# taz.de -- Die Hauptstadt und ihr Senat: Wie Berlin gegen sich arbeitet | |
> Berlin ist eine Stadt voller Möglichkeiten. Die Konzeptlosigkeit | |
> führender Politiker*innen trägt aber dazu bei, dass Chancen | |
> verschenkt werden. | |
Bild: Franziska Giffey, noch Regierende Bürgermeisterin von Berlin, am LGBTQI-… | |
Berlin ist eine wunderbare Stadt, die alles tut, um zu verhindern, dass sie | |
wunderbar bleibt. Was hat diese Stadt für Menschen, für Möglichkeiten! | |
Es gibt so viele, die hier ihre Zukunft sehen, die hier andere wie sie | |
finden oder gar nicht wie sie, die Inspiration finden, immer noch eine | |
Freiheit, wie es sie sonst in diesem Land nicht gibt, eine | |
Internationalität, die das schrumpfende Provinzdeutschland drumherum umso | |
kleiner erscheinen lässt, müder, fader. | |
Es verblüfft mich immer noch jeden Tag, wirklich jeden Tag aufs Neue, mit | |
welcher Insistenz und Schludrigkeit diese Stadt gegen sich arbeitet. Und da | |
geht es gar nicht um vagabundierende Baustellen, die immer wirken wie | |
Guerilla-Aktionen einer Stadtverwaltung oder -nichtverwaltung, so | |
willkürlich tauchen sie auf und verschwinden wieder. | |
Es geht auch [1][nicht um Fahrradwege], die einfach im Nichts enden, wie | |
leider auch erschreckend viele Leben von Fahrradfahrer*innen, die dafür | |
umso grimmiger von neongelben Polizeischwadronen verfolgt werden, die die | |
bestrafen, die am meisten gefährdet sind. | |
## Sie sagen, sie lieben Berlin, lehnen aber alles ab | |
Es geht also nur teilweise um dieses Autoritärsgehubere, das sich immer | |
stärker zeigt, vielleicht auch eine Folge der postpandemischen Regelwut, | |
aber wir leben eben in Zeiten einer regressiven Moderne. Es geht auch nur | |
teilweise um das Stadtschloss, mit dem so vieles angefangen hat oder | |
verbunden ist, das kalte Hohenzollern-Herz dort, wo die Widersprüche, die | |
Offenheit oder der Aufbruch in dieser Stadt beginnen könnten, ihren Platz | |
haben könnten, ein Haus der Zukunft, ein Ort für alle und jeden, ein Palast | |
der Republik vielleicht, ach, was für ein schöner Name! | |
Und auch nur teilweise geht es [2][um die Autobahn A 100], die sie nun | |
tatsächlich weiter in die Stadt hineinwalzen wollen, als sei fossile und | |
individuelle Mobilität noch ein Versprechen und keine Drohung. Es geht nur | |
teilweise um ganze Viertel, in denen der Quadratmeterpreis die einzige | |
ästhetische Prämisse ist, was dazu führt, dass hier nur der kalte Wind des | |
Kapitalismus seine Heimat findet. Und es geht nur teilweise um so stur | |
verkorkste Großprojekte wie das Museum für Gegenwartskunst, das gebaut wird | |
gegen den Einspruch wesentlicher Stimmen aus Kultur und Kritik, ein | |
trotziger Tempel für eine Gegenwart, die schon jetzt veraltet wirkt. | |
Es geht mehr um die Selbstverleugnung in dieser Stadt, gerade durch die, | |
die sagen, dass sie Berlin lieben oder Berlin sind – und die ablehnen, | |
wofür diese Stadt stehen könnte und für viele, die hier leben, auch steht: | |
die Solidarität, das Experiment, die Individualität, die Veränderung, die | |
Schönheit, die Dunkelheit, die Intelligenz, die Verschwendung. | |
## Es entsteht eine Koalition der aggressiven Visionslosigkeit | |
Eine Koalition der Kleinmütigkeit also, die dafür sorgt, dass Berlin eine | |
