# taz.de -- Modelle für Arbeitszeitverkürzung: Wie viel Arbeit kann weg? | |
> In Großbritannien war ein Pilotprojekt zur 4-Tage-Woche erfolgreich. Was | |
> spricht dafür, dass wir weniger arbeiten? Und wie kann das konkret | |
> aussehen? | |
Jahrzehntelang hatten deutsche Arbeiter:innen dafür gekämpft. Mit | |
Streiks, mit Demonstrationen, mit hunderttausend Menschen auf den Straßen. | |
Doch es brauchte den Sturz einer Monarchie und eine echte Revolution, | |
[1][bis ihre Forderung endlich erfüllt wurde:] die Einführung des | |
Achtstundentags. | |
Bis dieser 1919 offiziell eingeführt wurde, waren Arbeitsschichten von bis | |
zu 16 Stunden verbreitet. Eine Wochenarbeitszeit von 60 Stunden war in den | |
meisten Industrien die Regel. Von einer 40-Stunden-Woche waren die Menschen | |
allerdings auch nach der Einführung des Achtstundentags ein gutes Stück | |
entfernt, gearbeitet wurde von Montag bis Samstag. In den 1950er Jahren | |
begann der Gewerkschaftsbund in der BRD mit der Aktion „Samstag gehört Vati | |
mir“ die Kampagne für die 5-Tage-Woche. Sie wurde 1965 in der BRD und 1967 | |
auch in der DDR beschlossen. | |
Dass wir heute insgesamt viel weniger arbeiten, liegt auch daran, dass wir | |
mehr Urlaub machen und früher in Rente gehen. Trotzdem ist unsere | |
Produktivität gestiegen. Dank technischem Fortschritt wird [2][heute pro | |
Arbeitsstunde viel mehr Wirtschaftsleistung erbracht als früher]. Doch | |
diese Produktivitätssteigerungen führen keineswegs automatisch dazu, dass | |
Löhne erhöht oder Arbeitstage verkürzt werden. Seit den 1990er Jahren hat | |
sich [3][der Rückgang der Arbeitszeit verlangsamt]. In einigen Branchen | |
werden sogar wieder etwas mehr Stunden gearbeitet. | |
Vor wenigen Tagen wurde [4][das Ergebnis eines britischen Pilotprojektes] | |
vorgestellt, für das 61 Arbeitgeber die Arbeitszeit von fünf auf vier Tagen | |
reduzierten – bei vollem Lohnausgleich. 56 wollen das Modell fortsetzen | |
oder haben es schon eingeführt. | |
Dass in letzter Zeit wieder mehr über kürzere Arbeitszeiten diskutiert | |
wird, hat mehrere Gründe. Immer weniger Menschen [5][möchten Vollzeit | |
arbeiten], technologischer Fortschritt macht [6][bestimmte Tätigkeiten | |
überflüssig], und weniger Arbeit bedeutet auch weniger | |
Treibhausgasemissionen, weshalb [7][Klimaschützer:innen das Thema | |
vorantreiben]. | |
Fällt durch die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft | |
möglicherweise gar Arbeit weg – etwa weil keine Kohle mehr abgebaut und | |
kein Heizöltank mehr befüllt werden muss? Für die Energiebranche [8][gibt | |
es hierzu Berechnungen]. Sie zeigen, dass der Verlust solcher | |
Arbeitsstellen mehr als ausgeglichen wird durch die vielen neuen, für die | |
Energiewende notwendigen Tätigkeiten. Rotorenblätter müssen gebaut, | |
Wärmepumpen installiert, Photovoltaikanlagen entworfen und Umstellungen | |
organisiert werden. Kurz: Durch die Energiewende gibt es nicht weniger, | |
sondern mehr Arbeit. | |
Allerdings arbeitet nur ein kleiner Teil der weltweit Beschäftigten in der | |
Energiebranche. Die Frage, was Klimaschutz und die ökologische Veränderung | |
für Arbeit insgesamt bedeutet, ist sehr schwer zu berechnen. Die Antwort | |
hängt davon ab, wie diese Transformation gestaltet wird. Es macht zum | |
Beispiel einen Unterschied für die Menge der notwendigen Arbeitsstunden, ob | |
wir jedes [9][Verbrennerauto durch ein E-Auto ersetzen] oder ob wir die | |
