# taz.de -- Ostern und die positive Fehlerkultur: Sorry sagen reicht nicht mehr | |
> Fehler zugeben und hoffen, damit durchzukommen, trendet unter | |
> Politiker*innen. Doch gerade an Ostern gilt: Keine Beichte ist umsonst. | |
> Vergebung kostet. | |
Bild: „Niemand tut Gutes, nicht eine Einzige, nicht ein Einziger“, so der f… | |
Es ist nicht besonders wahrscheinlich, dass die Grüne Annalena Baerbock an | |
Ostern dachte, als sie für ihr Buch die „positive Fehlerkultur“ be- (und | |
ab-) schrieb. Und auch die auf Druck zurückgetretene Familienministerin | |
Anne Spiegel und der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dürften nicht | |
an Urbi et Orbi und die Generalabsolution der Sünden im Sinne des Apostels | |
Paulus gedacht haben, als sie jüngst öffentlich Fehler einräumten. Die | |
deutsche Politik und ihre positive Fehlerkultur erleben allerdings trotzdem | |
gerade so etwas wie ihre ganz persönlichen Karwochen. | |
Mit ihren öffentlichen Entschuldigungen und der damit verbundenen Hoffnung | |
auf Vergebung stehen deutsche Politiker knietief im christlichen | |
Schlamassel. Denn so wertvoll die Idee von der Vergebung der Sünden auch | |
ist, so ganz umsonst und kostenlos ist auch im christlichen Glauben keine | |
Entschuldigung zu haben. | |
Nur „Sorry“ sagen, dafür dann auch noch Lob erwarten und selber sonst | |
nichts weiter tun – das ist sogar für den liberalsten Beichtpriester keine | |
Option. Irgendeinen Preis muss man für seine Fehltritte schon zahlen, | |
vorher ist an die Wiederherstellung der Reputation nicht zu denken. Und ob | |
diese überhaupt möglich ist, entscheidet man darüber hinaus keinesfalls | |
selbst: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren | |
Schuldigern“, heißt es bekanntlich im Vaterunser. | |
Dass die Idee der Gnade überhaupt in die Welt kam, das feiern Christen an | |
Ostern. Denn Ostern ist das Fest der Zeitenwende schlechthin. Der | |
Zeitenwende hin zu einer positiven Fehlerkultur. Und das lange bevor | |
Bundeskanzler Scholz den Begriff in die Welt getönt hat. | |
Nicht nur kann man diese historische Zeitenwende schon am Namenswechsel des | |
wichtigsten Ideologen des Christentums ablesen: von Saulus zu Paulus. Bis | |
heute werden wir sogar buchstäblich und ständig an die Zeit, die sich | |
gewendet hat, erinnert: seit Jesu Gottesbeweis (Auferstehung von den Toten) | |
teilen wir unsere Zeit in v. Chr. und n. Chr. Paulus läutete die | |
Zeitenwende programmatisch mit nichts weniger als der Neubewertung von | |
Sünde und Schuld, von Fehler und Verantwortung ein: Das Zeitalter des | |
(jüdischen) Gesetzes galt von nun an als beendet und das Zeitalter der | |
Gnade als angebrochen. | |
Mit der österlichen Auferstehungsgeschichte kam nun also die Idee in die | |
Welt, dass Irren menschlich und – so der neue Aspekt – entschuldbar sei. | |
Seit Jesu Tod gilt der menschliche Fehltritt als nicht mehr so schlimm wie | |
vorher. Ein gesellschaftliches Krisenmanagement betrat die Weltbühne, ohne | |
das ein zivilisiertes Auskommen bis heute undenkbar ist: die Gnade. | |
Für diese philosophiehistorisch, moral- und zivilisationstheoretisch alles | |
umkrempelnde Idee legte der selbsternannte Apostel Paulus, der Führer des | |
