| # taz.de -- Gewerkschaft für Vier-Tage-Woche: Weniger Maloche für alle? | |
| > Die IG Metall will die Vier-Tage-Woche. Doch was steckt hinter dieser | |
| > utopisch anmutenden Forderung? Der Versuch, Arbeitsplätze zu retten. | |
| Bild: Helden der Arbeit bei 35 Stundenwoche – vielleicht bald nur 32? Stahlar… | |
| Die IG Metall beflügelt die Fantasie abhängig Beschäftigter: [1][Wie wäre | |
| es, in Vollzeit nur noch vier Tage die Woche] acht Stunden am Tag zu | |
| arbeiten – und zwar bei vollem Lohnausgleich? Genau dafür werde sich die IG | |
| Metall bei den nächsten Tarifverhandlungen in der Stahlindustrie einsetzen, | |
| hat jetzt Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall Nordrhein-Westfalen, | |
| angekündigt. „Wir wollen eine echte Entlastung für die Beschäftigten | |
| erreichen, ohne dass sie deshalb weniger verdienen“, sagte er der | |
| Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Klingt nicht schlecht, oder? Wobei es | |
| noch etwas dauern wird, bis die Gewerkschaft unter Beweis stellen kann, wie | |
| ernst es ihr damit ist: Die Verhandlungen starten erst im November. | |
| Während andere um den schnöden Mammon feilschen, streitet die IG Metall | |
| also avangardistisch um ein schöneres, ein freieres Leben? So einfach ist | |
| es nicht. Es gibt gute Gründe dafür, dass bei anderen Tarifverhandlungen in | |
| diesem Jahr eine Arbeitszeitverkürzung nicht auf der Tagesordnung steht. | |
| Angesichts der dramatisch gestiegenen Lebenshaltungskosten sorgen sich | |
| viele darum, wie sie mit ihrem Gehalt noch über die Runden kommen. Deshalb | |
| führen die Gewerkschaften gerade einen schwierigen Kampf gegen | |
| Reallohnverlust. | |
| Wie schwer das ist, lässt sich an einem Beispiel der IG Metall selbst | |
| illustrieren: Am vergangenen Wochenende einigte sie sich mit den | |
| Arbeitgebern auf einen neuen Tarifvertrag für die rund 100.000 | |
| Beschäftigten in der Textilindustrie West. Das Ergebnis: Ab Oktober gibt es | |
| 4,8 Prozent, mindestens 130 Euro mehr. Im September kommenden Jahres folgen | |
| 3,3 Prozent, mindestens 100 Euro mehr. Dazu gibt es eine | |
| Inflationsausgleichsprämie von 1.000 Euro in diesem und 500 Euro im | |
| nächsten Jahr. Ein bescheidenes Ergebnis – weitaus schlechter nicht nur als | |
| der Abschluss von Verdi bei der Deutschen Post Mitte März, sondern auch als | |
| der der IG Metall für die Metall- und Elektroindustrie im Herbst | |
| vergangenen Jahres. Aber dort ist die Gewerkschaft wesentlich besser | |
| organisiert. Tarifabschlüsse sind auch immer eine Frage des | |
| Kräfteverhältnisses. | |
| Bei keiner der erwähnten Tarifauseinandersetzungen spielte das Thema | |
| Arbeitszeitverkürzung eine Rolle. Das zeigt, dass auch die IG Metall | |
| derzeit in der Regel andere Prioritäten setzt. Dass das in der | |
| Stahlindustrie anders ist, liegt an der besonderen Situation, in der sich | |
| die Branche befindet. Die bislang kohlebasierte Schwerindustrie steht vor | |
| einem tiefgreifenden Umbau hin zu grünem Stahl. Verbunden mit dieser | |
| Transformation ist die Gefahr von Arbeitsplatzverlust. | |
| Die Forderung nach einer Viertagewoche dient daher zuvorderst dem Zweck, | |
| einen Abbau von Arbeitsplätzen zu verhindern. Es handelt sich also im | |
| konkreten Fall um ein Instrument zur Beschäftigungssicherung. Dass dies | |
| auch einen „großen Fortschritt für die Lebensqualität und die Gesundheit“ | |
| der Beschäftigten mit sich bringen würde, wie IG-Metall-Mann Giesler sagte, | |
| ist dabei erst einmal nur ein Nebeneffekt, wenn auch kein unbedeutender. | |
| Umsetzbar wäre die Forderung jedenfalls. Denn der Sprung wäre weitaus | |
| kleiner als in anderen Branchen. In der Stahlindustrie beträgt die | |
| Wochenarbeitszeit schon jetzt nur 35 Stunden. Es ginge also um eine | |
| Verringerung von gerade mal 3 Stunden. Wobei die notwendigen Umstellungen | |
| der Dienst- und Schichtpläne laut der Gewerkschaft allerdings trotzdem | |
| teils mehrere Jahre in Anspruch nehmen könnten. | |
| In anderen Branchen ist die Situation komplizierter. Norbert Reuter, der | |
| Leiter der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung der Verdi-Bundesverwaltung, | |
| hat darauf erst kürzlich in einem Gastkommentar in der taz hingewiesen. | |
| Vollzeitbeschäftigte arbeiten heute in der Regel 40 Stunden pro Woche. Eine | |
| Reduzierung auf 32 Stunden würde also eine Arbeitszeitverkürzung von rund | |
| 20 Prozent bedeuten. | |
| Die Arbeitgeber müssten somit zur Einkommenssicherung rund 25 Prozent | |
| höhere Stundenlöhne zahlen. Wie massiv der Widerstand jedoch bereits gegen | |
| Lohnerhöhungen von wenigen Prozenten sei, zeigten die aktuellen | |
| Tarifverhandlungen zum Beispiel im öffentlichen Dienst, wo gerade in der | |
| Schlichtung um eine Einigung gerungen wird. Ohne vollen Lohnausgleich, | |
| warnt Reuter, könnten sich eine Arbeitszeitreduzierung jedoch [2][„nur | |
| Besserverdienende buchstäblich ‚leisten‘] – und das nicht erst, seit die | |
| Inflation so hoch ist“. | |
| Heißt das, dass das Thema Arbeitszeitverkürzung damit für die meisten | |
| Branchen in Deutschland vom Tisch ist? Keineswegs. Nicht nur in der IG | |
| Metall wird weiterhin intensiv über Modelle diskutiert. Das gilt vielmehr | |
| auch für Verdi, der zweitgrößten Einzelgewerkschaft. Aber zu einem | |
| zentralen Bestandteil von Arbeitskämpfen wird das erst nach der | |
| gegenwärtigen Krise wieder werden können. Wenn es nicht mehr nur darum | |
| geht, einen allzu großen Reallohnverlust zu verhindern. | |
| Aktualisiert am 06.04.2023 um 14:23 Uhr. d. R. | |
| 6 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Pascal Beucker | |
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