[10][Zahl der Autos insgesamt reduzieren] und zudem ihre Lebensdauer | |
erhöhen. | |
## Bessere Chancen für Arbeitszeitforderungen | |
Neben der Klimakrise entscheidet der demografische Wandel darüber, ob es in | |
Zukunft mehr oder weniger Arbeit gibt. Auch hier gibt es gegenläufige | |
Tendenzen. Einerseits [11][nimmt die Zahl der erwerbsfähigen Menschen in | |
Deutschland rapide ab], zumindest wenn nicht deutlich mehr Zuwanderung den | |
Trend ausgleicht. Falls die zu leistende Arbeit gleich bliebe, müssten wir | |
also mehr und nicht weniger arbeiten. Andererseits sind Beschäftigte in | |
einer besseren Position, wenn es insgesamt weniger Menschen gibt, die ihren | |
Job machen könnten – [12][Forderungen nach kürzeren Arbeitszeiten] lassen | |
sich deswegen besser durchsetzen. Dabei hilft, dass durch sich durch die | |
Digitalisierung, gerade im Bereich Künstlicher Intelligenz, weiter Berufe | |
verändern und auch Tätigkeiten obsolet werden. So könnte insgesamt doch | |
weniger Arbeit für den Einzelnen möglich werden. | |
Ist es möglich, weniger zu arbeiten und trotzdem genauso viel zu schaffen? | |
Werden Menschen dadurch zufriedener? Und wie genau könnte das aussehen? Das | |
britische Pilotprojekt und drei weitere Modelle stellen wir hier vor. | |
## Vollzeit in vier Tagen | |
Der Hintergrund: Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in | |
Deutschland, Vollzeit und Teilzeit zusammengerechnet, [13][betrug im Jahr | |
2021 34,7 Stunden], weniger als in den meisten anderen europäischen | |
Ländern. In Deutschland ist die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit | |
in den letzten 30 Jahren um mehr als drei Stunden gesunken, das liegt | |
allerdings hauptsächlich daran, dass der Anteil von Teilzeitbeschäftigten | |
in dieser Zeit stark gestiegen ist. An den wöchentlichen Arbeitszeit von | |
Vollzeitbeschäftigten hat sich wenig geändert, sie arbeiten heute im | |
Schnitt 40,5 Stunden und damit nur eine Stunde weniger als 1991. | |
Gleichzeitig werden [14][flexible Arbeitsmodelle] immer beliebter, mit | |
denen eine Vollzeitstelle anders aussehen kann als das klassische 9-to-5. | |
Das Modell: 40 Stunden in vier statt fünf Tagen arbeiten: In Belgien gibt | |
es darauf seit November 2022 [15][einen rechtlichen Anspruch]. Auch in | |
Deutschland gibt es bereits einige Betriebe, die eine solche Regelung | |
praktizieren. Ein 10-Stunden-Tag klingt wenig utopisch, doch auch in | |
Deutschland hat das belgische Modell Fans: In einer Forsa-Umfrage aus dem | |
letzten Jahr sagten [16][71 Prozent der Befragten], Deutschland solle | |
dieses Modell übernehmen. Besonders hoch war die Zustimmung bei den 30- bis | |
44-Jährigen. | |
Wahrscheinlichkeit: ●●●●○ Wird bereits umgesetzt. | |
Klimaschutz: ●●○○○ Immerhin, zwei Arbeitswege fallen weg. | |
Freizeit: ●○○○○ An der Wochenarbeitszeit ändert sich nichts. | |
## Die 4-Tage-Woche | |
Der Hintergrund: Die [17][Pandemie hat Arbeitsbedingungen verändert], der | |
demografische Wandel ermöglicht jungen Arbeitnehmer*innen ganz andere | |
Job-Perspektiven. Das macht das Modell [18][„Vollzeit in 30 Stunden“] immer | |
attraktiver, auch für Arbeitgeber. Die Rechnung dahinter: zufriedenere | |
Mitarbeiter*innen werden seltener krank und kündigen nicht so schnell, | |
außerdem [19][arbeiten motivierte Menschen effektiver]. | |
Das Modell: Hier wird nur noch an vier statt fünf Tagen gearbeitet, aber | |
