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# taz.de -- Skandalwahl in Thüringen: Nichts aus der Geschichte gelernt
> Die Thüringer Ministerpräsidentenwahl hat einen historischen Vorläufer.
> Versagen „bürgerliche“ Parteien wie in der Weimarer Republik?
Bild: Protest am Mittwochabend vor der Berliner Parteizentrale der FDP
Auch am Tag danach ist die Fassungslosigkeit nicht gewichen, das bodenlose
Entsetzen nicht verflogen. Die FDP und die CDU haben den Grundkonsens der
demokratischen Parteien in der Bundesrepublik aufgekündigt. Kein Fußbreit
den Faschisten? [1][Zumindest für ihre Ableger in Thüringen gilt das nicht
mehr.]
Wie skrupellos und geschichtsvergessen muss man sein, um so zu agieren wie
die Frei- und Christdemokraten in dem ostdeutschen Bundesland? „Endlich
eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat“, hat die FDP im
Landtagswahlkampf für ihren Spitzenkandidaten geworben. Falls das stimmt,
hat Thomas Kemmerich entweder das Falsche gelernt oder die falschen
Schlüsse aus dem Gelernten gezogen.
Der Tabubruch vom Mittwoch hat einen historischen Vorläufer. Schon einmal
war den „bürgerlichen“ Parteien in Thüringen ihr fanatischer Kampf gegen
alles Linke wichtiger als die Verteidigung demokratischer Grundwerte. Das
war 1924, zu Zeiten der kurzlebigen Weimarer Republik. Damals setzte der
Thüringer Ordnungsbund – ein Wahlbündnis, dem auch die beiden
FDP-Vorgängerparteien DVP und DDP angehörten – ebenfalls mit Erfolg auf
eine von völkischen Nationalisten und Nationalsozialisten mitgewählte
Minderheitsregierung, um der bis dahin amtierenden linken Koalition den
Garaus zu machen.
## „Bürgerliche“ Steigbügelhalter des Faschismus
Das war fatal: Damit machten sich die DVP und die DDP zu Wegbereitern des
deutschen Faschismus. Dass die NSDAP 1930 in Thüringen erstmals in
Deutschland an einer „bürgerlichen“ Landesregierung beteiligt wurde, war
eine logische Konsequenz. Das einst rote Thüringen hatte sich auf den Weg
zum „Mustergau“ gemacht. 1932 wurde die NSDAP zur stärksten Partei und
Gauleiter Fritz Sauckel übernahm die Regierungsgeschäfte – ein halbes Jahr
vor der Machtübernahme der Nazis in ganz Deutschland.
Nein, die Verhältnisse im heutigen Thüringen sind nicht mit denen in der
Weimarer Republik gleichzusetzen. Die Bundesrepublik befindet sich nicht am
Vorabend eines Vierten Reichs. Gleichwohl: Wenn der Freidemokrat Kemmerich
in Geschichte aufgepasst hätte, müsste er eigentlich wissen, was für fatale
Folgen sein unverantwortliches Handeln haben kann. Ist eine Brandmauer erst
einmal geschleift, gibt es bisweilen kein Halten mehr für die Flammen.
„Die FDP hat mit dem Feuer gespielt und damit Thüringen und das ganze Land
in Brand gesetzt“, [2][hat CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak die
Ministerpräsidentenwahl kommentiert]. Ein passendes Bild. Allerdings: Auch
seine Parteifreunde im Erfurter Landtag haben kräftig mitgezündelt. Und sie
zündeln weiter. Während die Union auf Bundesebene mit scharfen Worten das
gelb-schwarz-braune „Experiment“ geißelt, halten Landeschef Mike Mohring
und die Seinen noch unbeirrt an ihrem Irrweg fest.
Statt ihn zum sofortigen Rücktritt aufzufordern, hat die Thüringer CDU
Kemmerich ihrer weiteren Unterstützung versichert. Ihre am Mittwochabend
veröffentlichte Erklärung enthält einen unglaublichen Satz: „Über den
Einfluss der AfD auf die parlamentarische Arbeit entscheiden die LINKE, die
SPD und Bündnis 90/Die Grüne mit, indem sie sich konstruktiv an der
parlamentarischen Arbeit beteiligen.“ Das heißt übersetzt: Wenn ihr nicht
mitmacht, machen wir's eben mit den Faschisten. Das ist unfassbar.
