# taz.de -- Philosophin Elif Özmen über Liberalismus: „Freiheit ist kein Gu… | |
> Den Liberalismus retten, auch vor falschen Freund*innen: Die Philosophin | |
> Elif Özmen liest in Hamburg aus ihrem Buch "Was ist Liberalismus?" | |
Bild: Demonstration gegen das hessische Versammlungsfreiheitsgesetz im März 20… | |
taz: Frau Özmen, warum ist jetzt ein guter Zeitpunkt, darüber nachzudenken, | |
was [1][der Liberalismus] ist? | |
Elif Özmen: Ich sehe dafür zwei Gründe. Zum einen bietet Liberalismus ein | |
dankbares Feindbild für sehr unterschiedliche Akteure von ganz links bis | |
rechts im politischen Spektrum. Es gibt nur wenige gesellschaftliche | |
Probleme oder Pathologien der Demokratie, für die am Ende nicht der | |
Liberalismus verantwortlich gemacht würde. Der zweite Grund ist, dass nicht | |
nur die Kritiker und Verächter ein Zerrbild vom Liberalismus haben. | |
Wer denn noch? | |
Einige derjenigen, die den Liberalismus im öffentlichen Diskurs verteidigen | |
wollen, dabei aber nur einen Vulgärliberalismus meinen. Man konnte das in | |
Zeiten der Coronapandemie beobachten, wo manche einen angeblich liberalen | |
Freiheitsbegriff propagierten, der die Freiheit des Individuums | |
schrankenlos über alle politischen und gesellschaftlichen Überlegungen | |
stellte, aber eben auch über die Freiheit anderer Individuen. Viele | |
aktuelle, teils sehr spannungsreich oder agonistisch debattierte Themen | |
kreisen um eine bedrohte Freiheit. Auch bei den Verteidiger*innen gibt | |
es also offensichtlich Missverständnisse. | |
Gibt es den einen Liberalismus oder sind es -ismen? | |
Ich denke, es sind -ismen. Es gibt ja ganz verschiedene Theorieströmungen, | |
Wirtschafts- oder Rechtsstaatsliberalismus, klassischen, modernen oder | |
Neoliberalismus. Die spannende Frage für mich als Philosophin: Können wir | |
trotz dieser sehr unterschiedlichen und einander im Detail vielleicht sogar | |
widersprechenden Theorieströmungen seit dem 17. Jahrhundert so etwas wie | |
einen normativen Kern herausarbeiten? | |
Und – haben Sie so einen Kern gefunden? | |
Ich habe versucht, diesen Kern offenzulegen mit Bezug auf die drei | |
normativen Prinzipien Individualismus, Freiheit und Gleichheit. Die | |
einzelnen Teile dieses Trio liberale, wie ich es nenne, tauchen natürlich | |
auch in anderen politischen Theorien auf, gerade die Freiheit. Typisch für | |
den Liberalismus scheint mir die Vorrangstellung des Einzelnen als | |
unverwechselbare, unersetzbare Persönlichkeit zu sein, der Vorrang der | |
individuellen Freiheit, die aber stets gleiche individuelle Rechte für alle | |
Menschen meint. | |
Während andere Systeme und Ideen anders priorisieren, etwa den Wert der | |
Gleichheit höher ansetzen. | |
Ja, genau. Ein gutes Beispiel für eine dem Gedanken des Liberalismus | |
widersprechende Priorisierung der Freiheit ist der Neoliberalismus. Weil | |
die Freiheit hier reduziert wird auf die Freiheit als Marktteilnehmer. | |
Extreme Ungleichheiten gelten einfach als hinzunehmender Effekt einer | |
individuellen Freiheitsausübung in einem angeblich neutralen Wettbewerb. | |
Diese Position würde die Mehrheit der liberalen Philosoph*innen nicht | |
teilen, sondern sagen: Die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit muss | |
politisch so austariert werden, dass ein Mindestmaß an gleicher Freiheit | |
für alle gewährleistet ist, gerade auch, wenn es um soziale und ökonomische | |
Güter geht. [2][Liberale Freiheit] ist kein Gut für einige wenige, die sie | |
sich angeblich verdient haben, sondern wertvoll für alle, ohne Rücksicht | |
auf Verdienst, Leistung, Stand oder Herkommen. | |
Historisch gesehen mit blinden Flecken, ein bisschen wie die Aufklärung | |
insgesamt. | |
Das ist ein wichtiger Punkt. Die Geschichte des Liberalismus, die ich | |
selbst als Erfolgsgeschichte erzählen möchte, hat eine Schattenseite. Die | |
gleiche Freiheit für alle, das meinte bis ins 19. Jahrhundert nur die | |
Freiheit unabhängiger, wohlhabender, weißer, erwachsener Männer. | |
Und heute? | |
Heute müssen wir diese Schattenseiten ins Licht holen. Daher ist eine | |
Kritik des Liberalismus unumgänglich. Gerade auch, wenn man ihn verteidigen | |
möchte und sich fragt, ob und wie die normative Sprache der Gleichheit, | |
Freiheit und des Individualismus zu unserer globalen Gegenwart mit den | |
drastischen Herausforderungen und Ungerechtigkeiten passt. | |
20 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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