linksradikalen Fundiflügels unter den Anhängern Jesu, mit seiner | |
programmatischen Schrift „Brief an die Römer“ den Grundstein. Der Mensch | |
sei als Sünder in die Welt gekommen (Vertreibung aus dem Paradies) und | |
deswegen könne er für seine Fehler nicht vollumfänglich zur Verantwortung | |
gezogen werden. Selbst wenn er sich jeden Tag streng an alle Gesetze halten | |
können würde, wie es die jüdische Orthodoxie verlange, helfe das am Ende | |
nichts: „Niemand tut Gutes, nicht eine Einzige, nicht ein Einziger“, so der | |
früh gendernde Paulus in Röm 3,10. | |
## Laster, Sünden, Fehltritte und Fettnäpfe: Alles chico | |
Für jeden Sterblichen und jede Sterbliche sei mit dem Ostereignis aber nun | |
eine „neue Zeit“ angebrochen. Gott sei nicht mehr alttestamentarisch | |
zornig, sondern ziemlich guter Dinge und verzeihe fast jedem so gut wie | |
fast alle Laster, Sünden, Fehltritte und Fettnäpfe. Mit anderen Worten galt | |
seit Jesu Tod: alles chico. | |
Eine Einschränkung: Bis zur vollständigen Himmelreichwerdung auf Erden, die | |
mit der Wiederkehr Jesu (Parusie genannt) erwartet werde, sei es noch ein | |
bisschen hin. In dieser Übergangszeit – die sogenannte Parusieverzögerung, | |
also die Verspätung Jesu bei seiner Rückkehr zur Erde, die sich bis heute | |
zieht – müsse man zunächst noch in einem Provisorium leben. Vorläufig sei | |
die göttliche Gnade noch an eine Bedingung geknüpft: die Sünden glaubhaft | |
bereuen. Um der Glaubwürdigkeit Nachdruck zu verleihen, sei ein Preis zu | |
zahlen: 10 bis 100 Ave Marias, Pilgerreisen, Almosen, Härtetests, diesdas. | |
Die positive Fehlerkultur aber hat hierzulande mittlerweile dazu geführt, | |
dass Politiker und Politikerinnen zur Steigerung von Beliebtheitswerten | |
Fehler gestehen, auf dass alle in Verzückung geraten vor lauter Ehrlichkeit | |
und darüber vergessen nachzufragen, was daraus genau jetzt folgt. So | |
ungefähr muss sich das die Familienministerin Anne Spiegel gedacht haben, | |
als sie am Palmsonntag um Entschuldigung für ihr Fehlverhalten bat, ohne | |
allerdings die Fehler einzusehen, dafür aber eine Rechtfertigung | |
vorbrachte, die auf mildernde Umstände plädierte. | |
Sie kam damit nicht durch. Sie gab zwar Fehler zu, schob die Verantwortung | |
dafür aber dem eigenen Ehemann in die Schuhe. Selbst der korrupteste | |
Priester hätte ihr diese Beichte nicht abgenommen. | |
In Deutschland hatte man sich lange schwergetan, Fehler einzugestehen. Die | |
ganze Welt musste die Landsleute bereits zwei Mal mit aller Gewalt dazu | |
zwingen, ihren Irrweg aufzugeben, und sogar einen eigenen Straftatbestand | |
(Verbrechen gegen die Menschheit) einführen, damit nie wieder vergessen | |
werden sollte, was sie getan hatten. | |
Doch spätestens mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker | |
zum 40. Jahrestag der Niederlage der nationalsozialistischen Deutschen am | |
8. Mai 1985 war die Zeitenwende eingeleitet: Fehler zugeben könnte sich | |
künftig deutlich besser auszahlen, als sie abzustreiten. Jedenfalls dann, | |
wenn man wieder wer sein will in der Welt. Wer Fehler eingesteht, darf | |
weitermachen. | |
Und wer noch ein paar mehr Fehler eingesteht, darf sogar wieder | |
Führungsrollen beanspruchen. Es funktionierte. Deutschland wurde zum | |
