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# taz.de -- Opposition in Russland: Sieben Jahre Straflager
> Russland geht immer öfter gegen Gegner von Putins Krieg gegen die Ukraine
> vor. Der Straftatbestand lautet „Falschnachrichten über die russische
> Armee“.
Bild: Festnahme eines Demonstranten bei einer nicht genehmigten Protestaktion g…
Das ganze Jahr 2022 über hat die russische Staatsmacht innerhalb des Landes
Gegner der „militärischen Spezialoperation“ bekämpft. Seit Jahresbeginn
wurden 180 Strafverfahren wegen der Verbreitung sogenannter
Falschinformationen über das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine
eingeleitet. Fast die Hälfte der Angeklagten hat das Land entweder
verlassen oder befindet sich in Untersuchungshaft. Die aufsehenerregendsten
„Fake“-Fälle wurden gegen Oppositionspolitiker und Aktivisten vorgebracht,
aber mehr als die Hälfte der Angeklagten sind ganz gewöhnliche Menschen und
nicht Personen des öffentlichen Lebens.
Seit dem 4. März 2022 ist die Verbreitung „wissentlich falscher
Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte“ in der Ukraine
ein Straftatbestand. Sofort begann das Untersuchungskomitee, den
„Fake“-Artikel 207.3 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation
anzuwenden.
Als Beweise dienen in der Regel Informationen des russischen
Verteidigungsministeriums und sprachliche Expertisen, die die Aussage des
Angeklagten und die offizielle Position der Behörden vergleichen. Die
Rechtspraxis in „Fake“-Fällen nimmt allmählich Gestalt an – und das
eindeutig mit anklagender Tendenz. Die härtesten Urteile werden von
Moskauer Gerichten verhängt.
Der lokale Abgeordnete Alexei Gorinow (sieben Jahre Haft) und der Politiker
Ilja Jaschin (acht Jahre und sechs Monate Gefängnis) haben bereits hohe
Strafen erhalten. In den Regionen fällten die Gerichte weniger blutrünstige
Urteile. So wurde ein Einwohner von Transbaikalien mit einer Geldstrafe von
1 Million Rubel (umgerechnet 13.300 Euro) belegt.
Auf der Krim erhielt ein ehemaliger Mitarbeiter des
Katastrophenschutzministeriums (MTschS) eine Bewährungsstrafe. In Orenburg
wurde ein 22-jähriger Mann zu acht Monaten Besserungsarbeit nebst Abgabe
von 10 Prozent seines Gehalts an den Staat verurteilt. Genau dieselbe
Strafe wurde einem Archäologen aus Omsk auferlegt.
Zu den bekannten Personen, gegen die Verfahren eingeleitet wurden, gehören
die Bloggerin Veronika Belotserkowskaja, der Medienmanager Ilja
Krasiltschik, die Journalisten Ruslan Lewiew und Maikl Naki, der Politiker
Wladimir Kara-Murza, der Journalist Alexander Newsorow, der Schriftsteller
Dmitri Gluchowski, die Künstlerin Irina Bystrowa sowie mehrere regionale
und kommunale Beamte und Abgeordnete.
## Der Polizist Semiel Wedel (Sergei Klokow)
Mitte März wurden die ersten Festgenommenen aufgrund des „Fake“-Artikels
namentlich bekannt. Einer von ihnen war der Moskauer Ex-Polizist Semiel
Wedel (Sergei Klokow). Derzeit wird sein Fall vor dem Bezirksgericht
Perowski in Moskau verhandelt. Wedel wird vorgeworfen, drei Telefonate
geführt zu haben. In einem soll er „vorsätzlich falsche Informationen“ ü…
das Vorgehen des russischen Militärs unter den Bewohnern der Krim und der
Region Moskau verbreitet haben.
Die Verteidigung hält seinen Fall für einzigartig, da erstmals eine Person
für ein Telefonat zur Rechenschaft gezogen wird. Der Fall des Ex-Polizisten
wurde bekannt, nachdem er am 22. März in U-Haft gebracht worden war.
Zunächst trat er unter dem Namen Klokow auf, sein Pass ist aber auf den
Namen Wedel ausgestellt.
Was mit ihm nach seiner Festnahme geschah, erzählte er wenige Tage später
seinem Anwalt Daniil Berman. Laut Wedel wurde ihm eine Tüte über den Kopf
gestülpt, danach wurde er zum Dezernat gebracht, wo eine Haftbescheinigung
ausgestellt wurde. Der Polizist wurde beschuldigt, militärische
Falschmeldungen aus politischem Hass verbreitet zu haben (Artikel 207.3
Teil 2 Absatz e des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation).
