# taz.de -- Die FDP in der Bundesregierung: Das Symptom Kemmerich | |
> Kubicki, Kemmerich, Schäffler: Manche Liberale bedienen hier und da | |
> rechte Narrative. Ist das die Zukunft der FDP – oder wo will die Partei | |
> hin? | |
Bild: Thüringer Landtag, Februar 2020: AfD-Fraktionschef Björn Höcke gratuli… | |
Wenn die Temperaturen sich langsam regulieren im politischen | |
Heizungskeller, dann kann es sein, dass Wolfgang Kubicki kommt und den | |
Regler hochdreht. Seit Wochen streitet die Ampel erbittert über das Gesetz | |
mit dem sperrigen Namen Gebäudeenergiegesetz, das nach und nach Gas- und | |
Ölheizungen durch klimafreundliche Alternativen ersetzen soll. Prominente | |
Gegner: FDP-Vize Wolfgang Kubicki, bekannt für seine lockere Zunge, und | |
FDP-Politiker Frank Schäffler, bekannt als Eurokritiker und einst | |
[1][bekennender Klimaskeptiker]. | |
Es gibt berechtigte Kritik an dem Gesetzentwurf. Aber es gibt auch Leute, | |
die unter dem Vorwand der Kritik das Gesetz grundsätzlich torpedieren | |
wollen. | |
Schäffler nannte das Heizungsgesetz eine „Atombombe“. Er war es auch, der | |
auf dem letzten Parteitag einen Dringlichkeitsantrag gegen „die falsche | |
Klima- und Energiepolitik der Grünen“ einbrachte, der auf breite Zustimmung | |
stieß. Von ihm und Kubicki stammen auch die berüchtigten 101 Fragen zum | |
Gesetz, von deren Existenz man über Bild erfuhr. Lange war nicht klar, ob | |
es sie wirklich gibt und ob das Ganze von der Fraktion abgesegnet war. | |
Offiziell kamen 77 Fragen im Wirtschafts- und im Bauministerium an, die | |
inzwischen brav abgearbeitet wurden. Aber Kubicki will immer noch alle 101, | |
teils absurde Fragen beantwortet haben. Zum Beispiel, in wie vielen | |
Mehrfamilienhäusern der Dachstuhl als Wäschetrocknungsraum genutzt wird. | |
Nun sprechen Kubicki und Schäffler nicht für die gesamte FDP-Fraktion, aber | |
sie haben Rückhalt und bestimmen zunehmend den Ton. | |
## Kein Hinterbänkler | |
Kubicki ist kein populistischer Hinterbänkler, der den Wirtschaftsminister | |
aus Versehen mal mit Putin vergleicht und später um Entschuldigung bittet. | |
Er ist Parteivize und Bundestagsvizepräsident – und äußerst beliebt bei der | |
Basis. Er und Schäffler richten sich an ein gewisses Spektrum: | |
Klimaskeptiker, Coronaleugner, Putin-Freunde, den Stammtisch, der gegen den | |
linken Zeitgeist wettert. Grünen-Bashing inklusive. | |
Die Frage ist: Wie sehr wird das den künftigen Kurs, die Rhetorik der FDP | |
bestimmen? Und das Regierungshandeln? In Umfragen steht die FDP derzeit bei | |
7 Prozent. Die Blockaden und die PR-Nummer mit den Fragen haben ihr nicht | |
geschadet. FDP-Chef Christian Lindner arbeite für ein „nichtlinkes | |
Deutschland“, sagte er jüngst auf dem FDP-Bundesparteitag. Aber was heißt | |
„nichtlinks“? Liberal? Konservativ? Rechts? | |
## Keiner schleppt den Koffer? | |
Am ersten Tag des Parteitags im April 2023 geht FDP-Mann Thomas Kemmerich | |
zum Rednerpult. Er spricht über die Stärkung des deutschen Mittelstands und | |
fehlende Fachkräfte. „Die alleinige Lösung ist auch nicht, sie nur per | |
Zuwanderung aus dem Ausland zu gewinnen“, sagt er. Dann erzählt er eine | |
Anekdote eines Bekannten, der am Flughafen Frankfurt 90 Minuten auf seinen | |
Koffer warten musste. Dieser habe gesagt: „Wir haben in Deutschland keinen | |
