbei, aber rechtsliberale Linien ziehen
sich bis heute durch. Das muss sich im konservativ-bürgerlichen Milieu
nicht in plumpem Rassismus äußern. Es kann eine gewisse
Staatsverdrossenheit sein. Modernisierungsängste im Mittelstand, Sorgen um
Wohlstand. Wunsch nach mehr Abschottung.
Das Jahr 2013, als die FDP erstmals aus dem Bundestag flog, war nicht
zufällig die Geburtsstunde der damals noch überwiegend eurokritischen AfD.
Die FDP verlor die meisten Stimmen an die CDU. Aber von keiner anderen
Partei bekam die AfD so viele Stimmen wie von ehemaligen FDP-Wähler*innen.
Der langjährige FDP-Unterstützer Hans-Olaf Henkel war Mitgründer der AfD,
aus Frust über die von den Liberalen mitgetragene Eurorettungspolitik nach
der Finanzkrise. Damals war noch nicht klar, dass sich die AfD immer weiter
radikalisieren würde. Aber bis heute gibt es inhaltliche Berührungspunkte
mit der AfD, nicht nur, was marktradikale Positionen betrifft, sondern auch
im Hinblick auf Migrationspolitik. 2017 ergab eine Wahl-O-Mat-[8][Analyse],
dass es zwischen FDP und AfD inhaltlich große Übereinstimmungen gibt.
## Lindner will die AfD stellen
Am Abend der Niedersachsenwahl am 9. Oktober 2022 muss Christian Lindner
die erneute Wahlschlappe seiner Partei erklären. Die FDP hat den Einzug ins
Landesparlament verpasst. Im Wahlkampf haben die Freien Demokraten vor
allem auf Atomkraft gesetzt. Das hat sich nicht ausgezahlt. Die FDP verlor
die meisten Stimmen an die AfD.
Man betrachte die AfD mit Sorge, sagt Lindner. Man müsse sie zum einen
„dort stellen, wo sie Narrative von Putin bedient und die innere
Liberalität unserer Gesellschaft infrage stellt“. Auf der anderen Seite
müsse man sich „an die Wählerinnen und Wähler der AfD wenden, insbesondere
an jene, die mit ihren wirtschaftlichen Sorgen und Abstiegsängsten das
Gefühl haben, von den etablierten Parteien nicht gesehen zu werden“. Wie,
das verrät er nicht.
„Die FDP blutet nach rechts aus“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner der
wochentaz am Telefon. Die Partei sei „im positiven Sinne eine
Klientelpartei für den deutschen Mittelstand, Handwerker und Freiberufler,
die sich Schutz vor zu viel staatlicher Bürokratie wünschen“. Diese sähen
sich in der Energiekrise durch die FDP in der Ampel aber nicht vertreten.
Güllner befürchtet daher, „dass die AfD vermehrt Zulauf bekommt von
Menschen, die kein geschlossen rechtsradikales Weltbild haben“. Dadurch
könne der Graben zur AfD immer weiter aufgeweicht werden. Der FDP empfiehlt
er, sich klar von der AfD abzugrenzen.
## Kein Schäbigkeitswettbewerb
In seinem 2017 publizierten Buch „Schattenjahre“ schreibt Christian
Lindner, der die FDP seit 2013 führt, dass er keine Zukunft als
Protestpartei sehe, „die in einen Schäbigkeitswettbewerb mit der AfD“
einträte. Lindner lehnte einen nationalliberalen Kurs immer entschieden ab.
Aber spielt Lindner bewusst mit Ressentiments? Als Finanzminister tritt er
rhetorisch gediegener, staatsmännischer auf. Doch das gelegentliche Blinken
nach rechts ist nicht zu leugnen. 2018 sprach Lindner auf dem Parteitag von
der Angst in der Bäckerschlange, wo man nicht unterscheiden könne, „wenn
einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der
hochqualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist oder
eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter
Ausländer“. Wer darin Rassismus erkenne, sei „etwas hysterisch unterwegs�…
befand Lindner nach anhaltender Kritik.
## Die richtig groben Töne
Für die richtig groben Töne aber war ohnehin immer Wolfgang Kubicki
zuständig. Als im August 2018 Rechtsextreme gewaltsam durch Chemnitz zogen,
nachdem es hieß, ein Mann sei von zwei Geflüchteten getötet worden, sagte
Kubicki: „Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ‚Wir schaffen das�…
von Kanzlerin Angela Merkel.“ Einige FDP-Politiker*innen distanzierten sich
von dieser Aussage. Dennoch werden die wiederkehrenden Stammtischparolen
von Kubicki geduldet. Oder sind sie Teil einer Strategie?
Ein ähnlicher Mitte-rechts-Kurs lässt sich auch in den aktuellen Debatten
zur Migrationspolitik beobachten. Zwar will die FDP Arbeitsmarktmigration
und befürwortet ein Punktesystem, wie es andere Länder wie Kanada schon
haben. Dass man eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ verhindern müsse,
erzählen derzeit Fraktionschef Christian Dürr und Generalsekretär Bijan
Djir-Sarai trotzdem in jede Kamera. Es ist ein rechtes Narrativ.
