| # taz.de -- Flucht über das Mittelmeer: Unterlassene Hilfeleistung | |
| > Seit Beginn des Jahres sind 600 Menschen bei dem Versuch gestorben, das | |
| > Mittelmeer zu überqueren. Die UN-Hilfsorganisation ruft zu Solidarität | |
| > auf. | |
| Bild: Lebensgefährliches Unterfangen: Flüchtende aus Libyen im Mittelmeer | |
| Berlin taz | Vor dem Amtsantritt Ende Oktober hatte Italiens rechtsextreme | |
| Regierung um [1][Ministerpräsidentin Giorgia Meloni] vieles versprochen. | |
| Das Wichtigste: Keine Flüchtlinge mehr – zur Not mit einer „Seeblockade“. | |
| Es kam allerdings anders: In dem halben Jahr seit Melonis Amtsantritt sind | |
| mehr Flüchtlinge angekommen als in jedem Halbjahr der fünf Jahre zuvor. | |
| Rund 55.000 waren es, davon rund 35.000 seit Jahresbeginn. Die Regierung | |
| ist rechts wie nie, die Zahl der Flüchtlinge aber ungebrochen hoch. | |
| Die „unkontrollierte Einwanderung“ drohe zu „explodieren“, sagte der | |
| Senator der postfaschistischen Meloni-Partei Fratelli d’Italia, Paolo | |
| Marcheschi. Wer sich gegen die Maßnahmen der Regierung stelle, stelle sich | |
| „auf die Seite der Schleuser“. | |
| Zu den Maßnahmen gehört unter anderem ein nochmals verschärftes Vorgehen | |
| gegen die Seenotretter. Schon im Februar hatte Melonis Regierung ein Dekret | |
| verabschiedet, das Rettungsschiffe unter anderem zwingt, nicht den nächsten | |
| sicheren Hafen etwa auf Sizilien anzulaufen – sondern den, den die | |
| Regierung ihr zuweist. Und die schickt vor allem die größeren Schiffe in | |
| weit im Norden liegende Hafenstädte: Um sie so gezielt aus dem | |
| Einsatzgebiet fernzuhalten, davon sind die NGOs überzeugt. | |
| Bereits im Februar mussten etwa die Schiffe Geo Barents und Ocean Viking | |
| nach Rettungsaktionen vor Libyen bis nach Ancona in Norditalien fahren. | |
| Dort wurde die Geo Barents zwei Wochen festgehalten. Im März setzte Italien | |
| dann das private Rettungsschiff Louise Michel fest. | |
| „Das neue Gesetz behindert die Rettungsbemühungen auf See und wird zu | |
| weiteren Todesfällen führen“, sagt ein Sprecher von Ärzte ohne Grenzen der | |
| taz. „Es reduziert die Rettungskapazitäten auf See und macht damit das | |
| zentrale Mittelmeer – eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt – noch | |
| gefährlicher.“ | |
| Den Schiffen unnötig weit entfernt liegende Häfen zuzuweisen, sei „zur | |
| gängigen Praxis“ geworden, sagt Wasil Schausel von der NGO SOS Humanity der | |
| taz. Die lange Navigation halte die Rettungsflotte aus dem Einsatzgebiet | |
| fern. Zudem müssten die Schiffe mit den Geretteten teils sehr lange Wege | |
| zurücklegen. „Je nach Lage und Gesundheitszustand an Bord sowie Wetter kann | |
| das sehr kritisch sein.“ | |
| Seit Beginn des Jahres sind 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken, es ist | |
| der höchste Wert seit 2017. „Selbst uns, die seit fast acht Jahren zivile | |
| Seenotrettung im Mittelmeer betreiben, lassen die letzten Wochen | |
| fassungslos zurück“, heißt es in einer Erklärung der NGO Sea Watch. | |
| Neben dem Fernhalten der privaten Retter ist für die gestiegene Zahl der | |
| Toten auch unmittelbar unterlassene Hilfeleistung verantwortlich. Darauf | |
| weist die UN-Migrationsorganisation IOM hin. Mindestens 127 Personen sind | |
| laut der IOM in diesem Jahr ertrunken, weil staatlich geleitete | |
| Rettungsaktionen verzögert wurden. „Das völlige Ausbleiben einer Reaktion | |
| (…) forderte das Leben von mindestens 73 Migranten.“ Die NGO-Einsätze seien | |
| „deutlich reduziert,“ so die IOM. | |
| Die Lage im Mittelmeer sei „unerträglich“, sagte der Generaldirektor der | |
