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# taz.de -- Antakya nach dem Erdbeben: Keine Kirche, nur noch Trümmer
> Antakya ist eine erdbebenverheerte Stadt, die viele Kulturen und
> Religionen vereint. Sie gehört erst seit 1938 zur Türkei. Ein Rundgang.
Bild: Die Trümmer einer griechisch-orthodoxen Kirche in Antakya nach dem Erd…
Es war eine traurige Versammlung inmitten einer zerstörten Stadt. Vor den
Trümmern ihrer jahrhundertealten Kirche hatten Gläubige der
griechisch-orthodoxen Gemeinde von Antakya ein Zelt aufgebaut, um unter der
Plane vor einem provisorischen Altar Ostern zu feiern. „Im Andenken an die
Tausenden Menschen, die bei dem furchtbaren Erdbeben am 6. Februar hier ihr
Leben gelassen haben und das auch unsere Kirche zerstört hat, haben wir in
diesem Jahr nur unsere Rituale durchgeführt“, sagte das Gemeindemitglied
Ibrahim Cilingir einem Reporter von Anadolu Ajansi. „Es gab kein Fest und
keine Festtagsstimmung.“
Es waren noch knapp 100 Gläubige aus der gesamten Region, die sich zum
orthodoxen Ostern am 16. April in den Trümmern von Antakya eingefunden
hatten. Viele Gemeindemitglieder wurden während des Erdbebens getötet,
viele Überlebende haben die Region verlassen. Niemand weiß, wie es mit der
Gemeinde und mit der Stadt Antakya insgesamt weitergehen soll. Die
Zerstörung ist so umfassend – mehr als 90 Prozent aller Gebäude im Zentrum
sind zerstört oder unbewohnbar –, dass die meisten Überlebenden Antakya
fluchtartig verlassen haben und nur wenige in einer Zelt- und
Containersiedlung am Rande der Ruinenfelder geblieben sind. Von allen Orten
in der südöstlichen Türkei und Nordsyrien hat das Jahrhundertbeben im
Februar Antakya am schwersten getroffen. Die Stadt existiert praktisch
nicht mehr.
In ihrer langen Geschichte hat die Stadt, die direkt auf der Verwerfung
liegt, an der sich die eurasische mit der arabischen Erdplatte reibt, schon
etliche verheerende Beben erlebt, wurde aber angesichts ihrer überragenden
Bedeutung immer wieder aufgebaut. Ob Antakya, eine der ältesten Städte der
Türkei, sich auch nach dem verheerenden Beben vom Februar jemals wieder
erholen wird, ist allerdings fraglich. Der besondere Geist der Stadt wird
wohl für immer verloren sein.
Zwar hatte die einstige griechische, dann römische und zuletzt
byzantinische Metropole am östlichen Mittelmeer schon lange ihre frühere
Strahlkraft verloren, doch auch als Provinzhauptstadt von Hatay war sie im
syrisch-türkischen Grenzgebiet noch von großer Bedeutung und unterschied
sich in ihrer [1][Bevölkerungszusammensetzung bis zuletzt von allen anderen
Städte]n der modernen Türkei. Das liegt an ihrer jüngeren Geschichte, aber
auch im Andenken einstiger Größe, als Antakya noch Antiochia am Orontes
war.
## Erst nach 1938 Teil der Türkei
Die Stadt und die gesamte Provinz Hatay wurden erst 1938 nach einer
Volksabstimmung Teil der modernen Türkei. Davor gehörte sie seit der
Auflösung des Osmanischen Reichs in der Folge des verlorenen Ersten
Weltkriegs zum französischen Mandatsgebiet Syrien.
Antakya war deshalb auch schon vor der Migration der vielen Geflüchteten
aus Syrien seit Kriegsbeginn 2011 von einem hohen Anteil arabisch-stämmiger
Einwohner geprägt, und neben dem ethnischen Mix auch von einer großen
religiösen Vielfalt. Außer den griechisch-orthodoxen Christen lebten hier
Vertreter der syrisch-orthodoxen oder aramäischen Kirche, einige Armenier
und selbst noch eine kleine jüdische Gemeinde.
Als wir aber zwei Monate nach dem Beben kurz vor Ostern die Trümmer der
Stadt besuchten, war alles weg: Die berühmte Habbib-i-Neccar-Moschee, die
erste in Anatolien gebaute Moschee überhaupt, ist zerstört. Die Synagoge
ist verschwunden und auch die Kirchen sind zusammengebrochen. Mit einer
Ausnahme, die allerdings von überragender geschichtlicher Bedeutung ist. Am
Rande der jetzt völlig zerstörten Altstadt, in einem Berghang über der
Stadt liegt eine Grotte mit einer davor gebauten Kirche, die das Beben
überstanden hat.
In dieser Grotte nahe dem Zentrum der damaligen römischen Weltstadt
Antiochia soll Petrus, der bekannteste Anhänger des Wanderpredigers Jesus
von Nazareth, die erste Gemeinde von „Christen“ außerhalb Jerusalems
gegründet haben. Sie waren jedenfalls die ersten, die sich Christen nannten
und ihr berühmtester Prophet war Paulus, derjenige, der angeblich durch
eine Erscheinung von [2][Saulus zu Paulus geworden war]. Bis dahin waren
die Anhänger des gekreuzigten Wanderpredigers Jesus nicht mehr als eine der
vielen jüdischen Sekten, die damals die in Jerusalem herrschende Theokratie
kritisierten.