mehr, der einen Koffer schleppt, aber alle Beauftragtenstellen für | |
Gleichberechtigung und solche Dinge“ seien besetzt. | |
Man muss sich die Botschaft schon mühsam zusammenreimen. Dürfen im Weltbild | |
von Thomas Kemmerich ausländische Arbeitskräfte nur Koffer schleppen? Der | |
Applaus ist bescheiden. Gegen Ende der Rede blickt er zum Parteichef | |
Christian Lindner, der mit einem Teil des Präsidiums auf der Bühne sitzt. | |
Er bedankt sich per Du, dass die Schuldenbremse steht. Als Kemmerich die | |
Bühne verlässt, klatscht niemand vom Präsidium. | |
## „Unverzeihlich“, dieser „großartige Erfolg“ | |
Es sind diese Feinheiten im Umgang, die zeigen, dass es sich bei Thomas | |
Kemmerich nicht um irgendwen handelt, sondern um den Mann, der eine | |
Regierungskrise in Thüringen ausgelöst hat. Der Handschlag am 5. Februar | |
2020 zwischen ihm und dem rechtsextremen AfD-Politiker Björn Höcke ist ein | |
Bild, das in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist: Die | |
damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte Kemmerichs Wahl mit | |
AfD-Stimmen „unverzeihlich“. FDP-Vize Wolfgang Kubicki gratulierte | |
zunächst, das sei „ein großartiger Erfolg“, ruderte aber wieder zurück. | |
FDP-Chef Christian Lindner wirkte wie ein Getriebener. Schließlich musste | |
Kemmerich zurücktreten. Die Parteispitze entzog ihm jede weitere | |
Unterstützung. | |
Heute, drei Krisen später, wirkt die Causa Kemmerich wie eine Anekdote aus | |
der Mottenkiste. Aber das ist sie nicht. Kemmerich bezeichnet die AfD zwar | |
als „Feind“ und schließt jegliche Zusammenarbeit aus. Aber politische | |
Mehrheiten mit Stimmen der AfD zu erreichen, findet er legitim. „Natürlich | |
werben wir in den Parlamenten für unsere Anträge und unsere Überzeugungen. | |
Wenn die AfD am Ende zustimmt, dann werde ich mich nicht von meiner | |
politischen Überzeugung abbringen lassen“, sagt er am Rande des | |
Bundesparteitags. | |
## Hauptsache, gegen links | |
Thomas Kemmerich, der immer noch gern Visitenkarten als „Ministerpräsident | |
a. D“ verteilt, ist in Thüringen politisch erstaunlich unbeschadet aus | |
dieser Geschichte hervorgegangen. Auf den AfD-Trick eines Scheinkandidaten | |
sei er nicht vorbereitet gewesen, sagt er bei einem Treffen in Erfurt. „In | |
wenigen Sekundenbruchteilen“ habe er eine Entscheidung treffen müssen: die | |
Wahl annehmen oder ablehnen. Also alles ein Versehen? | |
Nur wenige Monate nach dem Eklat, während der Pandemie im Mai 2020 trat | |
Kemmerich auf einer Demo gegen Coronaschutzmaßnahmen in Gera auf. Mit | |
dabei: Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und AfD-Spitzenpersonal. Für | |
Kemmerich eine Veranstaltung von „mehreren Hundert Bürgerlichen“, er | |
verweist darauf, dass auch der Thüringer Innenstaatssekretär den Großteil | |
der Demonstranten dem bürgerlichen Spektrum zuordnete. „Auf dem Markt war | |
nicht zu erkennen, wer da noch mit auftaucht.“ Noch so ein Versehen. | |
## Stramm konservativ geführter Laden | |
Kemmerich genießt Rückhalt in seinem Thüringer Landesverband. Im Oktober | |
2022 wurde er erneut mit 87 Prozent zum Landesvorsitzenden gewählt. Bei der | |
anstehenden Wahl 2024 will er wieder Spitzenkandidat werden. Er begründete | |
das mit seiner Bekanntheit. | |