Die Tat wurde laut den Ermittlungen bei drei Telefonaten begangen. So habe
Wedel am 9. März 2022 „nicht identifizierte Personen in der Republik Krim
und der Region Moskau angerufen sowie öffentlich und vorsätzlich falsche
Informationen als zuverlässige Nachrichten verbreitet“.
Die Untersuchung geht davon aus, dass Wedel mit seinen Gesprächspartnern
Nachrichten besprochen hat, die sie im Internet gelesen haben. Darunter war
eine Nachricht über die Überführung getöteter russischer Soldaten von dem
Territorium der Ukraine in die Republik Belarus zwecks Verbrennung in einem
Krematorium, um deren Angehörigen keine Entschädigung zahlen zu müssen.
Zudem diskutierte Wedel laut Ermittlungen mit nicht identifizierten
Personen Nachrichten, wonach es auf dem Territorium der Ukraine keine Nazis
gebe, und die Verbreitung gefälschter Informationen seitens Russlands über
deren Anwesenheit. Ein weiteres Thema waren durch russische Soldaten
ausgelöste Explosionen im Gebiet Rostow, um zu provozieren und die eigene
Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen.
Die Abschriften von mindestens drei derartiger Gesprächen sind dem Fall
beigefügt, aber aus den Unterlagen geht nicht hervor, von wem und auf
welcher Grundlage das „Abhören“ durchgeführt wurde.
Wie das Webportal „Anwaltsstraße“ herausfand, erzählte Wedel bei den
Verhören, dass er 1984 in der ukrainischen Stadt Irpin geboren worden sei.
Einige Zeit habe er auch in dem Ort Butscha gelebt, das während der
Feindseligkeiten weltweit traurige Berühmtheit erlangte. Die Familie Wedel
sei vor langer Zeit nach Moskau gezogen, aber Freunde und Verwandte seien
in der Ukraine geblieben.
Wedel selbst fuhr einmal im Jahr dorthin, um seine Großeltern zu besuchen.
All diese Gespräche seien „emotionale politische Diskussionen“ gewesen,
sagte Wedel im Verhör. Er räumte ein, aufgrund der Nachrichten „ein
Durcheinander im Kopf“ gehabt und vielleicht „etwas verwechselt“ zu haben.
Er bestätigte, er hätte Kontakt zu Bekannten aufgenommen, um etwas über das
Schicksal von Freunden zu erfahren. Das alles bewahrte ihn jedoch nicht
davor, in Haft genommen zu werden. Seit dem 18. März sitzt der ehemalige
Polizist in Untersuchungshaft. Sein Fall kommt jetzt zum zweiten Mal vor
Gericht. Am 10. August gab das Gericht von Perowsky die Dokumente an die
Staatsanwaltschaft zurück, um Ungenauigkeiten in der Anklageschrift
beseitigen zu lassen. Wedels Urteil ergeht 2023.
## Der lokale Abgeordnete Alexei Gorinow
Ein weiteres hochkarätiges Verfahren wurde gegen den Stadtabgeordneten des
Moskauer Bezirks Krasnoselski, Alexei Gorinow, eingeleitet. Die hohe
Haftstrafe, zu der ihn das Gericht verurteilte, schockierte alle. Er bekam
sieben Jahren Gefängnis, weil er sich während einer Sitzung der
Abgeordneten gegen die Durchführung eines Malwettbewerbs für Kinder
ausgesprochen hatte, da er dies zu einem solchen Zeitpunkt für unangemessen
hielt. Gorinow wurde am 26. April festgenommen und kam per
Gerichtsbeschluss am nächsten Tag in Untersuchungshaft.
Der Untersuchungsausschuss brauchte für die Ermittlung in der Strafsache
nur fünf Tage, das Meschanski-Gericht der Hauptstadt begnügte sich mit drei
Prozesssitzungen und die Staatsanwaltschaft erledigte die Vorlage von
Beweisen in ein paar Stunden. Gorinow wurde beschuldigt, „Fälschungen“
einer Gruppe von Personen verbreitet zu haben, dabei habe er seine Position
aus Gründen des politischen Hasses missbraucht.
