| # taz.de -- Buch über die Zustände für Geflüchtete: Der Ort, den es nicht g… | |
| > Franziska Grillmeier hat ein erschütterndes Buch über unmenschlichen | |
| > Zustände vorgelegt. Es handelt von den Geflüchteten an den Rändern | |
| > Europas. | |
| Bild: Ein Junge wärmt in Moria seine Füße an einem Ofen für Brot | |
| Franziska Grillmeier tat, was die wenigsten Journalisten tun, die über das | |
| Flüchtlingselend auf den Ägäisinseln berichten: Sie zog 2018 dorthin – und | |
| blieb. | |
| Was sie auf Lesvos, das einst als Urlaubsziel und heute als Schandfleck der | |
| EU-Asylpolitik bekannt ist, beobachtete, hat sie nun in ihrem Buch „Die | |
| Insel“ beschrieben. Es ist die Geschichte eines atemberaubenden moralischen | |
| Verfalls, der Entrechtung Ankommender zum Normalzustand werden ließ. Und | |
| Grillmeier lotet, ausgehend von ihren Beobachtungen in der Ägäis, auch | |
| andere, ähnliche Orte aus – etwa in Polen oder Bosnien. | |
| Der Verlag ist stolz darauf, dass es vor allem die Geflüchteten selbst | |
| sind, die in dem Buch zu Wort kommen. Grillmeier zeichnet die | |
| Überlebensstrategien der auf Lesvos Gestrandeten nach, ihren Kampf um | |
| Würde, gegen die Verzweiflung, für eine Zukunft. | |
| Grillmeier ist bei ihnen, im Alltag, der schlimm genug ist, während der | |
| quälend langen Asylwartezeit, der ewigen Corona-Lagerlockdowns, und sie ist | |
| da, wenn die Katastrophen über sie hereinbrechen, wie die immer | |
| wiederkehrenden Feuer. Sie beschreibt Panikattacken, Selbstverbrennungen – | |
| und die Siege: Wenn eine Weiterreise an einen sicheren Ort für manche doch | |
| möglich wird. | |
| ## Den einzelnen Menschen gerecht werden | |
| Die dabei Porträtierten zeichnet sie stets sehr freundlich: Die Augen | |
| „leuchten“, das Lachen „herzlich“, die Bewegungen wie ein „Panther“… | |
| Salat „knackig und frisch“. Wer Vertrauen gewinnt, will dies kaum | |
| enttäuschen. Doch gleichzeitig ist es eben nur so möglich, eine Perspektive | |
| einzunehmen, die Menschen in ihrer Subjekthaftigkeit ernsthaft gerecht zu | |
| werden versucht: durch Nähe und Zeit. So gelingt es Grillmeier auch, die | |
| Repression gegen die Helfer:innen – etwa die angeklagten Retter Sara | |
| Mardini und Sean Binder – aus einer Innenperspektive so plastisch zu | |
| schildern, wie es nirgendwo sonst zu lesen war. | |
| Grillmeier berichtet von ihren zwischenzeitlichen Schwierigkeiten, | |
| Redaktionen zu finden, die ihr Texte über Moria abnehmen. Vielen sei die | |
| Geschichte „auserzählt“ erschienen, schreibt sie. Dabei sei zu jener Zeit | |
| der „systematische Abbau des Rechts in vollem Gange“ gewesen. | |
| Tatsächlich ist die Aufmerksamkeit von Medien und Zivilgesellschaft für | |
| [1][die Lage in Moria] und an den Außengrenzen insgesamt im Vergleich zu | |
| früheren Phasen der Abschottung hoch geblieben. Die Jahre davor waren | |
| keineswegs durch weniger Entrechtung bestimmt – Grillmeier selbst spricht | |
| das verliesartige, 2012 geschlossenene Moria-Vorgängerlager Pagani auf | |
| Lesbos an. | |
| Doch damals schaute niemand hin, heute wissen alle Bescheid – auch wenn | |
| dies nicht unbedingt heißt, dass sich die Dinge ändern. Das gewachsene | |
| Bewusstsein aber ist genau das Verdienst von Menschen wie Grillmeier, die | |
| mit ihrer Arbeit die Aufmerksamkeit wachhalten. Bis heute. Unter anderem | |
| mit ihrem Buch. | |
| ## Europäische Abschreckung | |
| Zu widersprechen ist Grillmeier in ihrer Tendenz, die Geschichte so recht | |
| erst 2016 mit dem EU-Türkei-Deal beginnen zu lassen. Tatsächlich war Moria | |
| in seiner Beschaffenheit – wer es von innen sah, fühlte sich von Beginn an | |
| [2][an Guantánamo erinnert,] und das kam nicht von ungefähr – schon seit | |
| der Eröffnung 2013 ein „Baustein der europäischen | |
| Abschreckungsarchitektur“, wie es in dem Buch heißt, und wurde nicht erst | |
| 2016 dazu. | |
| Das Lager, so schreibt Grillmeier treffend, sei „eine Bühne von | |
| Rechteverletzungen“ geworden, die „fotografiert werden sollte“, damit die | |
| Abschreckung wirklich griff. So erklärt sich auch, und das wäre zu | |
| ergänzen, dass Griechenland lange enorme Summen der EU zur | |
| Flüchtlingsversorgung einfach nicht abrief, um das Elend künstlich | |
| aufrechtzuerhalten. | |
| Das Buch zeichnet Moria als Gravitationspunkt der EU-Abschreckungsmechanik. | |
| Tatsächlich wurde es in der Folge des EU-Türkei-Deals zwar zum größten | |
| Lager seiner Art. Singulär in dem Ausmaß seiner Entrechtung entlang der | |
| EU-Außengrenzen und ihrem Vorfeld war es indes nie. | |
| Zweifellos aber war es ein Ort, den es mit Blick auf die Menschenrechte | |
| „nicht hätte geben dürfen und über den man genau deswegen sprechen musste�… | |
| wie Grillmeier schreibt und genau das tut. | |
| 29 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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