Der Thüringer SPD-Fraktionschef Matthias Hey spricht vom „stramm | |
konservativ geführten Laden von Kemmerich“. Mit ihren vier Stimmen hätte | |
die FDP im Landtag etwa bei Haushaltsberatungen der rot-rot-grünen | |
Minderheitsregierung zur Mehrheit verhelfen können, wie das die CDU | |
punktuell tut. Das aber verweigere die Thüringer FDP wegen ihrer | |
Linken-Aversion hartnäckig. Wer die Thüringer FDP verstehen will, muss nur | |
in den Leitantrag des jüngsten Landesparteitags schauen. Da wird eine | |
Koalition mit der AfD ausgeschlossen, ebenso mit der Linkspartei. Der | |
Hauptfeind steht für den gebürtigen Westdeutschen Kemmerich unübersehbar | |
links. Ohne jede Differenzierung gilt ihm die Linke als | |
SED-Nachfolgepartei. Man kann den Handschlag mit Höcke auch so | |
interpretieren: lieber rechts als links. | |
## In tumbem Trotz | |
Martin Debes, der ein Buch über die Thüringer Regierungskrise geschrieben | |
hat, kritisiert eine mangelnde Aufarbeitung der Thüringer FDP. Stattdessen | |
stehe „sie in tumbem Trotz zu Kemmerich“. Gerade in Parlamenten, in denen | |
die AfD stark sei, müsse bei allem dringend nötigen politischen Wettbewerb | |
ein Grundkonsens der Demokraten herrschen, meint Debes. Leider werde diese | |
staatspolitische Verantwortung zwar oft zitiert, aber seltener danach | |
gehandelt. | |
Bei der Wahl im Herbst 2024 könnte die AfD in Thüringen stärkste Kraft | |
werden. Bei der FDP ist unklar, ob sie den Einzug in den Landtag schafft. | |
Doch ein Spitzenkandidat namens Kemmerich würde die Bundes-FDP in | |
Erklärungsnot bringen. | |
Kemmerich ist jedoch kein reines Thüringenproblem. Es geht um die Frage, | |
wie man strategisch weitermachen will mit einer AfD im Umfragehoch. Harte | |
Abgrenzung oder verbale Annäherung? Das Erstarken der AfD bringt vor allem | |
konservative Parteien in die Bredouille. Punkten will man offenbar nicht | |
links der Mitte. Aber rechts der Mitte sieht man Platz. Kemmerich ist mehr | |
als nur ein Ausrutscher in der Geschichte. Kemmerich ist ein Symptom eines | |
Richtungskampfes, der sich auch beim Heizungsgesetz beobachten lässt. Wo | |
und wie lassen sich Unterstützer*innen gewinnen? Die FDP mit ihrer kleinen | |
Stammwählerschaft will unterschiedliche Wählermilieus binden. | |
## Brandmauer gegen die AfD | |
In der FDP-Bundestagsfraktion gründete sich 2020 nach dem Dammbruch in | |
Thüringen eine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Umgang mit der AfD | |
beschäftigte. Es ging darum, wie man den Rechtspopulisten im | |
parlamentarischen Raum begegnen will, und um langfristige Strategien. | |
Leiter dieser Arbeitsgruppe war Benjamin Strasser, der heute | |
parlamentarischer Staatssekretär im Bundesjustizministerium ist. Strasser | |
will auf Nachfrage nicht mit der taz reden. Die Arbeit sei mit einem | |
internen Abschlussbericht beendet, die Gruppe gebe es nicht mehr, teilt | |
sein Pressesprecher mit. | |
Unter anderem gehörte Marie-Agnes Strack-Zimmermann dieser Gruppe an. Im | |
Gegensatz zu Lindner und Kubicki hatte sie sich von Anfang an deutlich von | |
Kemmerich distanziert. „Meine Haltung hat sich nicht verändert“, erklärt | |
sie. Sie verweist auf den Beschluss des FDP-Präsidiums, der besagt, dass | |
eine Spitzenkandidatur von Kemmerich finanziell und organisatorisch nicht | |
