| # taz.de -- Todeszone EU-Außengrenze: Alltägliches Massaker im Mittelmeer | |
| > 68 Tote forderte die Havarie vom vergangenen Sonntag. Doch die | |
| > Herkunftsländer lassen der EU ihre Gleichgültigkeit nicht mehr | |
| > durchgehen. | |
| Bild: Kein Unfall – Trümmer am Strand von Kalabrien am 27. Februar | |
| Die Toten von einst mussten sich mit einer einzigen Rose pro Sarg begnügen. | |
| In drei langen Reihen hatten Helfer sie aufgebahrt: 290 Särge aus dunklem | |
| Holz, darin die 290 Opfer [1][des Schiffsunglücks vom 3. Oktober 2013], zur | |
| Schau gestellt in einer Wellblechhalle am Rande des Hafens von Lampedusa. | |
| „Ich werde diesen Anblick für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen“, | |
| sagte die damalige EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, die zur | |
| Trauerfeier gereist war, später. „Das war das Bild einer Union, die wir | |
| nicht wollen.“ | |
| Die 68 Menschen, die am vergangenen Sonntag in Sichtweite des | |
| süditalienischen Küstenstädchens Crotone ertranken, bekamen ein üppiges | |
| Bouquet aus weißen Rosen, Schleierkraut, Margeriten, halb so groß wie die | |
| Särge, die in der örtlichen Turnhalle aufgebahrt waren. Auf einen weißen | |
| Kindersarg hatten hilflose Helfer noch ein blaues Spielzeugauto gelegt, als | |
| könne das tote Kind es noch gebrauchen. | |
| Fast zehn Jahre und über 26.000 im Mittelmeer Ertrunkene liegen zwischen | |
| den beiden Bildern. Der Blumenschmuck für das Grab der Toten ist größer | |
| geworden, die öffentliche Anteilnahme kleiner. Von der EU kam niemand nach | |
| Crotone. Und die Bereitschaft, politische Konsequenzen aus dem andauernden | |
| Sterben zu ziehen, ist in dieser Zeit ins nicht mehr Erkennbare | |
| geschrumpft. | |
| Es ist hier nicht die Rede von Unfällen. Das im Auftrag der | |
| EU-Grenzschutzagentur Frontex über dem Seegebiet patrouillierende | |
| Aufklärungsflugzeug Eagle 1 hatte das Schiff am 25. Februar um 22 Uhr auf | |
| offener See gesichtet. Es informierte allerdings nicht die italienische | |
| Küstenwache, sondern nur die Finanz- und Zollpolizei Guardia di Finanza. | |
| Der Schiffbruch ereignete sich nach Angaben der EU-Kommission vier Stunden | |
| später, am Sonntag um 2 Uhr morgens. Die italienische Küstenwache erhielt | |
| die ersten Notfallinformationen jedoch erst um 4.30 Uhr. Die Küstenwache | |
| und die Guardia di Finanza wurden vom Parlament in Rom aufgefordert, ihre | |
| Akten zu dem Vorfall offenzulegen. | |
| ## Kein Einzelfall | |
| Das Ganze wäre schon erschütternd, wenn es ein Einzelfall wäre. Doch das, | |
| was vor Crotone geschah, ist heute an den europäischen Außengrenzen Alltag. | |
| Allein in diesem Jahr sind dort im Schnitt an jedem Tag fast sechs Menschen | |
| ertrunken. Wer in Not ist, kann sich nicht darauf verlassen, dass Hilfe | |
| kommt – in einem der am besten überwachten Seegebiete der Welt. Der Tod | |
| durch Unterlassen zum Zweck der Abschreckung ist ein Element des | |
| europäischen Grenzschutzes geworden. Und das seit langer Zeit. | |
| Am Donnerstag trat der Niederländer Hans Leijtens sein Amt als neuer | |
| Frontex-Direktor an. Zuvor hatte er zugesichert, die [2][Beteiligung von | |
| Frontex an rechtswidrigen Pushbacks] zu beenden und versprochen, für „mehr | |
| Transparenz“ bei der Untersuchung von Rechtsverletzungen zu sorgen. Doch | |
| wie seine Vorgänger steht Leijtens vor einem Dilemma: Seine primäre Aufgabe | |
| besteht darin, irreguläre Grenzübertritte einzudämmen. Und dieses Ziel hat | |
| heute politische Priorität – koste es, was es wolle. | |