weiterhin nur 8 Stunden am Tag. Und bei vollem Lohn. Modellprojekte gab es | |
dazu bereits in mehreren Ländern, auch einzelne deutsche Firmen | |
praktizieren das bereits. Gerade wurde [20][die Auswertung eines groß | |
angelegten Experiments] in Großbritannien veröffentlicht, an dem [21][sich | |
61 Unternehmen beteiligt haben] – insgesamt etwa 3.000 Beschäftigte bei | |
Restaurants, Pflegediensten, Software-Herstellern oder Autozulieferern. Das | |
Ergebnis: In den meisten Unternehmen ist die Produktivität sogar gestiegen, | |
vier von zehn Mitarbeiter*innen waren gleichzeitig weniger gestresst. | |
Das war wohl auch ein Grund dafür, dass die Zahl der Krankschreibungen | |
massiv sank, sie ging um 65 Prozent zurück. Auch die Kündigungsrate fiel | |
mit 57 Prozent extrem. Firmen in Deutschland berichten ebenso über | |
Gewinnsteigerungen nach Testphasen. Aber sind die Arbeitnehmer*innen | |
möglicherweise besonders motiviert, weil solche Bedingungen eben nicht die | |
Regel sind, sondern die positive Ausnahme? Das wird sich erst zeigen, wenn | |
sich das Modell durchsetzen sollte. | |
Wahrscheinlichkeit: ●●●○○ Deutschland hinkt hinterher, aber der Trend… | |
klar. | |
Klimaschutz: ●●○○○ Auch hier fallen Wege weg. | |
Freizeit: ●●●○○ Hallo 3-Tage-Wochenende. | |
## Der 4-Stunden-Tag | |
Der Hintergrund: In den Gewerkschaften spielt das Thema | |
Arbeitszeitverkürzung heute eine eher untergeordnete Rolle, der Kampf für | |
gute Arbeit ist wichtiger als der für weniger Arbeit. Impulse für radikale | |
Arbeitszeitverkürzung, für ein verändertes Verhältnis zur Arbeit insgesamt | |
kommen von anderer Stelle: Aus der in den 2010er-Jahren gewachsenen | |
Post-Work- oder [22][Anti-Work-Bewegung] etwa, einer linken Strömung, die | |
mit der Arbeitsgesellschaft brechen will. Zu dieser Perspektive gehört | |
auch, den Blick darauf zu lenken, [23][wie Arbeit in unsere Freizeit | |
eindringt], etwa wenn wir durch unsere Aktivität in sozialen Netzwerken | |
daran mitwirken, die Algorithmen der Digitalkonzerne zu trainieren. Die | |
Post-Work-Bewegung setzt der Allgegenwärtigkeit von Arbeit die [24][Utopie | |
einer Gesellschaft ohne Lohnarbeit] entgegen und geht davon aus, dass | |
technischer Fortschritt [25][diese Utopie immer realistischer macht]. | |
Das Modell: In Deutschland hat sich 2016 [26][mit der 4-Stunden-Liga] eine | |
linke Initiative gegründet, die die Debatte um Arbeitszeitverkürzung mit | |
einem radikalen Vorschlag befeuern will: Vier statt acht Stunden Arbeit am | |
Tag bei vollem Lohnausgleich. Die 4-Stunden-Liga hat Ortsgruppen in | |
verschiedenen Städten, die Veranstaltungen und Kundgebungen organisieren. | |
Historisches Vorbild sind die [27][Eight-Hour-Leagues], Zusammenschlüsse | |
von Arbeiter:innen, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA und in | |
Großbritannien für die Einführung des Achtstundentags kämpften. | |
Wahrscheinlichkeit: ●●○○○ Bisher vor allem eine Idee. | |
Klimaschutz: ●●●●○ Wenn die Freizeit ressourcenschonend verbracht wir… | |
Freizeit: ●●●●○ 20-Stunden-Woche für alle. | |
## Die 9-Stunden-Woche | |
Der Hintergrund: Arbeit bedeutet Emissionen, auf drei Ebenen: Diese werden | |
bei der Arbeit selbst freigesetzt, auf dem Arbeitsweg und durch Konsum, den | |
wir uns nur durch die Arbeit leisten können. Aus rein ökologischer | |
Perspektive hätte ein Modell, bei dem ohne Lohnausgleich weniger gearbeitet | |