unterstützt wird. Doch die Landesverbände seien „frei in ihrer | |
Entscheidung, wen sie zu Wahlen aufstellen“, sagt Strack-Zimmermann. | |
Kemmerich aber hofft auf Unterstützung der Bundespartei. Er sieht den | |
Beschluss des Präsidiums als verjährt an. Mehr noch: Er behauptet, er sei | |
„in Gesprächen mit Christian Lindner und dem Bundespräsidium“. Das | |
Verhältnis zu Lindner sei „professionell entspannt“. | |
Die Bundespartei weist diese Erzählung zurück. „Es finden keine Gespräche | |
zwischen Thomas Kemmerich und dem Präsidium der FDP statt“, heißt es auf | |
Nachfrage. Zudem wird betont, der Beschluss des [2][FDP-Präsidiums vom 9. | |
Oktober 2020] gelte. Ebenso der Beschluss des [3][Bundesvorstandes der FDP | |
vom 7. Februar 2020] mit dem Titel „Brandmauer gegen die AfD“. Darin heißt | |
es, die Partei lehne es auf allen Ebenen ab, „mit der AfD | |
zusammenzuarbeiten oder eine Abhängigkeit von der AfD in Kauf zu nehmen“. | |
## Immer wieder direkte Zusammenarbeit | |
Doch trotz der offiziellen Beschlusslage gibt es vor allem auf kommunaler | |
Ebene ähnlich wie bei der CDU immer wieder Übernahmen von AfD-Themen und | |
auch direkte Zusammenarbeit: Erst am 16. März 2023 stimmten CDU und FDP im | |
Stadtrat Stralsund für den AfD-Antrag „Gendern konsequent unterbinden – | |
Kommunikation in regelkonformer Sprache“. In der Hamburger Bürgerschaft hat | |
die FDP vor 2020 [4][zehnmal für AfD-Anträge gestimmt]. In Thüringen | |
wählten CDU und FDP im Saale-Holz-Kreis einen AfD-Kandidaten, der [5][zuvor | |
beim rechtsextremen Thügida aufgetreten] war, in einen überregionalen | |
Zweckverband. Rechtsextremismusexperten beklagen, dass man durch die | |
Übernahmen rassistischer Narrative zur Flüchtlingspolitik oder durch | |
AfD-Themen letztlich den Resonanzraum der extremen Rechten vergrößere und | |
dem [6][Original mehr Stimmen verschaff]e. | |
Die FDP grenzt sich offiziell von der AfD ab. Dennoch verdient das | |
Verhältnis zum rechtspopulistischen Spektrum zumindest den | |
Beziehungsstatus „kompliziert“. Aufschlussreich war eine Umfrage vom | |
ARD-Deutschlandtrend unmittelbar nach dem Kemmerich-Eklat. Unter befragten | |
FDP-Anhänger*innen sprachen sich 25 Prozent prinzipiell gegen eine | |
Zusammenarbeit mit der AfD aus, 62 Prozent wünschten sich, dass man von | |
Fall zu Fall entscheide. | |
## Nationalliberale Traditionen | |
Nationalliberale und rechtsliberale Strömungen sind seit jeher Teil der | |
FDP-Geschichte. Die [7][Zeiten in den 1950er Jahren, als Altnazis die | |
Partei unterwanderten], sind zwar vorbei, aber rechtsliberale Linien ziehen | |
sich bis heute durch. Das muss sich im konservativ-bürgerlichen Milieu | |
nicht in plumpem Rassismus äußern. Es kann eine gewisse | |
Staatsverdrossenheit sein. Modernisierungsängste im Mittelstand, Sorgen um | |
Wohlstand. Wunsch nach mehr Abschottung. | |
Das Jahr 2013, als die FDP erstmals aus dem Bundestag flog, war nicht | |
zufällig die Geburtsstunde der damals noch überwiegend eurokritischen AfD. | |
Die FDP verlor die meisten Stimmen an die CDU. Aber von keiner anderen | |
Partei bekam die AfD so viele Stimmen wie von ehemaligen FDP-Wähler*innen. | |
Der langjährige FDP-Unterstützer Hans-Olaf Henkel war Mitgründer der AfD, | |
aus Frust über die von den Liberalen mitgetragene Eurorettungspolitik nach | |
