# taz.de -- Steven Spielbergs Film „Die Fabelmans“: Sie nannten ihn „Bage… | |
> Steven Spielberg wagt sich in „Die Fabelmans“ an die eigene | |
> Familiengeschichte. Sein Alterswerk ist klassisch erzählt, politisch aber | |
> noch sehr wach. | |
Bild: Frühe Erfolge: der junge Steven Spielberg (Gabriel LaBelle) beim Dreh | |
Als das Licht wieder angeht, ist das Kind fassungslos. Ein Zugunglück aus | |
Cecil B. DeMilles „Die größte Schau der Welt“ ist für den jungen Sammy | |
Fabelman bei seinem ersten Kinobesuch im Januar 1952 ein traumatisches | |
Erlebnis. Keine Spur von den Freuden des Kinos, die ihm seine Eltern vor | |
der Vorstellung versprochen haben. | |
Auf der Rückfahrt durch die verregnete Kleinstadt in New Jersey starrt er | |
schweigend vor sich hin, in den folgenden Nächten holen ihn das Auto, das | |
von den Gleisen gefegt wird, die entgleisten Waggons immer wieder ein. So | |
lange, bis seine Eltern seinem Drängen nachgeben und ihm zum nächsten | |
Chanukka eine Spielzeugeisenbahn schenken. | |
Die Bahn war das notwendige Requisit, um die Filmszene nachzustellen und | |
den nachgestellten Unfall mit der 8mm-Kamera seines Vaters zu filmen. Sammy | |
Fabelman ist das Alter Ego von Regisseur Steven Spielberg in dessen neuem | |
Film, dem fiktionalisiert autobiografischen „Die Fabelmans“. | |
Von diesem Moment an filmt Sammy unablässlich, wickelt seine Schwestern in | |
Toilettenpapier, um Mumienfilme zu drehen, filmt gespielte OPs. Spielbergs | |
Film zeigt das Leben der Familie in New Jersey, das Aufwachsen von Sammy | |
und seinen drei Schwestern Reggie, Natalie und Lisa. Das Leben ist bestimmt | |
vom Beruf des Vaters, Burt Fabelman (Paul Dano), der als Elektroingenieur | |
arbeitet, nebenher in seiner Freizeit Radios repariert und Mitte der 1950er | |
Jahre beginnt, für amerikanische Elektronikkonzerne erste computerartige | |
Schaltungen zu entwickeln. | |
Mitzi Fabelman (Michelle Williams), die Mutter, hat mit der Geburt der | |
Kinder ihre Karriere als Konzertpianistin hintangestellt. Als der Vater das | |
Angebot bekommt, sich auf einer neuen Stelle in Arizona ganz auf die | |
Entwicklung von Computern zu konzentrieren, zieht die Familie ein erstes | |
Mal um. Auf Drängen der Mutter verschafft der Vater auch seinem besten | |
Freund Bennie Loewy (Seth Rogen) dort einen Job. | |
## Die Eltern klassisch-heteronormativ | |
„Die Fabelmans“ beginnt als Historienfilm über eine jüdische Familie in d… | |
1950er Jahren, jener Zeit, in der die bis in die 1990er Jahre dominanten | |
Weichenstellungen der US-Politik erfolgten. Die Geschlechterverhältnisse | |
der Eltern scheinen klassisch-heteronormativ. Auf der einen Seite der etwas | |
schweigsame, aber zugewandte Burt mit seiner Karriere in der zentralen | |
Zukunftsindustrie des Landes. Auf der anderen die liebevolle, | |
verständnisvolle Mitzi, die ihre Selbstverwirklichung in der klassischen | |
Musik zugunsten einer Rolle als Hausfrau und Mutter pausieren lässt. | |
Sammy dreht in den trockenen Landschaften Arizonas mit seinen | |
Pfadfinderfreunden immer ambitioniertere Filme. Für einen Western bläst er | |
Unmengen von Staub in eine Touristenkutsche und angeregt von einer | |
Nachmittagsvorführung von John Fords „Der Mann, der Liberty Valance | |
erschoss“ entwickelt er eine Technik, um den Film in den Schussszenen zum | |
Blitzen zu bringen. | |
Ein Campingtrip der Familie mit „Onkel Bennie“ wird zum Wendepunkt. Sammy | |
