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# taz.de -- Romanverfilmung „Sonne und Beton“: Gropiusstadt, hack, hack, ha…
> David Wendt hat den Bestsellerroman von Felix Lobrecht verfilmt. „Sonne
> und Beton“ inszeniert die harte Realität einer Westberliner
> Hochhaussiedlung.
Bild: Ma kieken, wat so abjeht: Szene aus „Sonne und Beton“
Es ist 2003 – Sommer in Berlin und der Tag ist gelaufen, bevor er
angefangen hat. Weil er seinen Schülerausweis vergessen hat, kommt Lukas
nicht an der Security vorbei in die Schule. Er trifft sich mit Freunden –
Gino und Julius. Es soll gekifft werden und dann in die Gropiuspassagen in
der Hoffnung auf Mädchen.
Der Plan geht schief, als Julius eine der beiden örtlichen Dealergruppen
vollzulabern beginnt und Lukas Prügel bezieht. Dann geraten die Dinge außer
Kontrolle. Am Ende hat Lukas nicht nur ein blutiges Gesicht, sondern die
Dealer wollen auch noch 500 Euro. Lukas kommt nach Hause, und sein kleiner
Bruder sitzt auf der Couch und ebenfalls von einer Prügelei gezeichnet.
David Wnendts „Sonne und Beton“ basiert auf dem Bestseller von
[1][Stand-up-Comedian Felix Lobrecht] und zeigt eine Jugend zwischen lauter
schlechten Optionen in der Westberliner Hochhaussiedlung Gropiusstadt.
Deutschrap und visuelle Effekte suggerieren Hipness. Am nächsten Tag in der
Schule verkündet in der Aula der Direktor, dass die Schule mit Computern
ausgestattet wird.
## Eintrittsgeld fürs Freibad
Die Illustration zur Freude wird per Overheadprojektor projiziert. Auf
einen schlechten Plan folgt ein zweiter. Lukas, Gino, Julius und Sanchez,
neu in der Klasse, beschließen, in die Schule einzubrechen und die Computer
zu klauen. Dann wäre zumindest Geld fürs Freibad da.
„Kriegerin“, Wnendts Uni-Abschlussfilm von 2011, ist eine der
interessanteren fiktionalen Annäherungen an Neonazis im deutschen Film. Es
folgten eine eher mittelmäßige [2][Verfilmung von Charlotte Roches Buch
„Feuchtgebiete“ (2013)] und eine unterirdische [3][von Timur Vermes mäßig
gutem Bestseller „Er ist wieder da“ (2018)].
„Sonne und Beton“ überrascht nun positiv. Das verdankt der Film vor allem
der Buchvorlage, konkret: den skizzierten Familiengeschichten seiner
Protagonisten und der Welt, in der sie sich bewegen. Lukas ist
Klassenbester in Deutsch, aber traut sich nicht, was daraus zu machen.
Seine Mutter ist tot, sein Vater ist ebenfalls in Gropiusstadt
aufgewachsen, vor Jahrzehnten, in einer anscheinend anderen Welt.
## Immer wieder blaue Flecken
Für seine drei Söhne hat er nur Phrasen. Julius lebt allein mit seinem
älteren Bruder in einer abgerockten Wohnung. Ginos Mutter hat die blauen
Flecken vom letzten Mal noch im Gesicht, da schlägt der Vater schon wieder
zu. Sanchez ist mit seiner Mutter gerade aus Hellersdorf in die
Gropiusstadt gezogen.
Leider hat „Sonne und Beton“ zwei Schwächen. Als Film findet er keine Form
für seinen Schauplatz. Kamerafrau Jieun Yi taucht die Bilder zu Beginn in
einen tiefen Sepia-Orange-Sumpf, es ist schließlich Sommer. Dieser
Farbmatsch, der Außenaufnahmen und Szenen in der U-Bahn gleichermaßen
verkleistert, nimmt erfreulicherweise in der ersten Hälfte etwas ab.
Dann folgen auch nur Bilder, deren Einfallslosigkeit die Montage mühsam
kaschiert. Die Schauwerte der Schauplätze bleiben in „Sonne und Beton“
nahezu unsichtbar. Nur in einer Szene am U-Bahnhof Lipschitzallee blitzen
die Möglichkeiten, die es gegeben hätte, kurz auf.
## Stilisieren oder analysieren?
Das zweite Problem betrifft ebenfalls die Ästhetik. Im Umgang mit der
Mischung aus sozialen Problemen und Hochhaussiedlungen gibt es die
Möglichkeit, zu stilisieren oder zu analysieren. Ersteres wird im
europäischen Film oft mit Mathieu Kassovitz’ Banlieue-Klassiker „La Haine�…
(1995) assoziiert. Rabah Ameur-Zaïmeche setzte dem in seinem Regiedebüt
„Wesh wesh, qu’est-ce qui se passe?“ (2002) dezidiert ein realistischeres
Bild des Lebens in der Banlieue entgegen.
Wnendt entscheidet sich für keine der Optionen. „Sonne und Beton“ zeigt das
Leben der Jugendlichen in der Gropiusstadt als Kunstwelt, in die
vermeintliche Authentizität durch Castings auf den Straßen der Gegend
reimportiert wurde. Wer diese Welten kennt, weiß es besser, wer sie nicht
kennt, wird den Film mit der Realität verwechseln. In einigen Momenten
klingt BlingBling an, auch dafür kann sich Wnendt nicht recht entscheiden.
Für Bewohner:Innen der Berliner Neubausiedlungen wird der Spaß bei
„Sonne und Beton“ wohl vor allem darin bestehen, sich mit dem Gezeigten
abzugleichen.
Dennoch ist „Sonne und Beton“ sehenswert. Denn was der Film gut einfängt,
ist die allgemeine Hilflosigkeit. Eigentlich scheint keiner der Beteiligten
der Situation, in der sie alle leben, gewachsen zu sein. Lukas, Gino,
Julius und Sanchez ebenso wenig wie die Erwachsenen. Letztere vielleicht
noch weniger. Das zu zeigen, ist nicht wenig. Tröstlich ist an dem Film nur
der Zeitpunkt, an dem er spielt. Oder wie Lukas’ älterer Bruder sagt:
„Jetzt nicht mehr nur Beton, sondern Sonne und Beton.“ Ein guter Film, der
mit mehr Formwillen leicht ein sehr guter hätte werden können.
2 Mar 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Fabian Tietke
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