der Finanzkrise. Damals war noch nicht klar, dass sich die AfD immer weiter | |
radikalisieren würde. Aber bis heute gibt es inhaltliche Berührungspunkte | |
mit der AfD, nicht nur, was marktradikale Positionen betrifft, sondern auch | |
im Hinblick auf Migrationspolitik. 2017 ergab eine Wahl-O-Mat-[8][Analyse], | |
dass es zwischen FDP und AfD inhaltlich große Übereinstimmungen gibt. | |
## Lindner will die AfD stellen | |
Am Abend der Niedersachsenwahl am 9. Oktober 2022 muss Christian Lindner | |
die erneute Wahlschlappe seiner Partei erklären. Die FDP hat den Einzug ins | |
Landesparlament verpasst. Im Wahlkampf haben die Freien Demokraten vor | |
allem auf Atomkraft gesetzt. Das hat sich nicht ausgezahlt. Die FDP verlor | |
die meisten Stimmen an die AfD. | |
Man betrachte die AfD mit Sorge, sagt Lindner. Man müsse sie zum einen | |
„dort stellen, wo sie Narrative von Putin bedient und die innere | |
Liberalität unserer Gesellschaft infrage stellt“. Auf der anderen Seite | |
müsse man sich „an die Wählerinnen und Wähler der AfD wenden, insbesondere | |
an jene, die mit ihren wirtschaftlichen Sorgen und Abstiegsängsten das | |
Gefühl haben, von den etablierten Parteien nicht gesehen zu werden“. Wie, | |
das verrät er nicht. | |
„Die FDP blutet nach rechts aus“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner der | |
wochentaz am Telefon. Die Partei sei „im positiven Sinne eine | |
Klientelpartei für den deutschen Mittelstand, Handwerker und Freiberufler, | |
die sich Schutz vor zu viel staatlicher Bürokratie wünschen“. Diese sähen | |
sich in der Energiekrise durch die FDP in der Ampel aber nicht vertreten. | |
Güllner befürchtet daher, „dass die AfD vermehrt Zulauf bekommt von | |
Menschen, die kein geschlossen rechtsradikales Weltbild haben“. Dadurch | |
könne der Graben zur AfD immer weiter aufgeweicht werden. Der FDP empfiehlt | |
er, sich klar von der AfD abzugrenzen. | |
## Kein Schäbigkeitswettbewerb | |
In seinem 2017 publizierten Buch „Schattenjahre“ schreibt Christian | |
Lindner, der die FDP seit 2013 führt, dass er keine Zukunft als | |
Protestpartei sehe, „die in einen Schäbigkeitswettbewerb mit der AfD“ | |
einträte. Lindner lehnte einen nationalliberalen Kurs immer entschieden ab. | |
Aber spielt Lindner bewusst mit Ressentiments? Als Finanzminister tritt er | |
rhetorisch gediegener, staatsmännischer auf. Doch das gelegentliche Blinken | |
nach rechts ist nicht zu leugnen. 2018 sprach Lindner auf dem Parteitag von | |
der Angst in der Bäckerschlange, wo man nicht unterscheiden könne, „wenn | |
einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der | |
hochqualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist oder | |
eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter | |
Ausländer“. Wer darin Rassismus erkenne, sei „etwas hysterisch unterwegs�… | |
befand Lindner nach anhaltender Kritik. | |
## Die richtig groben Töne | |
Für die richtig groben Töne aber war ohnehin immer Wolfgang Kubicki | |
zuständig. Als im August 2018 Rechtsextreme gewaltsam durch Chemnitz zogen, | |
nachdem es hieß, ein Mann sei von zwei Geflüchteten getötet worden, sagte | |
Kubicki: „Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im ‚Wir schaffen das�… | |
von Kanzlerin Angela Merkel.“ Einige FDP-Politiker*innen distanzierten sich | |