(ab jetzt als Jugendlicher gespielt von Gabriel LaBelle) filmt auf dem | |
Ausflug seine Geschwister und seine Mutter beim Rumalbern. Wenig später | |
stirbt Mitzis Mutter und Sammys Vater bittet ihn, aus den Aufnahmen des | |
Campingtrips einen Film zu montieren, um die Mutter aufzuheitern. | |
Doch beim Sichten des Materials fällt Sammy eine Vertrautheit zwischen | |
seiner Mutter und dem besten Freund seines Vaters auf, die über einen | |
freundschaftlichen Umgang weit hinaus geht. Sammy ist nicht in der Lage, | |
die Beziehung zwischen seiner Mutter und dem Freund der Familie zu | |
thematisieren, und beginnt sie zu schneiden. Erst nach einem Streit | |
konfrontiert Sammy seine Mutter mit den Aufnahmen. | |
## High School als Albtraum | |
Passenderweise bekommt der Vater wenig später das Angebot, zu IBM in | |
Kalifornien zu wechseln. Die Familie zieht ein zweites Mal um und kommt | |
zunächst in einem gemieteten Haus unter, während das eigentliche Traumhaus | |
noch fertig gebaut wird. Für die Kinder der Familie beginnt die neue High | |
School als Albtraum. Sie sind als einzige Jüd_innen der Gegend mit einem | |
alltäglichen Antisemitismus konfrontiert und sehnen sich zurück nach dem | |
Leben in Arizona. Wieder wird ein Filmprojekt für Sammy zum Rettungsanker: | |
Kurz vor dem Schulabschluss dreht er einen Ausflug seines Jahrgangs ans | |
Meer. | |
Mit dem Plan zu einem autobiografischen Film trug sich Spielberg schon seit | |
der Jahrtausendwende, als seine Schwester Anne Spielberg eine erste Fassung | |
schrieb. 2019 während der Arbeit an [1][„West Side Story“] nahm Spielberg | |
das Projekt mit seinem langjährigen Mitstreiter Tony Kushner wieder auf. | |
„Die Fabelmans“ ist ein visuell altmodischer Film, der bisweilen klassische | |
Familienmelodramen wie David Leans „This Happy Breed“ von 1944 anklingen | |
lässt. | |
Mehr noch als in „West Side Story“ erweckt der Film den Eindruck, dass | |
Spielbergs Filmschaffen beim Alterswerk angekommen ist. In „Die Fabelmans“ | |
zeigt sich deutlicher als in Spielbergs übrigen Filmen der letzten zehn | |
Jahre die Kraft seines Ansatzes, mitten in einem Mainstreamfilm scheinbar | |
belanglose Elemente, die das Ambiente der Handlung bilden, mit politischen | |
Untertönen aufzuladen. | |
So [2][zieht sich die Kritik an bestimmten Formen von Männlichkeit bereits | |
seit „Duell“ von 1971 durch das Werk Spielbergs], und drei Jahre nach der | |
einseitig männlichen Sicht auf eine Scheidung in „Kramer gegen Kramer“ | |
zeigte Spielberg in „E.T.“ eine frisch von ihrem Partner verlassene Frau, | |
die ihre Kinder nun neben ihrem Beruf allein großzieht, während diese | |
wiederum einen Außerirdischen vor ihr verstecken. | |
## Grassierender Westküsten-Antisemitismus | |
Spielbergs Hinwendung zu einer Darstellung jüdischen Lebens im 20. | |
Jahrhundert ab den 1990er Jahren in [3][„Schindlers Liste“ (1992)], „Der | |
Soldat James Ryan“ (1998) und „München“ (2005) wurde in den letzten Jahr… | |
vermehrt unter die Darstellung einer weißen Mittelschicht in seinen Filmen | |
subsumiert oder – im Falle von „Schindlers Liste“ – ausgerechnet von ei… | |
dem Antisemitismus nicht abgeneigten Regisseur wie Jean-Luc Godard als | |
Kommerzialisierung des Holocaust kritisiert. | |
Die Erinnerung an den grassierenden Westküsten-Antisemitismus in „Die | |
Fabelmans“ zeigt einmal mehr, wie sehr diese Kritiken danebenliegen. Nicht | |