Gorinow und die Leiterin des Stadtbezirks Krasnoselski, Elena
Kotjonotschkina, so die Version der Ermittlungsbehörden, hätten am 15. März
während einer Sitzung des Abgeordnetenrats „nach vorheriger Absprache“ eine
Reihe von Erklärungen abgegeben. Diese hätten „unwahre Daten über die
Streitkräfte der Russischen Föderation“ enthalten. Insbesondere habe
Gorinow die „Sonderoperation“ in der Ukraine als Krieg bezeichnet und vom
Tod ukrainischer Kinder gesprochen.
Diese Angaben widersprächen laut Staatsanwaltschaft den offiziellen Angaben
des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation. So hätten Gorinow
und Kotjonotschkina „eine unbegrenzte Anzahl von Menschen in die Irre
geführt“. Die Videoaufzeichnung der Sitzung wurde auf der Website und dem
YouTube-Kanal des Abgeordnetenrats veröffentlicht. Außer gegen Gorinow
wurde ein ähnliches Verfahren auch gegen Kotjonotschkina eröffnet, aber es
gelang ihr, Russland zu verlassen. Sie wurde auf die internationale
Fahndungsliste gesetzt und in Abwesenheit festgenommen.
„Von welcher Art von Freizeit und Unterhaltung ist die Rede, wenn wir jetzt
zu einer qualitativ anderen Lebensweise übergegangen sind? Wenn
Kriegshandlungen auf dem Territorium eines benachbarten souveränen Staates
stattfinden, eine Aggression unseres Landes. Können Sie uns bitte sagen:
Von welcher Art von Malwettbewerb für Kinder aus Anlass des Kindertags und
der Organisation von Tanzprogrammen aus Anlass des Tags des Sieges reden
wir, wenn jeden Tag Kinder sterben? […] Ich glaube, dass alle Bemühungen
der Zivilgesellschaft darauf gerichtet sein sollten, den Krieg zu beenden
und die russischen Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Wenn einzelne Punkte
der Pläne diesen Themen gewidmet gewesen wären, hätte ich gerne abgestimmt.
Aber so werde ich persönlich nicht abstimmen, alles Weitere liegt in ihrem
Ermessen “, sagte Gorinow.
Für diese Äußerungen verurteilte Richterin Oksana Mendelejewa den
Abgeordneten zu sieben Jahren Strafkolonie. Im September reduzierte das
Moskauer Stadtgericht Gorinows Haftstrafe um einen Monat und entfernte den
Punkt „vorherige Absprache“ aus der Anklage.
## Der Rechtsanwalt Dmitri Talantow
Im Juni wurde ein „Fake“-Verfahren gegen Dmitri Talantow, den Präsidenten
der Anwaltskammer der Republik Udmurtien, eröffnet. Talantow wurde in
Ischewsk festgenommen, Sicherheitskräfte führten Durchsuchungen an mehreren
Adressen durch, verhörten den Anwalt und brachten ihn am nächsten Tag nach
Moskau. Dort schickte ihn ein Gericht in Untersuchungshaft.
Mehrfach hatte Talantow in sozialen Netzwerken seine Antikriegsposition zum
Ausdruck gebracht. Einen Streik in einem Einkaufszentrum in Krementschuk
kommentierte er wie folgt: „Der heutige Horror in Krementschuk ist auch
Teil der Entnazifizierung? Oder ist es Faschismus?“ Bereits im April gab es
gegen den Anwalt erste Anzeigen wegen Veröffentlichungen in sozialen
Netzwerken. Damals, berichtete Talantow, habe die Polizei Überprüfungen
durchgeführt und von ihm Erklärungen gefordert.
Im Sommer wurde jedoch ein ernsteres Verfahren eröffnet – nach der Anzeige
des Mitarbeiters der Military Review, Roman Skomorochow.
Am 3. April veröffentlichte Talantow einen Post auf seiner Facebook-Seite,
in dem er die Aktionen der russischen Armee in Mariupol, Irpin und Butscha
als „Nazipraktiken“ bezeichnete. Auf diesen Post und andere Aussagen von
Talantow wurden die Strafverfolgungsbehörden durch die Anzeige aufmerksam.
Zunächst wurde Talantow angeklagt, bei drei Anlässen militärische
Fälschungen aus politischem Hass verbreitet zu haben. Bis September wurden
die Anklagen verschärft und zwei weitere Anlässe hinzugefügt. Der Vorwurf
lautete auf Anstiftung zum Hass unter Ausnutzung der offiziellen Position.
