# taz.de -- Kinotipp der Woche: Nach eigenen Regeln | |
> Die ukrainische Regisseurin Kira Muratowa beschrieb Gesellschaften im | |
> Zerfall. Das Arsenal widmet ihrem vielfältigen Werk eine Retrospektive. | |
Bild: Zu sehen am 18. April: Kira Muratowas „Three Stories“ von 1997 | |
Mit ihren schillernden Oberflächen, ihrer Kurzlebigkeit, aber auch ihrer | |
allgegenwärtigen Verfügbarkeit scheinen Seifenblasen auf Filmemacher_innen | |
in Zeiten des Umbruchs eine besondere Faszination auszuüben. Anfang der | |
1930er Jahre machte Slatan Dudow einen Verkäufer von Seifenblasen in seinem | |
letzten Film, der vor dem Krieg in Deutschland begonnen wurde, zu einer | |
Parabel über die Mechanismen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus | |
begünstigten. | |
Auch Kira Muratowas Perestrojka-Film „Astenitscheski sindrom“ („The | |
Asthenic Syndrome“) beginnt mit Seifenblasen, die auf einen Puppenkopf | |
herunterregnen. Neben der Puppe ein umgestürzter Kinderwagen – als wäre | |
jener berühmte Kinderwagen, den Sergei Eisenstein in seinem „Panzerkreuzer | |
Potemkin“ vor den Stiefeln des Zarismus die Stufen von Odessa | |
herunterrollen ließ, sechzig Jahre später endgültig umgestürzt, die | |
Seifenblase der Sowjetunion geplatzt. | |
„Astenitscheski sindrom“ läuft am Samstag im Arsenal als Teil einer | |
Retrospektive des Werks von Muratowa (1934–2018), die schon seit Anfang des | |
Monats läuft. Mit Gesprächen, die am Gegenüber abprallen, und zu Monologen | |
werden, und unmotivierten Gewaltausbrüchen zeigt Muratowas eine | |
Gesellschaft im Zerfall. | |
„Muratova war 37 Jahre alt, als man ihr sagte, sie dürfe keine Filme mehr | |
machen“, fasst Sergei Loznitsa in seinem Nachruf im Filmcomment das Ende | |
der zweiten Phase von Muratowas Karriere als Filmemacherin zusammen. | |
1959 schließt sie die Filmhochschule in Moskau ab. Ihre ersten Filme | |
realisiert sie gemeinsam mit ihrem ersten Ehemann Oleksandr Muratow. Die | |
Ehe endet, Muratowa wechselt an die Dowschenko Film Studios in Kyjiw, 1967 | |
folgt ihr erster eigener Film, bei dem sie alleine Regie führt: „Korotkije | |
wstretschi“ („Brief Encounters“) über zwei Frauen, die denselben Mann | |
lieben. | |
Ihr nächster Film „Dolgije prowody“ („The Long Farewell“) über die | |
allmähliche Abnabelung eines Sohnes von seiner Mutter und die Verletzungen, | |
die das für die Mutter bedeutet. „‚So kann man keinen Film montieren! Das | |
ist gegen die Regeln… Das kann nicht funktionieren, aber seht: es | |
funktioniert. | |
Es funktioniert wunderbar.‘“, zitiert Loznitsa seine Dozentin an der | |
Moskauer Filmhochschule Jahre später, um mit dem Satz fortzufahren: „Die | |
erste Lektion, die ich von Kira Muratowa gelernt habe, war: man macht sich | |
immer seine eigenen Regeln.“ | |
Ab Ende der 1980er Jahre, mit dem Wegfall der sowjetischen | |
Produktionspolitik, verdichtet sich Muratowas Regiekarriere, bis 2012 folgt | |
alle zwei, drei Jahre ein neuer Film. Spätestens ab „Tri istorii“ („Three | |
Stories“, 1997) entwickeln ihre Filme eine neue Theatralität, die Dialoge, | |
die in ihren sowjetischen Filmen ins Nichts gingen, stehen nun wie | |
Setzungen im Raum. | |
Der Film zeigt in drei Episoden das Morden dreier scheinbar harmloser | |
Menschen. „Tschechowskije motiwy“ („Chekhov’s Motifs“) von 2002 verst… | |
diese Wende zum Theatralen in der Auseinandersetzung mit zwei Texten Anton | |
Tschechows. | |
Das Arsenal zeigt zehn der fünfzehn Filme der Regisseurin, die zwischen | |
1967 und 2012 entstanden. In dieser breiten Auswahl wird die Vielfältigkeit | |
des Werks von Kira Muratowa sichtbar, einer Regisseurin, deren Filme in | |
Deutschland nur selten gezeigt werden. | |
12 Apr 2023 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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