# taz.de -- „Feuchtgebiete“ im Kino: „Iiih, bäh, wow“ in Maßen | |
> David Wnendts Spielfilm „Feuchtgebiete“ rettet einiges vom | |
> emanzipatorischen Potenzial des Buches. Auch handwerklich ist der Film | |
> gut. | |
Bild: Helen (Carla Juri) experimentiert. | |
Da ist sie dann also, die logische Fortsetzung der Produktkette, die | |
unvermeidliche Verfilmung des millionenfach verkauften pinkfarbenen Buchs | |
mit dem Pflaster drauf. Dieses Buch, das seine Autorin, einstige | |
Viva-Moderatorin Charlotte Roche, noch berühmter und definitiv noch reicher | |
gemacht hat. | |
Dieses Buch, das das Literaturjahr 2008 mit seinen 30 Wochen an der Spitze | |
der Bestseller-Listen recht nachhaltig dominiert hat, weil es ihm – wie | |
„Shades of Grey“ danach – im Handstreich gelang, zugleich mediales | |
Skandalon und massenhaft verbreitete Populärkultur zu sein. Dieses Buch, | |
das sogar seine Autorin für „eigentlich unverfilmbar“ hielt. | |
Das Marketing für die Kinoadaption, an der bereits seit 2009, auch mit | |
Mitteln aus Filmfördertöpfen, im raunenden Geheimen gearbeitet wurde, | |
versucht nun, den mittlerweile verebbten Buzz um den Roman wieder | |
anschwellen zu lassen. Da wird gemeldet, Hauptdarstellerin Carla Juri habe | |
beim Dreh „ein Vagina-Double“ gehabt. | |
Da kreischt der Boulevard schon im Vorfeld lustvoll, dass der „Skandalfilm | |
des Jahres“ alle „Ekelgrenzen“ überschreite. Da sperrt das diensteifrige | |
Sozialmedium Facebook tatsächlich den Trailer, angeblich wegen seiner | |
„aufreizenden und sexuell expliziten Inhalte“. | |
Die Marketingmaschine läuft wie geschmiert. Nur das Filmfestival von | |
Locarno spielt nicht mit und bedenkt die „Feuchtgebiete“, die im Wettbewerb | |
liefen und voreilig in der Favoritenrolle gehandelt wurden, mit keinem der | |
mannigfaltigen Haupt- und Nebenpreise. | |
Vielleicht ist es eben doch nicht genug, einen Film nur deswegen zu machen, | |
weil man beweisen will, dass man in der Lage ist, eine Romanadaption | |
hinzukriegen, die der durchschnittlichsten aller Erwartungen absolut | |
gerecht wird. Nämlich: ein vitales, amüsantes, junges, schnelles, | |
unverblümtes, bloß nicht mutloses, oh nein, sondern dosiert zeigefreudiges | |
und die Durchschnittsdeutschen-Ekelschwelle exakt minimal unterschreitendes | |
Mainstream-Produkt auf die Reihe zu kriegen. Inklusive etwas | |
ausgeschmücktem romantischem Happy End. | |
## Stolz auf die jugendliche Coolness | |
Es also zu schaffen, genau den Punkt zu treffen, bei dem einige wenige | |
entrüstet den Kinosaal verlassen, die meisten aber, voll des Stolzes auf | |
ihre ach so jugendliche Coolness und Abgebrühtheit, im Sessel sitzen | |
bleiben – um dann tatsächlich mit einem kathartischen Kuss im strömenden | |
Regen und dem hippieesken Aufbruch in ein neues, aufgeräumteres Leben im | |
VW-Bus belohnt zu werden. | |
Regisseur David Wnendt, der mit seinem sehenswerten Hochschulabschlussfilm | |
„Kriegerin“ (2011) über eine junge Frau in der Neonazi-Szene | |
Ostdeutschlands zu Bekanntheit gelangte und auch am | |
„Feuchtgebiete“-Drehbuch mitschrieb, hat seine schwierige Aufgabe nach | |
Kassenschlagerkriterien ziemlich souverän gelöst. Er weicht den knalligen | |
„Iiih, bäh, wow“-Szenen des Buchs nicht aus, sondern gibt der Meute, was | |
sie will. Nicht zu wenig, nicht zu viel. | |
Und Wnendt nutzt sein Medium gut, um die diversen Schwächen des Buchs | |
auszumerzen. So blieb die Icherzählerin Helen im Buch doch immer | |
gesichtslos, wenig greifbar. Da ist Wendts Ins-Bild-Setzung eine durchaus | |
angenehm konkrete Angelegenheit, und Hauptdarstellerin Carla Juri als | |
Skateboard fahrende Helen mit durchlöcherten Bad-Religion-Shirts, | |
abblätternden Nägeln und pinkfarbener Unterhose als verjüngte Ausgabe der | |
Elektrorockmusikerin Peaches ein Mädchen, das erst mal für sich steht. | |
## Vögeln gegen die Angst | |
Charmant gleitet die im Tessin aufgewachsene Schweizerin Carla Juri als | |
einzelgängerische, neugierige Helen durch die episodischen Szenen. Sie ist | |
hier eine junge Frau am Ende ihrer Teenagerjahre, die gegen böse | |
Erinnerungen, seelische Verletzungen, getrennte Eltern, Einsamkeit und | |
Angst vor dem Sterben anflirtet, -vögelt, -feiert und -experimentiert. | |
Mit ihren 27 Jahren sieht Juri manchmal zu alt aus für ihre 18-jährige | |
Figur – und ihr italienisch-schweizerdeutscher Akzent steht oft zu quer zum | |