Im Oktober wurde die Untersuchung des Falls abgeschlossen und die
Unterlagen wurden dem Tscheremuschkinski-Gericht in Moskau übergeben. Es
stellte sich jedoch heraus, dass die örtliche Zuständigkeit falsch
festgelegt worden war. Das Gericht entschied, den Fall nach Udmurtien, an
den Ort des „Verbrechens“, zu überweisen.
## Die Journalistin Marina Owsjannikowa
Im August wurde die ehemalige Redakteurin des Ersten Kanals, [1][Marina
Owsjannikowa], zur Angeklagten in dem „Fake News“-Fall für einen
Antikriegsstreikposten in der Nähe des Kremls. Das Gericht stellte sie
unter Hausarrest, aber die Journalistin wartete nicht auf das Urteil,
sondern floh aus Russland.
Die ehemalige Mitarbeiterin des föderalen Fernsehsenders wurde berühmt,
nachdem sie am 14. März in den Live-Nachrichten des Ersten Kanals hinter
die Fernsehmoderatorin Jekaterina Andreewa getreten und ein Plakat gegen
die Militäroperation auf dem Territorium der Ukraine und die Lügen der
russischen Propaganda entrollt hatte.
Gegen Owsjannikowa wurde eine Rechtsverletzung wegen eines Videos zu
Protokoll genommen, das sie aufgenommen hatte, bevor sie mit dem Plakat in
die Live-Sendung ging. Am nächsten Tag verhängte das Ostankinski-Gericht in
Moskau eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (umgerechnet rund 400
Euro). Zusätzlich zu diesem Fall wurde eine weitere Ordnungswidrigkeit zu
Protokoll genommen – wegen Diskreditierung des russischen Militärs, was
sich auf die Plakataktion im Fernsehen bezog. Doch zu einer Prüfung dieser
Verwaltungsakte kam es nicht. Das Gericht überwies die Angelegenheit zurück
an die Polizei. Nach ihrem Auftritt mit dem Plakat feuerte der Erste Kanal
Owsjannikowa.
Daraufhin ging die Journalistin für einige Zeit nach Deutschland, wo sie
sich bereit erklärte, für die Welt zu arbeiten. Anfang Juli kehrte
Owsjannikowa nach Russland zurück und begründete dies mit familiären
Umständen und dem Auslaufen des Vertrags. In der Folgezeit begann sie ihre
Antikriegsposition aktiver zu vertreten. Sie kam zum Basmanni-Gericht, als
gegen den Politiker Ilja Jaschin Zwangsmaßnahmen wegen „Fakes“ verhängt
wurden. Owsjannikowa war gekommen, um den Oppositionellen zu unterstützen,
und gab gegenüber einem Korrespondenten eine Erklärung ab. Dafür wurde sie
zu einer weiteren Geldstrafe verurteilt.
Am 15. Juli demonstrierte Owsjannikowa mit einem Antikriegsplakat auf der
Sofijski-Uferstraße gegenüber dem Kreml. Dabei wurde sie nicht
festgenommen. Ein paar Tage später jedoch statteten Polizisten ihr einen
Besuch zu Hause ab und erstellten ein weiteres Protokoll wegen
Diskreditierung der Armee. Das Moskauer Meschanski-Gericht verhängte erneut
eine Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rubel (umgerechnet 660 Euro).
Am 10. August führten Sicherheitskräfte bei Owsjannikowa wegen des
Straftatbestands militärischer „Falschmeldungen“ eine Hausdurchsuchung
durch. Dabei ging es wieder um die Protestaktion am Kreml. Nach der
Durchsuchung wurde die Journalistin zum Verhör gebracht und der
„öffentlichen Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den
Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation aus Gründen politischen
Hasses“ beschuldigt.
Am nächsten Tag stellte das Basmanni-Gericht Owsjannikowa unter Hausarrest.
Im Oktober nahm sie eine Videobotschaft für den Föderalen
Strafvollzugsdienst (FSIN) auf. Darin schlug sie vor, Präsident Putin für
die Teilmobilmachung eine Fußfessel anzulegen. Owsjannikowa gelang es, dem
Hausarrest zu entkommen und Russland zu verlassen. Sie wurde auf die
Fahndungsliste gesetzt und in Abwesenheit festgenommen.
## Der Politiker Ilja Jaschin
Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine war der ehemalige kommunale
Abgeordnete Ilja Jaschin einer der wenigen russischen Oppositionspolitiker,
die im Land blieben und eine klare Antikriegsposition einnahmen. Das rief
die Behörden auf den Plan: Gegen den Oppositionellen wurde ein Verfahren
wegen Verbreitung von „Falschnachrichten“ über die russische Armee aufgrund
von „politischem Hass“ eingeleitet. Grund war der April-Stream von Jaschin,
in dem er Kommentare von Vertretern der russischen und ukrainischen Seite
verlas.
