# taz.de -- Kinotipp der Woche: Abends in Feuerland | |
> Das Kurzfilmprogramm „Feierabend“ im Kino Krokodil zeigt proletarische | |
> Lebensläufe zwischen Arbeitsalltag und Freizeitgestaltung. | |
Bild: „Feierabend“ (DDR 1964, R: Karl Gass) | |
Knatternd brechen vier Motorräder aus der Baustelle der Großraffinerie in | |
Schwedt in die Weiten der Landschaft aus. 1964 zeigt der | |
DDR-Dokumentarfilmer Karl Gass in „Feierabend“ junge Arbeiter, die in | |
Schwedt in einem Barackenlager leben und tagsüber die Raffinerie aufbauen, | |
jenseits der Arbeit. | |
Gass setzt die Aktivitäten der Arbeiter in Kontrast: einige tragen die | |
Bierkästen aus dem Konsum in die Baracken, andere bessern Kleidung aus, | |
spielen Tischtennis und Billard, in der Kneipe fließt das Bier, während es | |
andere in die Bücherei zieht oder sie sich mit Kontrabass und Saxophon | |
abplagen. Gass zeigt diese Szenen ohne Kommentar, setzt sie jedoch durch | |
die Musik, die darunter gelegt ist, voneinander ab. | |
„Feierabend“ ist ein empathischer Film über das Leben in kargen | |
Verhältnissen – mit klarem Blick für die Probleme des Alkoholkonsums, aber | |
auch voller Interesse für die Realitäten. Gass’ Film ist Teil eines | |
Kurzfilmprogramms zum Thema „Feierabend“, das das [1][Kino Krokodil] am | |
Mittwochabend zeigt. | |
Das Programm beginnt mit der Mutter aller Filme über Arbeit und | |
Arbeiter_innen im Film. 1895 drehen die Brüder Lumière die Arbeiter_innen | |
ihrer Fabrik für Fotoplatten in Lyon beim Gang in die Mittagspause. | |
„Arbeiter verlassen die Fabrik“ zeigt Inszenierung und Selbstinszenierung, | |
das Ringen zwischen würdig gemessenem Schritt und der Eile auf dem Weg in | |
die Pause. | |
1988 zeigt die polnische Dokumentarfilmerin Irena Kamieńska in „Dzień za | |
dniem“ (Tag für Tag) zwei Schwestern, die seit 36 Jahren in einem scheinbar | |
endlosen Strom Hohlbausteine aus Beton von Stapeln auf einen Laster und vom | |
Laster auf Stapel an anderen Orten laden. | |
Kamieńskas unter anderem bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen mehrfach | |
ausgezeichneter Film kombiniert die Aufnahmen der unerschütterlichen | |
Routinen der Arbeit mit Bildern des Wiederaufbaus von Warschau nach den | |
Zerstörungen, die die Deutschen hinterlassen haben. | |
Heute fällt es schwer, sich die Gegend in der Oranienburger Vorstadt | |
zwischen Torstraße, Ackerstraße und Chausseestraße als das Industrieviertel | |
vorzustellen, zu dem es Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts wurde. Wegen der | |
Anzahl der Fabriken hieß die Gegend umgangssprachlich Feuerland. | |
1987, zwei Jahre vor dem Ende der DDR dreht Volker Koepp den Umbruch in der | |
Gegend, die unzähligen Bauarbeiten, die den Aufschwung Ostberlins in den | |
1980ern begleiteten, nicht zuletzt die Rekonstruktion des Stadtbad Mitte, | |
das kurz nach der Wende wiedereröffnet wurde. | |
Fußballfans ziehen zum Stadion der Weltjugend, einer der Fans reckt | |
beharrlich einen gestreckten Arm. Im Borsig-Eck, Tieck- Ecke Borsigstraße, | |
treffen sich tagein, tagaus die Rentner und die „Krankgeschriebenen“ wie | |
der Wirt elegant formuliert. Einer von ihnen ist der ehemalige | |
Schachmeister Kutte. Auf Nachfrage Koepps erzählt er kurz von seiner | |
Verhaftung durch die Gestapo 1935, dann driftet der Film wieder zurück in | |
die Gegenwart. | |
Das Kurzfilmprogramm des Krokodil schlägt einen Bogen durch die Jahrzehnte | |
über proletarische Lebensläufe und Formen der Freizeitgestaltung in | |
Gesellschaften, in denen Arbeit als Irrweg der Identitätsstiftung zentral | |
war. Zugleich präsentiert das Programm vier Formen dokumentarischen | |
Arbeitens, die jede für sich einen Mehrwert für die Gegenwart von heute | |
bieten. | |
22 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://kino-krokodil.de/ | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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