Berliner Setting. Aber Juris Helen hat eine gewisse | |
„Straßenglaubwürdigkeit“ und ist weder zu einer total durchgeknallten Tus… | |
noch einem unerträglichen Naivchen geworden, was bei Roches unentschiedener | |
Konturierung durchaus hätte passieren können. | |
Auch in handwerklicher Hinsicht ist der Film besser als das Buch. Die | |
unerträglichen Längen des Romans, seine so unlektoriert wirkende extreme | |
Verlangsamung in der zweiten Hälfte, bleiben dem Kinopublikum über weite | |
Strecken erspart. Einige Motive des Buchs – Helens absichtlich | |
vernachlässigte Intimhygiene und ihr Avokadokern-Fetisch – werden | |
einigermaßen fantasievoll zu kurzen, poppigen Animationen verdichtet. Das | |
filmische Mittel der Rückblende steht der dramaturgischen Konsistenz auch | |
besser zu Gesicht als Roches unvermittelt eingestreute Reflexions- und | |
Vergangenheitsschnipsel. | |
## Schamfreie Icherzählerin als versehrtes Scheidungskind | |
Die Szenen sind gut zusammengebaut aus dem Flickwerk des Romans, ein paar | |
zusätzliche Episoden sind schlüssig, und die NebendarstellerInnen – Meret | |
Becker als Mutter, Axel Milberg als Vater, Edgar Selge als Proktologe, | |
Marlen Kruse als beste Freundin und Christoph Letkowski als Robin – machen | |
einen wirklich guten Job. | |
Überraschend baut der Film auch das, was bei dem Roman am ärgerlichsten | |
war, zu seiner größten Stärke aus. Denn es war grauenvoll, wie Roche den | |
quasipornografischen Glamour und den Kitzel der Grenzüberschreitung, aber | |
auch die schöne Offenheit im tabulosen Sprechen über weibliche | |
Körperhaftigkeit und Helens Experimentierfreude hinterrücks an eine lahme, | |
altmodisch psychologisierende Erklärung auslieferte. | |
Schließlich schälte sich die so schön schamfreie Icherzählerin als | |
versehrtes Scheidungskind heraus, dessen unübliches Verhalten als | |
medizinisch behandlungswürdiges Symptom wegerklärt wurde. Ein sehr gemeiner | |
Verrat der Autorin am emanzipatorischen Potenzial ihrer Protagonistin. | |
Die Verfilmung ändert an diesem Setting grundsätzlich nichts. Auch hier | |
schleppt Helen ein seelisch unverarbeitetes Päckchen mit sich herum, das | |
leider als Erklärung für ihre Umtriebigkeit herhalten muss. Trotzdem: Dem | |
Film verzeiht man das eher. Denn durch die Bebilderung der bei Roche nur | |
angedeuteten Kindheitserlebnisse richtet sich das Augenmerk hier so sehr | |
auf die familiäre Situation, dass dabei plötzlich ein einigermaßen | |
taugliches Coming-of-Age-Drama herauskommt. | |
## Rückgriff auf ein stilistisches Mittel des Horrorfilms | |
Die vielen Seitenblicke auf den unaufmerksamen, egoman-lebemännischen | |
Vater, die fahl-bigotte, depressive Mutter und die unwahrscheinliche | |
Freundschaft zur freundlichen Corinna sind für die Konturierung der Figur | |
Helens eine große Bereicherung. | |
Der Rückgriff auf ein stilistisches Mittel des Horrorfilms – die | |
hochkommende Erinnerung an ein verdrängtes Schrecknis, die immer wieder | |
abbricht, aber mit jeder Wiederholung mehr preisgibt – generiert ein | |
griffiges Zentraltrauma, das, sobald die Erinnerung dann vollständig ist, | |
auch gleich überwunden werden kann. Was der Figur Helens eine richtige | |
Entwicklung beschert, die das Buch ihr so nicht zugestand. | |
Sicher, alles in allem ist der Film dem Buch doch noch so hörig, dass er | |
die „Ekelszenen“ als eigentlich zu grelles Dekor für die ja immer noch | |
recht flache Geschichte stilisiert. Weswegen man sich beim Zusehen häufig | |
so fühlt, als riefe dieser Film einen spätpubertären Wettbewerb aus, als | |
tanze er vor einem herum, schüttele seine kleinen Fäuste und riefe: Na, | |
kommst du klar mit der platzenden Wundblase am Anus? Und den blutigen | |
OP-Resten? | |
Dieses Gefühl der knapp am wahren Gegner vorbei ins Leere zielenden | |
Provokation nervt genauso wie das filmüberreife Ende mit dem Pfleger | |
(ausgerechnet! Hallo, Feminismus?) im Regen. Letztlich ist dieser so | |
skandalöse Film genau wie das so skandalöse Buch nur in homöopathischen, | |
rein dekorativen Dosen skandalös. Und damit entsetzlich mutlos. | |
20 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Riesselmann | |
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Roman | |
Film | |
Charlotte Roche | |
Venedig | |
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Filmfestival | |
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