Bereits vor der Einleitung des Verfahrens gegen den 39-jährigen
Oppositionellen wurden Rechtsverstöße wegen Diskreditierung der
Streitkräfte der Russischen Föderation (Artikel 20.3.3 des Gesetzbuchs für
Ordnungswidrigkeiten) zu Protokoll genommen, für drei davon wurde eine
Geldstrafe in Höhe von 90.000 Rubel (umgerechnet 1.200 Euro) Geldstrafe
verhängt.
Schon damals war klar, dass ein Strafverfahren vorbereitet wurde. Aber
Jaschin erklärte in zahlreichen Interviews, dass er nirgendwo hingehen und
sich verstecken werde. Dies war seine prinzipielle Position.
Die Ermittlungen in dem „Fake“-Fall dauerten fast fünf Monate. Jaschin
wurde am 12. Juli festgenommen, als er eine spezielle Haftanstalt verließ,
in der er 15 Tage lang festgehalten worden war – angeblich wegen
Ungehorsams gegenüber der Polizei. Am nächsten Tag kam er in
Untersuchungshaft. Laut der konstruierten Anklage habe Jaschin in einem
Stream auf YouTube, „indem er den Beginn sozial gefährlicher Folgen
vorhersagte, falsche Informationen über die angeblichen Verbrechen, die in
Butscha begangen wurden, verbreitet“.
Laut Staatsanwaltschaft habe sich Jaschin gleichzeitig abschätzig über die
derzeitige Regierung geäußert und angeblich gewusst, dass „die von ihm
verbreiteten Falschinformationen“ das Interesse einer Vielzahl von Menschen
wecken würden, da er eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens sei.
Anfang November wurde Jaschins Fall vor dem Meschanski-Gericht in Moskau
verhandelt. Laut den von der Staatsanwaltschaft verlesenen schriftlichen
Materialien war das Verfahren nach dem Bericht eines Detektivs vom Zentrum
E (einer Antiextremismuseinheit des Geheimdienstes FSB; d. Red.)
eingeleitet worden.
Ein Video Jaschins mit mehr als 1 Million Aufrufen war den
Strafverfolgungsbeamten im Juli aufgefallen. Ein Ermittler meinte, darin
Anzeichen eines Verbrechens zu erkennen, und ein Linguistikexperte kam zu
dem Schluss, dass die Worte des Oppositionellen über die Ermordung von
Ukrainern durch russische Truppen eindeutig Aussagen des
Verteidigungsministeriums widersprochen hätten. In der Tat wurden der
operative Mitarbeiter und der Sprachexperte seitens der
Staatsanwaltschaft Kronzeugen vor Gericht.
Jaschin selbst widersprach dem Vorwurf kategorisch und gab an, wegen seiner
oppositionellen Aktivitäten verfolgt zu werden. Er erklärte, dass er sich
bei der Schilderung der Ereignisse an die klassischen Standards des
Journalismus halte und dem Publikum nicht nur sein eigenes Werturteil
anbiete, sondern es auch mit unterschiedlichen Sichtweisen vertraut mache.
Die Richterin Oksana Gorjunowa benötigte nur vier Sitzungen, um beide
Seiten anzuhören und ein Urteil zu fällen. Sie verurteilte Jaschin zu acht
Jahren und sechs Monaten Gefängnis. Gegen das Urteil hat die Verteidigung
Berufung eingelegt.
## Die Künstlerin Alexandra Skotschilenko
Vor Kurzem hat das Wasileostrowski-Gericht in Sankt Petersburg begonnen,
den „Fake“-Fall der Künstlerin Alexandra Skotschilenko zu prüfen. Ihr wird
vorgeworfen, öffentlich „wissentlich falsche Informationen aus politischem
Hass“ verbreitet zu haben. Nachdem Preisschilder in dem Geschäft
Perekrestok durch Aufkleber mit Informationen über die Aktionen der
russischen Streitkräfte in der Ukraine ersetzt worden waren, wurde
Skotschilenko festgenommen und in ein Untersuchungsgefängnis gebracht.
In der Haft verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Künstlerin.
Ihre Anwältin Jana Nepovinnowa sagte, dass die Künstlerin unmittelbar nach
ihrer Verhaftung in eine Zelle für 18 Personen gebracht worden sei, in der
Skotschilenko trotz einer Glutenunverträglichkeit keine spezielle Diät
erhalten habe.