| IOM, António Vitorino. Er befürchte, dass sich die Todesfälle | |
| „normalisiert“ hätten. Dabei sei die Rettung von Menschenleben auf See eine | |
| „Verpflichtung für die Staaten“, so Vitorino. Statt Verschleppung brauche | |
| es „proaktive“ Such- und Rettungsmaßnahmen unter staatlicher Führung. „… | |
| Geiste der geteilten Verantwortung und der Solidarität rufen wir die | |
| Staaten auf, zusammenzuarbeiten.“ | |
| Doch genau daran fehlt es: an geteilter Verantwortung. Italiens Regierung | |
| hat den Notstand ausgerufen und wartet darauf, dass die EU „strukturell | |
| eingreift“, wie es bei der Regierungspartei Fratelli d’Italia heißt. | |
| Der Chef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, der seit Kurzem | |
| auffällige Signale der Annäherung an die rechtsextreme Giorgia Meloni | |
| sendet, rief unterdessen die EU-Staaten zu stärkerer Solidarität mit | |
| Italien auf: „Wir stehen vor einer weiteren großen Migrationskrise in | |
| Europa. Deshalb unterstützt die EVP die italienische Regierung voll und | |
| ganz dabei, diesem Thema auf europäischer Ebene Priorität einzuräumen.“ | |
| Eigentlich hatten die anderen EU-Staaten – einmal mehr – versprochen, | |
| Italien tatsächlich unter die Arme zu greifen. Seit Langem stocken alle | |
| Bemühungen um einen festen Verteilmechanismus, vor allem weil die Staaten | |
| Osteuropas und Österreich dagegen sind. Ersatzweise hatte eine Gruppe von | |
| Staaten einen freiwilligen Verteilmechanismus beschlossen: Vom Sommer 2022 | |
| bis Sommer 2023 sollten darüber insgesamt 12.000 Menschen aus den | |
| Außengrenzen-Staaten für ein Asylverfahren in andere EU-Staaten ausreisen | |
| dürfen, davon 8.000 aus Italien – ein Tropfen auf den heißen Stein. | |
| Deutschland sagte zu, ein Viertel dieses Kontingents aufzunehmen. | |
| Eine dem aktuellen Solidaritätsmechanismus vergleichbare Regelung – das so | |
| genannte Malta-Protokoll – hatte Ex-Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018 | |
| ausgehandelt. Die Ampel hatte sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, dies | |
| „weiterzuentwickeln“. | |
| Doch damals wie heute kommt Deutschland seinen Aufnahmezusagen praktisch | |
| nicht nach: Bis Ende März 2023 sind nach Angaben des | |
| Bundesinnenministeriums über den aktuellen Solidaritätsmechanismus 520 | |
| Menschen nach Deutschland gekommen, davon 427 aus Italien und 93 aus | |
| Zypern. Und bis zum Ende der angekündigten Laufzeit sind es nur noch zwei | |
| Monate. | |
| „In Italien kommen momentan täglich Hunderte Schutzsuchende an. Die in | |
| Aussicht gestellte Übernahme von 8.000 Menschen durch andere | |
| Mitgliedstaaten war deshalb von Anfang an absolut unzureichend“, sagt die | |
| Linken-Abgeordnete Clara Bünger. EVP-Chef Weber schlug indes einen | |
| Migrationspakt mit Tunesien vor. Man könne sich an dem Türkei-Abkommen von | |
| 2016 orientieren, sagte er. Tunesien allerdings ist daran nicht | |
| interessiert. | |
| [2][Tunesien ist indes auf der Migrationsroute immer wichtiger geworden]. | |
| Während 2022 noch ein gutes Drittel der in Italien Angekommenen über | |
| Tunesien gereist waren, sind es in diesem Jahr über die Hälfte. Das Land | |
| hatte lange irreguläre Bootsabfahrten verhindert, war von dieser Praxis | |
| aber zuletzt immer weiter abgerückt. Zurückgegangen ist allerdings der | |
| Anteil der Tunesier:innen unter den Ankommenden: Sie machten 2022 noch | |
| jede:n Fünfte:n aus, in diesem Jahr sind es bisher nur rund 8 Prozent. | |
| 18 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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