Lieber Sachleistungen statt Geld für Asylbewerber will die FDP, von
„verfehlter Merkel-Politik“ ist die Rede. Die „Grenzschutzfähigkeit an d…
EU-Außengrenzen“ müsse erhöht werden, notfalls „mit Zäunen“. Diese
Formulierungen benutzte der FDP-Generalsekretär Djir-Sarai, aber auch
Parteichef Lindner.
## Blinken nach rechts
Gerhart Baum, einst Bundesinnenminister in einer sozialliberalen Koalition
unter Helmut Schmidt, findet das bedenklich: „Wenn der Generalsekretär
Zäune an den Außengrenzen errichten will oder von verfehlter Merkel-Politik
spricht, dann ist das ganz klar ein Blinken nach rechts“, sagt er der
wochentaz am Telefon. Merkel habe 2015 richtig gehandelt, und die Angriffe
der CSU auf sie seien schändlich gewesen. Manche in der FDP wollten „durch
eine gewisse sprachliche Annäherung Menschen im rechten Parteienspektrum
gewinnen. Auf die können wir verzichten.“
Eine generelle Strategie, die FDP nach rechts zu führen, sieht er aber
nicht. Die Kräfte in der Partei gegen diesen Kurs wüchsen. Die FDP müsse
aber endlich im Bereich überzeugter liberaler Wähler stärker werden und
dort ihre Stammwählerschaft bilden, in Abgrenzung zu den Grünen, aber
sensibel für die neuen Herausforderungen. Es sei vor allem „der alte
Mittelstand“, der sich nach rechts orientiere und sich enttäuscht abwende,
„weil die FDP in der Ampel nicht 100 Prozent liberale Politik machen kann“.
Sie reagierten „mit Trotz“. Der „neue Mittelstand“ müsse von den Liber…
gewonnen werden. Was er im Sinn hat: junge weltoffene Unternehmen, die die
Klimakrise ernst nehmen.
Im aktuellen Geschäft hat Baum wenig zu sagen. Er ist die mahnende Stimme
von der Seitenlinie. In Lindners FDP haben Progressive und „Kubickis“
bewusst einen festen Platz. Ob Lindners integrativer Ansatz ihm nicht doch
irgendwann auf die Füße fällt, wird sich vielleicht schon im weiteren
Verlauf des Heizungsstreits zeigen.
4 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-zum-klimawan…
[2] https://www.fdp.de/pressemitteilung/wissing-das-praesidium-der-fdp-distanzi…
[3] https://www.fdp.de/beschluss/beschluss-des-bundesvorstands-brandmauer-gegen…
[4] https://de.statista.com/infografik/20759/abstimmungsverhalten-der-fdp-frakt…
[5] https://www.sueddeutsche.de/politik/kommunen-mohring-keine-kooperationen-de…
[6] /Erstarken-der-AfD/!5931844
[7] https://www.spiegel.de/geschichte/naumann-kreis-die-unterwanderung-der-fdp-…
[8] https://interaktiv.morgenpost.de/parteien-bundestagswahl-2017/
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
Michael Bartsch
Gareth Joswig
## TAGS
Schwerpunkt AfD
FDP
Christian Lindner
Schwerpunkt Thüringen
Liberalismus
GNS
Gerhart Baum
Wolfgang Kubicki
FDP
Schwerpunkt AfD
Liberalismus
Lesestück Recherche und Reportage
FDP
Energiewende
Christian Lindner
Schwerpunkt Thüringen
## ARTIKEL ZUM THEMA
FDP-Mitgliederbefragung zur Ampel: Macht und Misere
Bis zum 1. Januar stimmen FDP-Mitglieder darüber ab, ob die Partei in der
Regierung bleibt. Wie gefährlich ist das, für die Ampel und für die Partei?
Europawahl-Kandidat der FDP in Meck-Pomm: Rechtsaußen statt liberal
Paul Bressel wird in Mecklenburg-Vorpommern Spitzenkandidat der FDP bei der
Europawahl. Seine politischen Positionen decken sich mit denen der AfD.
Philosophin Elif Özmen über Liberalismus: „Freiheit ist kein Gut für wenig…
Den Liberalismus retten, auch vor falschen Freund*innen: Die Philosophin
Elif Özmen liest in Hamburg aus ihrem Buch "Was ist Liberalismus?"
AfD in Thüringen: Radikale Realitäten
Im kommunalpolitischen Alltag ist die Brandmauer gegen rechts bröckelig. In
thüringischen Sonneberg hat der AfD-Kandidat Chancen bei der Landratswahl.
Oberbürgermeisterwahl in Schwerin: FDP auf Rechtskurs
Der Kreisverband Schwerin will keine klare Wahlempfehlung für den
SPD-Kandidaten geben. Die Bundes-FDP geht auf Distanz.
FDP verzögert weiter das Heizungsgesetz: Kühnert macht Druck
Die FDP wehrt sich gegen "Zeitdruck beim Heizungsgesetz". Der
SPD-Generalsekretär hingegen sieht einer Einigung bis zur Sommerpause
entgegen.
Die Wahrheit: Doppelwumms im Ehebett
Unklare Familienverhältnisse und die Nachwehen einer liberalen Hochzeit
belasten Finanzminister Christian Lindner.
Skandalwahl in Thüringen: Nichts aus der Geschichte gelernt
Die Thüringer Ministerpräsidentenwahl hat einen historischen Vorläufer.
Versagen „bürgerliche“ Parteien wie in der Weimarer Republik?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.