| Erst kürzlich kündigte die EU offen neue Unterstützung für die libysche | |
| Küstenwache an. Über 100.000 Menschen hat diese auf dem Mittelmeer | |
| eingefangen und in libysche Lagergefangenschaft zurückgebracht, seit | |
| Italien die Einheiten 2016 aufzubauen begann. Allein seit Beginn dieses | |
| Jahres waren es über 3.000 Menschen, wie die UN zählten. Und gerade erst | |
| wurden den Libyern dafür neue Schiffe übergeben. | |
| Südlich des Mittelmeeres wird all das aufmerksam verfolgt. Die | |
| Partnerschaft, die Europa mit Afrika erklärtermaßen ausbauen will – bei der | |
| grünen Transformation, bei der Digitalisierung, dem Kampf gegen den | |
| Dschihad, beim Handel und natürlich bei der Migrationskontrolle – wird | |
| immer belasteter. | |
| ## Neue Gebermächte | |
| Antikoloniale Positionen mischen sich mit wachsender Wut über das | |
| Massensterben an den EU-Grenzen. Und den Afrikanern bieten sich | |
| Alternativen: Kooperationen mit neuen Gebermächten wie China, Indien, der | |
| Türkei – und Russland. Mali, wo die deutsche Bundeswehr seit 10 Jahren den | |
| Kampf gegen den Islamismus unterstützt, hat sich just in der vergangenen | |
| Woche bei der UN-Abstimmung über eine Verurteilung des Ukraine-Kriegs offen | |
| auf die Seite Russlands gestellt. Solche Abwendung vom Westen nimmt zu. Und | |
| Europas Migrationspolitik ist ein Grund dafür. | |
| Die zehn Jahre seit dem Unglück von Lampedusa waren eine Zeit, in der der | |
| Druck der rechten Konkurrenz die Parteien der Mitte dazu brachte, immer | |
| menschenverachtendere Formen des Grenzschutzes mitzutragen – während die | |
| rechte Konkurzenz gleichzeitig immer stärker wurde. Wie in Italien. | |
| Viele sorgten sich, als dort im Oktober die Postfaschistin Giorgia Meloni | |
| ihr Amt antrat. Der ernüchternde Befund: Ihre bisherige Politik | |
| unterscheidet sich nur geringfügig von jener der Vorgängerregierungen. Das | |
| liegt nur zu einem Teil daran, dass eine Reihe von Gerichtsurteilen jüngst | |
| klar gemacht haben, dass auch Italiens Regierung das Flüchtlingsrecht nicht | |
| beliebig übergehen kann. Es liegt auch daran, dass die Vorgängerregierung | |
| vor allem bei der Behinderung der Seenotrettungs-NGOs im Mittelmeer sehr | |
| weit gegangen sind. Das Dekret, dass die Meloni-Regierung nun im November | |
| erlassen hat, um den Rettern das Leben noch schwerer zu machen, ist deshalb | |
| nur die graduelle Fortsetzung einer Entwicklung, die die Parteien der Mitte | |
| – konsensual und unter der steten Versicherung, die Menschenrechte zu | |
| achten – schon vor Jahren eingeleitet haben. | |
| Die jüngste Episode war Mitte der vergangenen Woche in Berlin zu | |
| beobachten: Das FDP-geführte Verkehrsministerium kündigte an, die | |
| Sicherheitsanforderungen für kleine Schiffe zu verschärfen. Alle | |
| Wasserfahrzeuge in einer Länge von 24 bis 35 Metern sollen künftig wie | |
| große Frachtschiffe behandelt werden – und deshalb unter anderem ein | |
| sogenanntes Schiffssicherheitszeugnis vorlegen müssen. | |
| Was harmlos klingt, hätte es in sich: Sieben deutsche Seenotrettungs-NGOs | |
| erklärten, dass die Reform derartige Mehrkosten für sie bedeuten würde, | |
| dass die „Mehrheit der zivilen Seenotrettungsschiffe unter deutscher Flagge | |
| (…) ihre lebensrettende Arbeit einschränken oder einstellen müssen.“ | |
| 5 Mar 2023 | |
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| [2] /Whistleblower-gegen-Grenzschuetzer/!5906339 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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