Erst als Paulus gegenüber den Sektenführern in Jerusalem durchsetzte, dass
auch Nichtjuden im hellenistischen Antiochia zum Christentum bekehrt werden
durften, ohne dass diese zuvor durch eine Beschneidung zu Juden werden
mussten, war der Grundstein dafür gelegt, dass aus einer jüdischen Sekte
eine Weltreligion werden konnte. Deshalb müsste der Petersdom eigentlich in
Antiochia/Antakya stehen, denn hier hat der christliche Gott seine Kirche
gegründet. Der Vatikan hat das immerhin so weit anerkannt, dass er die
Petrusgrotte von Antakya zum Wallfahrtsort erklärt hat.
## Das Antiochia des Paulus'
Als Paulus in den 50er Jahren des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung
von Samandag, dem Hafen von Antiochia, zu seinen Missionsreisen aufbrach,
war dieses Antiochia eine der größten Städte des Römischen Reichs und neben
Alexandria das Zentrum am östlichen Mittelmeer. Und wie Alexandria ging
auch Antiochia quasi direkt auf Alexander, den griechischen Eroberer des
persischen Weltreiches, zurück. Denn hier bei Antakya, auf der Amuq-Ebene
bei dem damaligen Ort Issos, traf das griechische Heer 333 v. u. Z. auf die
persische Streitmacht des Großkönigs Darios II. und veränderte mit ihrem
Sieg die politische Geografie des östlichen Mittelmeeres grundlegend.
Das östliche Mittelmeer wurde zu einem griechisch-hellenistischen
Binnenmeer und Antiochia war eines ihrer Zentren. Sie wurde zur Hauptstadt
der Seleukiden, einer der Nachfolgedynastien Alexanders, und blieb auch
später, nach dem römischen Vormarsch bis nach Mesopotamien, eine der
wichtigsten Städte des Römischen Reiches.
Besichtigen konnte man – und wird man demnächst zum Glück auch wieder
können – diese historische Hinterlassenschaft im Archäologischen Museum von
Antakya. Es scheint wie eine „göttliche Fügung“, dass in Sichtweite der
Petrus-Grotte 2014 ein neues großes Archäologisches Museum gebaut worden
ist, das als eines der ganz wenigen Gebäude der Stadt das Beben nahezu
unbeschadet überstanden hat. Während der erst kürzlich ausgeräumte Altbau
des Museums im Zentrum der Stadt wie das angrenzende ehemalige
Parlamentsgebäude schwer beschädigt wurde, ist der moderne Glasstahlbau
nahezu unversehrt.
Antiochia hatte damals eine stattliche Anzahl reicher römischer Bürger,
römische Kaiser nahmen in der Stadt zeitweilig ihre Residenz, und aus den
Überresten ihrer Villen haben Archäologen mit die schönsten römischen
Fußbodenmosaiken ausgegraben, die man heute besichtigen kann. Das Museum in
Antakya rühmt sich jedenfalls, die weltweit größte Sammlung römischer
Mosaikfußböden überhaupt zu besitzen. Dem Neubau vor wenigen Jahren
verdanken wir es, dass dieses Erbe auch zukünftigen Generationen noch
zugänglich sein wird. Noch sind alle Objekte im Museum mit Dämmmaterial wie
Sandsäcken und anderem geschützt und kleinere bewegliche Artefakte in
andere Museen evakuiert worden, doch in absehbarer Zeit wird das Museum
wieder öffnen können.
Ein anderes kulturelles Kleinod in der Umgebung von Antakya ist dagegen
durch das Beben in seiner Existenz bedroht. Nur wenige Kilometer von
Antakya entfernt liegt am Fuße des Musa Dag, dem Moses-Berg, das Dorf
Vakifli. Vakifli ist durch den Weltbestseller „Die vierzig Tage des Musa
Dagh“ von [3][Franz Werfel bekannt geworden], in dem der Schriftsteller den
Widerstand von fünf Dörfern am Musa Dag gegen ihre drohende Deportation und
Vernichtung während des [4][Völkermordes an den Armeniern] im Osmanischen
Reich schildert. Das Buch ist zwar ein Roman, doch es basiert auf
historischen Gegebenheiten, und eines der fünf Dörfer, über die Werfel
geschrieben hat, ist Vakifli.
## Das letzte armenische Dorf der Türkei
Bis heute wird Vakifli von ArmenierInnen bewohnt. Es gilt als das letzte
armenische Dorf der Türkei. „Durch das Beben ist unsere Kirche schwer
beschädigt worden“, erzählt Dorfvorsteher Misak Ergen und führt uns bei
einem Rundgang durch das Dorf auch zur Kirche. Man kann das Gebäude nicht
mehr betreten, auch von außen sind große Risse erkennbar. Doch nicht nur
die Kirche, auch viele Häuser wurden beschädigt, einige sind nicht mehr
bewohnbar.
Die Einwohner von Vakifli treffen sich abends in einem Gemeinschaftsraum,
den die Dorfbewohner vor einigen Jahren gebaut haben, um auswärtige
Besucher empfangen zu können. Dieser Leichtbau ist unbeschädigt und einige
Dorfbewohner übernachten jetzt hier, weil sie nicht mehr in ihre Häuser
können. Ergen hat Angst, dass sie jetzt wie so viele vor ihnen nach
Istanbul gehen und das Dorf aufgeben.
Er hofft, dass die Häuser mit der Hilfe der armenischen Gemeinde in
Istanbul wieder repariert oder neu aufgebaut werden können. „Vakifli sollte
ein armenisches Dorf bleiben“, sagt Ergen. „Es ist das letzte Zeichen
armenischen Lebens hier in dieser Gegend, wo einmal so viele Armenier
gelebt haben.“ Niemand weiß, wie es mit der Gemeinde und mit der Stadt
Antakya insgesamt weitergehen soll.
2 May 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
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