wird, [28][die größten Effekte]: Wer weniger verdient, kann nicht so viel | |
konsumieren. Aus sozialer Perspektive hat ein solcher Ansatz aber Grenzen. | |
Den Klimawandel aufzuhalten, indem Menschen so arm wie möglich gemacht | |
werden, damit sie weniger emittieren, ist wohl kaum eine erstrebenswerte | |
Perspektive. Deswegen geht es auch um einen gesellschaftlichen Wandel: Kann | |
mehr Freizeit uns bei einem [29][weniger klimaschädlichen Lebensstil | |
helfen], etwa, weil wir dann Zeit haben, um Dinge zu reparieren, statt sie | |
neu zu kaufen? Socken zu stopfen und Gemüse im eigenen Garten anzubauen? | |
Das Modell: Der Arbeitsforscher Philipp Frey hat 2019 im Auftrag des | |
[30][britischen Thinktanks Autonomy] untersucht, [31][wie viel | |
Arbeitsstunden ökologisch nachhaltig wären]. Die Rechnung funktioniert | |
folgendermaßen: Mit der Wirtschaftsleistung und den Treibhausgasemissionen | |
eines Landes lässt sich berechnen, wie viel Treibhausgase pro geleistete | |
Arbeitsstunde emittiert werden. Ausgehend vom jeweiligen CO2-Budget eines | |
Landes berechnete Frey dann, wie viel Arbeitsstunden pro Woche geleistet | |
werden dürften, um dieses Budget einzuhalten. Für Deutschland kommt die | |
Studie auf eine durchschnittliche Arbeitszeit von neun Stunden pro Woche. | |
Frey versteht das als Debattenanstoß. | |
Wahrscheinlichkeit: ●○○○○ Ein Gedankenexperiment. | |
Klimaschutz: ●●●●● Genau darum geht es hier. | |
Freizeit: ●●●●● Neun Stunden Arbeit klingen machbar. | |
26 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Abseits-von-Lohnarbeit/!5842928 | |
[2] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutsc… | |
[3] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0014498307000058 | |
[4] https://www.4dayweek.com/uk-pilot-results | |
[5] https://www.berufe-studie.de/2022_01-kernergebnisse.html | |
[6] /KI-und-ChatGPT/!5909029 | |
[7] /Klimaschutz-und-Arbeitszeiten/!5777816 | |
[8] https://www.iea.org/reports/net-zero-by-2050 | |
[9] /Ampel-Streit-um-Verkehrspolitik/!5912252 | |
[10] /Verkehrswende-ohne-Autos/!5906715 | |
[11] /Demografie-Rente-und-Fachkraeftemangel/!5874453 | |
[12] /Junge-Menschen-in-der-Arbeitswelt/!5884268 | |
[13] https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dim… | |
[14] /Forscherin-ueber-Arbeitzeitregelungen/!5464167 | |
[15] /Entlastung-bei-der-Arbeitszeit/!5870709 | |
[16] https://www.boeckler.de/de/podcasts-22421-welche-4-tage-woche-brauchen-wir… | |
[17] /IG-Metall-fordert-eine-Vier-Tage-Woche/!5702582 | |
[18] /Weniger-Arbeiten/!5073544 | |
[19] /Die-Chancen-der-28-Stunden-Woche/!5479887 | |
[20] https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/viert-tage-woche-pilotprojekt-10… | |
[21] https://www.4dayweek.com/uk-pilot-results | |
[22] https://podcast.dissenspodcast.de/170-arbeit | |
[23] https://edition-nautilus.de/programm/alles-ist-arbeit/ | |
[24] https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-09931-2#aboutAuthors | |
[25] https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/MDW2ERUVZMV6QR7D6V2GCB7AA… | |
[26] /Treffen-der-4-Stunden-Liga/!5658831 | |
[27] https://www.jstor.org/stable/41827595 | |
[28] https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/arbeitszeitverkuerzung-gut-fu… | |
[29] /Klimaschutz-und-Arbeitszeiten/!5777816 | |
[30] https://autonomy.work/ | |
[31] https://www.itas.kit.edu/2019_024.php | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
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