Die Insassinnen verboten der Künstlerin, den Kühlschrank selbst zu
öffnen. „Sascha wurde ständig gesagt, dass sie schlecht rieche. Die
Insassen zwangen sie, jeden Tag ihre gesamte Kleidung zu waschen,
einschließlich dicker Pullover und eines warmen Bademantels. Sie braucht
dafür einen halben Tag“, sagte Sonja Subbotina, Skotschilenkos Freundin.
Später wurde die Künstlerin in eine Doppelzelle verlegt, wo sie mit warmen,
glutenfreien Mahlzeiten versorgt wurde. Nachdem ihr ein Zahn gezogen worden
war, bekam Skotschilenko gesundheitliche Probleme: Eine Komplikation trat
auf, die Wunde war nicht genäht worden. Als Folge entzündete sich ein
Lymphknoten, die in Untersuchungshaft verabreichten Antibiotika und
Schmerzmittel reichten nicht aus.
Bei der ersten Sitzung des Wasileostrowski-Gerichts verlas der Staatsanwalt
die Anklage und die Anwälte legten ihre Ansichten zu dem Fall ausführlich
dar. Skotschilenko bestreitet ihre Schuld. Sie befindet sich seit dem 13.
April in U-Haft.
Während all dieser Monate verlängerte das Gericht wiederholt die Haft von
Skotschilenko, obwohl die Verteidigung mildere Maßnahmen forderte, zum
Beispiel Hausarrest. Sitzungen, in den es um einzelne Maßnahmen ging,
fanden soweit möglich ohne Zuhörer und Presse statt. Aber die eigentliche
Prüfung des Falles führt der Richter in öffentlicher Sitzung durch. Die
nächste Verhandlung war für den 20. Januar 2023 angesetzt.
## Der Heizer Wladimir Rumjanzew
Das letzte „Fake“-Urteil im Jahr 2022 wurde gegen Wladimir Rumjanzew, einen
Heizer aus Wologda, verhängt. Für seine Antikriegshaltung erhielt er drei
Jahre Gefängnis. Das Verfahren wurde eröffnet, weil der 61-Jährige mit
seinem Untergrundfunk Falschinformationen verbreitet haben soll. Der
Staatsanwalt hatte sechs Jahre Haft beantragt.
Über den Angeklagten ist wenig bekannt. Wie der Fernsehsender Doschd
berichtete, arbeitete er 20 Jahre lang als Heizer in der örtlichen
Werkzeugmaschinenfabrik und nach deren Schließung als Schaffner in einem
städtischen Trolleybus. Er nahm an einigen Protesten in seiner Heimatstadt
teil. Und er betrieb eine eigene Amateurfunkstation, die mit bei der
Onlineplattform AliExpress gekauften Sendern funktionierte.
In den vergangenen acht Jahren war Rumjanzew regelmäßig auf Sendung und
legte hauptsächlich sowjetische Hits auf. Das Signal seines Radiosenders
ermöglichte es ihm, etwa zwei benachbarte Stadtteile abzudecken.
Nach dem 24. Februar begann er, politischen Themen mehr Aufmerksamkeit zu
schenken. Rumjanzew beschloss, seinen Nachbarn YouTube-Videos mit
Oppositionellen, wie der Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman, zu
zeigen. Vermutlich zeigte ein Nachbar den Heizer bei der Polizei an.
Im Sommer war er der Erste in der Stadt, der wegen „militärischer
Falschmeldungen“ angeklagt wurde. Rumjanzew wurde beschuldigt, aus
politischem Hass „wissentlich falsche Informationen“ über Aktionen der
russischen Armee veröffentlicht und verbreitet zu haben. Am 15. Juli wurde
er in Untersuchungshaft genommen.
Grund für das Strafverfahren waren nicht nur Rumjanzews Radiosendungen,
sondern auch seine Posts in sozialen Netzwerken. Nach dem 24. Februar
veröffentlichte er fast täglich Nachrichten über den Krieg. Rumjanzew
erklärte sich für nicht schuldig.
Sein Anwalt Sergei Tichonow erklärte, dass das Gericht mit dem Strafmaß für
seinen Mandaten wegen dessen Alter und Gesundheitszustand unter der
Mindeststrafe von fünf Jahren geblieben sei.
Aus dem Russischen [2][Barbara Oertel]
22 Jan 2023
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Andrei Karew
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