Stadt der Geistesmenschen wie der Geistlosigkeit bleibt, im steten Streit | |
von Vergangenheit und Zukunft, wobei allzu oft die Gegenwart abhandenkommt. | |
Sie bauen sich eine Bastion gegen die Zukunft, eine Schuhkartonwelt – womit | |
die Berliner Malaise sinnbildlich wird für dieses Land. | |
Denn die Hauptstadt ist mehr als eingeübtes Scheitern, über das sich alle | |
risikofrei lustig machen können. Die Hauptstadt ist nur ganz vorn dabei in | |
einem Land, das sich entschieden hat, im Schatten der Weltgeschichte reich | |
und schläfrig zu werden, eingelullt von der eigenen Erfolgsgeschichte, die | |
wie so viele Erfolgsgeschichten meistens schon eine Weile vorbei ist, wenn | |
man sie erzählt. | |
Die Planlosigkeit, die Konzeptionslosigkeit, der Mangel an Energie und | |
Eleganz, das alles reicht weit über Berlin heraus – wo sich jetzt also in | |
einem Akt der Selbstermächtigung des Mittelmaßes eine Regierung gewählt | |
haben, die genau die Fadheit dieser Stadt wie des Landes spiegelt: eine | |
Koalition der aggressiven Visionslosigkeit, anspruchsfrei, | |
rückwärtsgewandt, die eigene Karriere als Horizont der Möglichkeiten. | |
[3][Der eine, der von der CDU], heißt es, sei ein guter Netzwerker; die | |
andere, die von der SPD, heißt es, „kann“ Verwaltung. | |
## Wären bloß die richtigen Leute oben | |
Physiognomisch, biografisch und politisch-thematisch ist das ein | |
Rückschritt in die 90er Jahre – mit dem Unterschied, dass die 90er Jahre, | |
so wie sie waren, voller Farbe, Fun und Möglichkeiten, wie ausradiert | |
wirken, negiert, als habe es sie nie gegeben. | |
Die grantige Kahlschädeligkeit von Kai Wegner, [4][die adrette | |
Krampfigkeit von Franziska Giffey]: Es ist wie eine Korrektur der | |
Geschichte, eine Verleugnung der Vergangenheit dieser Stadt, ihrer Brüche, | |
Energie und Offenheit. Es ist wie ein später Triumph der Spaßverderber über | |
die, die Berlin damals und immer noch zu einer Weltstadt machen wollten. | |
So wie sie also gerade Straßen bauen in Berlin, die die Stadt des 19. | |
Jahrhunderts wiedererwecken sollen, als habe es Krieg, Moderne, zwei | |
verschiedene deutsche Staaten nicht gegeben, setzt sich auch in der Politik | |
eine Haltung durch, die die fehlende Zukunftsoffenheit mit einem Beharren | |
auf einer künstlich kreierten Historie konterkariert. Was könnte aus dieser | |
Stadt alles werden, was hätte aus ihr alles werden können, wenn man Mut | |
hätte und die richtigen Leute in den richtigen Positionen. | |
## Von außen wirkt es wie Führungslosigkeit | |
Aber noch einmal, Berlin ist hier nur ein Extremfall an verschenkten | |
Chancen in einem Land, das sich in einem Stadium der Selbstverpuppung | |
befindet. Die wesentlichen Zukunftsfragen werden delegiert, man tut sich | |
schwer, seine Rolle in Europa zu definieren – von außen wirkt es wie | |
Führungslosigkeit, von innen wirkt es wie politische Selbstaufgabe, | |
verbunden mit einem verknorrten sprachlichen Schutzjargon, der alle Zweifel | |
hinter herbeigelächelten Phrasen versteckt. | |
Können die also Verwaltung? Können die Karriere? Oder können die auch | |
Zukunft? Auf mich wirken die beiden wie trotzige Nachzügler, die kaputt | |
machen, was andere gebaut haben, was schön sein könnte und leben. | |
9 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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