von dieser Aussage. Dennoch werden die wiederkehrenden Stammtischparolen | |
von Kubicki geduldet. Oder sind sie Teil einer Strategie? | |
Ein ähnlicher Mitte-rechts-Kurs lässt sich auch in den aktuellen Debatten | |
zur Migrationspolitik beobachten. Zwar will die FDP Arbeitsmarktmigration | |
und befürwortet ein Punktesystem, wie es andere Länder wie Kanada schon | |
haben. Dass man eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ verhindern müsse, | |
erzählen derzeit Fraktionschef Christian Dürr und Generalsekretär Bijan | |
Djir-Sarai trotzdem in jede Kamera. Es ist ein rechtes Narrativ. | |
Lieber Sachleistungen statt Geld für Asylbewerber will die FDP, von | |
„verfehlter Merkel-Politik“ ist die Rede. Die „Grenzschutzfähigkeit an d… | |
EU-Außengrenzen“ müsse erhöht werden, notfalls „mit Zäunen“. Diese | |
Formulierungen benutzte der FDP-Generalsekretär Djir-Sarai, aber auch | |
Parteichef Lindner. | |
## Blinken nach rechts | |
Gerhart Baum, einst Bundesinnenminister in einer sozialliberalen Koalition | |
unter Helmut Schmidt, findet das bedenklich: „Wenn der Generalsekretär | |
Zäune an den Außengrenzen errichten will oder von verfehlter Merkel-Politik | |
spricht, dann ist das ganz klar ein Blinken nach rechts“, sagt er der | |
wochentaz am Telefon. Merkel habe 2015 richtig gehandelt, und die Angriffe | |
der CSU auf sie seien schändlich gewesen. Manche in der FDP wollten „durch | |
eine gewisse sprachliche Annäherung Menschen im rechten Parteienspektrum | |
gewinnen. Auf die können wir verzichten.“ | |
Eine generelle Strategie, die FDP nach rechts zu führen, sieht er aber | |
nicht. Die Kräfte in der Partei gegen diesen Kurs wüchsen. Die FDP müsse | |
aber endlich im Bereich überzeugter liberaler Wähler stärker werden und | |
dort ihre Stammwählerschaft bilden, in Abgrenzung zu den Grünen, aber | |
sensibel für die neuen Herausforderungen. Es sei vor allem „der alte | |
Mittelstand“, der sich nach rechts orientiere und sich enttäuscht abwende, | |
„weil die FDP in der Ampel nicht 100 Prozent liberale Politik machen kann“. | |
Sie reagierten „mit Trotz“. Der „neue Mittelstand“ müsse von den Liber… | |
gewonnen werden. Was er im Sinn hat: junge weltoffene Unternehmen, die die | |
Klimakrise ernst nehmen. | |
Im aktuellen Geschäft hat Baum wenig zu sagen. Er ist die mahnende Stimme | |
von der Seitenlinie. In Lindners FDP haben Progressive und „Kubickis“ | |
bewusst einen festen Platz. Ob Lindners integrativer Ansatz ihm nicht doch | |
irgendwann auf die Füße fällt, wird sich vielleicht schon im weiteren | |
Verlauf des Heizungsstreits zeigen. | |
4 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-zum-klimawan… | |
[2] https://www.fdp.de/pressemitteilung/wissing-das-praesidium-der-fdp-distanzi… | |
[3] https://www.fdp.de/beschluss/beschluss-des-bundesvorstands-brandmauer-gegen… | |
[4] https://de.statista.com/infografik/20759/abstimmungsverhalten-der-fdp-frakt… | |
[5] https://www.sueddeutsche.de/politik/kommunen-mohring-keine-kooperationen-de… | |
[6] /Erstarken-der-AfD/!5931844 | |
[7] https://www.spiegel.de/geschichte/naumann-kreis-die-unterwanderung-der-fdp-… | |
[8] https://interaktiv.morgenpost.de/parteien-bundestagswahl-2017/ | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
Michael Bartsch | |
Gareth Joswig | |
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