Neuministerpräsident Kemmerich schwadroniert derweil davon, dass trotz
seiner Wahl mit AfD-Stimmen die Brandmauern zu den „Extremen“ sowohl auf
der Rechten als auch der Linken bestehen blieben. Das ist in gleich
doppelter Hinsicht eine skandalöse Aussage. Zum einen ist es einfach nur
infam, in totalitarismustheoretischer Manier die AfD Björn Höckes mit der
Linkspartei Bodo Ramelows gleichzusetzen. Wer Antidemokraten nicht von
Demokraten unterscheiden kann oder will, der disqualifiziert sich.
Schlimmer ist: Diese krude Totalitarismustheorie dient nur zur
Verschleierung einer völlig anderen Praxis, in der sich der Umgang mit
rechts und mit links sehr wohl unterscheidet. Die Thüringer AfD ist eine
zeitgenössische Variante des Nationalsozialismus. Während Kemmerichs
„Brandmauer“ gegenüber der demokratischen Linken unüberwindlich ist, ist
die Abgrenzung gegenüber der antidemokratischen Rechten nur rein
rhetorischer Natur.
Die von ihm behauptete Äquidistanz ist ein Täuschungsmanöver. Nicht nur
dass der FDP-Mann ein Ministerpräsident von Gnaden des Faschisten Höcke
ist, die beiden verbindet eine ganze Reihe inhaltlicher Schnittmengen – von
der Abwehr vermeintlicher Flüchtlingsströme über die Vorliebe zum Diesel
bis zum Kampf gegen die „Klimahysterie“. Was sie vor allem verbindet: Der
gemeinsame Feind steht links.
## Kein Mann der „demokratischen Mitte“
Anders als von ihm behauptet ist Kemmerich mitnichten ein „Angebot der
demokratischen Mitte“. Sonst hätte er sich nicht mit den Stimmen der AfD
zum Ministerpräsidenten wählen lassen können. Er wäre für die AfD nicht
wählbar gewesen. Dass er die Wahl angenommen hat, zeigt seine innere
Verwandschaft. Kemmerich ist einer jener Parteifunktionäre, die für eine
Renaissance jener längst verdrängten stramm nationalliberalen Zeiten der
FDP vor der soziallberalen Wende Ende der 1960 Jahre stehen – und das
bedeutet: ideologisch weit offen nach rechts.
Die Differenz zwischen nationalliberal und nationalsozialistisch kann
kleiner sein, als viele wahrhaben wollen. Auch das lehrt die Geschichte.
Für die Weimarer Republik galt: Wenn es darauf ankam, war auf die
„bürgerlichen“ Parteien kein Verlass. Gilt das inzwischen wieder? Das
werden die kommenden Wochen zeigen.
Es gibt keine Alternative zu Neuwahlen. Kemmerich muss umgehend den Weg
dafür frei machen. Will die FDP ihren Platz im demokratischen
Parteienspektrum behalten, steht sie in der Verantwortung, dafür zu sorgen.
Und dann haben die Thüringer Bürgerinnen und Bürger das Wort. Seit Mittwoch
wissen sie: Wer die AfD verhindern will, muss jetzt auch gegen die FDP und
die CDU stimmen. In Thüringen sind diese beiden Parteien ohne grundlegende
personelle Erneuerung für Antifaschisten nicht mehr wählbar.
Vielleicht trifft für Thüringen das Bonmot von Karl Marx zu, dass sich
Geschichte bisweilen zweimal ereignet: das eine Mal als Tragödie, das
andere Mal als Farce. Und hoffentlich bleibt die Farce der Herren
Kemmerich, Mohring und Höcke eine kurzlebige Episode.
Das Einzige, was davon bleiben sollte, ist die Erinnerung an die starke
Geste der Linksfraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow, die Kemmerich nach
seiner Wahl einen Blumenstrauß als „Gratulation“ vor die Füße geworfen h…
Sich nach einem derart unerträglichen Ereignis ans Protokoll zu halten, sei
nicht angemessen, erklärte sie danach. So ist es.
6 Feb 2020
## LINKS
[1] /FDP-stellt-Thueringer-Ministerpraesident/!5658263
[2] /Thueringens-neuer-Ministerpraesident/!5662136
## AUTOREN
Pascal Beucker
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