Aufarbeitungsweltmeister, zum Großmeister des Sorrysagens und erspielte | |
sich mit dem Bekenntnis zu historischer Verantwortung und Beladenheit die | |
Wiederherstellung von Vertrauen, wurde führende Industrie- und Moralnation. | |
Die „Wiedergutwerdung der Deutschen“ nannte das der Essayist Eike Geisel | |
und meinte es polemisch. | |
Doch die Nummer zieht nicht mehr. Für ihre Entschuldigung, „wegen unserer | |
historischen Verantwortung“ keine Waffen an die Ukraine liefern zu können, | |
stieß Annalena Baerbock kurz vor Kriegsbeginn auf große Empörung. Nicht nur | |
der Rückgriff auf deutsche Geschichte, sondern auch der Rückgriff auf die | |
„positive Fehlerkultur“ stößt mit dem Krieg in der Ukraine an Grenzen. | |
Dass nicht nur in Osteuropa und nicht mal mehr hinter vorgehaltener Hand | |
über die Fehler und die Frage nach der Verantwortung deutscher Politiker am | |
Angriffskrieg Putins debattiert wird, scheint Olaf Scholz nicht zu | |
beunruhigen. Er ist nur „irritiert“, dass der ukrainische Präsident den | |
Bundespräsidenten angeblich nicht sehen wollte. Dabei habe Steinmeier den | |
Krieg doch verurteilt. | |
Nachvollziehbar jedenfalls wäre es, würde die Ukraine einem deutschen | |
Politiker, über dessen Rolle im deutsch-putinistischen Verhältnis noch | |
lange nicht das letzte Urteil gesprochen ist, eine kostenlose | |
Wiedergutwerdung verweigern. | |
Die natürlichen Grenzen der positiven Fehlerkultur würden wohl jedem klar, | |
der sich fragt, was passieren würde, wenn Putin den Krieg beendet und sagt: | |
„Sorry, Leute, großer Fehler. Hätte das nicht machen sollen. War schlecht. | |
Aber meine Geheimdienstchefs haben mich belogen. Ihr versteht das, oder? | |
Lasst ma’ wieder Freunde sein, ich füll euch auch die Gasspeicher drei Mal | |
gratis auf.“ | |
Selbst der SPD dürfte schwerfallen, ihm das durchgehen zu lassen. Obwohl: | |
Wenn man sich anguckt, was diese Partei gerade veranstaltet, um die | |
Verantwortung von sich abzulenken, traut man ihr auch das zu. | |
Steinmeier hat zwar Fehler „eingeräumt“, aber wenn positive Fehlerkultur | |
nicht reines Make-Up bleiben soll, muss noch was kommen. Zwar kann sich | |
jeder am Ostersonntag per Livestream vom Papst die Generalabsolution | |
erteilen lassen. Für Sünden, die über ein vergessenes Abendgebet und ein | |
paar Zweifel an Gott hinausgehen, muss man sich trotzdem noch vor | |
weltlichen Institutionen verantworten und einen Preis zahlen. | |
Hätte der auf Vergebung hoffende Bundespräsident Steinmeier nicht düpiert | |
auf die vermeintliche Ausladung Selenskis reagiert, sondern aus seiner | |
Hosentasche einen Zettel gezogen, auf dem die Verladung all der Waffen, die | |
die Ukraine von Deutschland erbittet, ins Zustellfahrzeug bestätigt und das | |
anvisierte Zeitfenster für die Zusendung eingetragen und vom Kanzler | |
unterschrieben gewesen wäre, und darüber hinaus noch die Einrichtung einer | |
Aufarbeitungskommission zur Frage der Verantwortung deutscher Politiker und | |
Politikerinnen für den Angriffskrieg Putins bestätigt – jeder | |
Beichtpriester hätte sagen müssen: „Frank-Walter, der Herr hat dir deine | |
Sünden vergeben. Geh hin in Frieden.“ | |
16 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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