alle, die heute einer weißen Mittelschicht zugeschlagen werden, waren das | |
zu allen Zeiten ihres Lebens. | |
„Die Fabelmans“ ist ein zärtlicher Film, der seine Figuren und ihre | |
Handlungsweisen mit viel Liebe zeichnet. In deren Zeichnung ist | |
unübersehbar, dass Spielbergs Karriere zwar parallel mit dem New Hollywood | |
der 1960er und 1970er Jahre begann, die Wurzeln seines Kinos aber in die | |
Jahre davor zurückreichen. Spielberg wurde immer wieder für seine | |
Konventionalität geschmäht. Zugleich war sein Kino immer von dem Versuch | |
geprägt, durch die Kontrolle über die Produktion eigene Formen des | |
Erzählens innerhalb der US-Filmindustrie möglich zu machen. | |
Wie schon „West Side Story“ markiert Spielbergs Alterswerk nun mit „Die | |
Fabelmans“ einen Abgesang auf das Mainstreamkino als Projekt liberaler | |
Aussöhnung zu Kommerzzwecken, der sich überraschend wohltuend von der | |
Plottwist-Huberei von Marvels Film gewordenen Geldanlagen abhebt. | |
Als Zuschauer sollte es einen eher traurig stimmen, dass diese aus der | |
US-Filmgeschichte gespeiste Konvention angesichts des Marktforschungskinos | |
der Gegenwart immer mehr zu einem Privatprojekt verkommen ist. Eine | |
Modernisierung dieses Ansatzes wird von Spielberg nicht mehr zu erwarten | |
sein. So immerhin halten seine Filme die Erinnerung an diese Art Kino wach. | |
9 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Remake-der-West-Side-Story-im-Kino/!5814623 | |
[2] /Berlinale-Hommage-an-Steven-Spielberg/!5914001 | |
[3] /Wiederauffuehrung-von-Schindlers-Liste/!5565088 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
## TAGS | |
Spielfilm | |
Autobiografie | |
Steven Spielberg | |
Antisemitismus | |
taz Plan | |
taz Plan | |
taz Plan | |
Film | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Spielfilm | |
Holocaust | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinoempfehlungen für Berlin: Von Avantgarde bis Screwball | |
„Can and Me“ erzählt von der frühen deutschen Punk-Band Can, „Close“ … | |
einer jungen Freudschaft. Deutlich lustiger: „Ein Fisch namens Wanda“. | |
Kinoempfehlungen für Berlin: Kleine Fluchten und großer Horror | |
„Berlinized“ dokumentiert das Verschwinden kreativer Freiräume. Robert | |
Siodmaks „The Spiral Staircase“ setzt in „low key“-Licht Horrorräume in | |
Szene. | |
Kinotipp der Woche: Abends in Feuerland | |
Das Kurzfilmprogramm „Feierabend“ im Kino Krokodil zeigt proletarische | |
Lebensläufe zwischen Arbeitsalltag und Freizeitgestaltung. | |
Kino-Film „65“ mit Adam Driver: Weltraummission in der Kreidezeit | |
Früher war eben nicht alles besser: Adam Driver muss sich in „65“ als | |
Außerirdischer gegen Dinosaurier und größeres Ungemach auf der Erde | |
behaupten. | |
Berlinale-Hommage an Steven Spielberg: Männer, die keine Helden sind | |
Der Ehrenbär der Berlinale geht an Steven Spielberg für dessen Lebenswerk. | |
Auch seinen jüngsten Film, „Die Fabelmans“, hat das Festival im Programm. | |
Remake der „West Side Story“ im Kino: Kein Ort für die Hoffnung | |
Steven Spielbergs Remake des Musicals „West Side Story“ ist ein rasantes | |
Meisterwerk. Kulturpessimismus trifft darin auf optische Opulenz. | |
Wiederaufführung von „Schindlers Liste“: Die Würde des Menschen | |
Unser Autor schrieb über Steven Spielbergs Holocaust-Film vor 25 Jahren in | |
der taz. Nun, zum Jubiläum, denkt er noch einmal über ihn nach. |