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# taz.de -- Vier Rückblicke auf das Popjahr 2022: Komfortzone auslüften
> Wie wirkten sich Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine auf Pop aus?
> Warum ist London Musikmetropole und was ist der Sad-Girl-Hype? 4
> Rückblicke.
Bild: Das britische Duo Jockstrap
## Erlebnis Livekonzert – Stephanie Grimm
Wie zäh das in der Corona-Epidemie noch war für Freund:Innen der
Livemusik. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln: Auftritte
wurden angesetzt, verschoben oder abgesagt. Fand etwas statt, saß man mit
einigen Versprengten in weitläufigen Räumen, schließlich gab es
Abstandsregeln. Solche Veranstaltungen waren notwendig, damit die
Musikbranche nicht gänzlich den Mut verliert. Spaß gemacht hat es selten.
Seit Frühjahr 2022 durfte es wieder Livemusik geben und Menschen konnten
sich auf vollen Veranstaltungen tummeln. Theoretisch zumindest. Praktisch
taten es jedoch viel zu wenige, zumindest vor den Bühnen. Manch tolles
Konzert war allenfalls locker gefüllt; einige Tourneen wurden aufgrund
schlechter Vorverkäufe abgesagt. Und das, obwohl Menschen in vollen Zügen
durch die Welt gondeln, bei Sportveranstaltungen Aerosole tauschen und sich
auf Weihnachtsmärkten tummeln. Daran, dass Corona weitergeht, liegt es also
nicht – zumindest nicht nur.
Bedauerlich, denn etliche Konzerte, die diese Autorin in den letzten
Monaten erleben durfte, schickten die Anwesenden schwer euphorisiert nach
Hause. Euphorie wird in Zeiten wie diesen mehr denn je gebraucht. [1][Nubya
Garcia] beim Berliner XJazz Festival. [2][Kokoroko in ihrem Hometurf] im
Londoner Bezirk Brixton. International Music im Festsaal Kreuzberg. „50
Jahre Neu!“ mit Michael Rother & Friends im Silent Green.
Was Mehrwert schafft, ist, Musik durch ihre Schöpfer:innen vermittelt zu
bekommen und dieses Erlebnis mit anderen zu teilen. Das hat mir erst die
Pandemie richtig klar gemacht. Für die andauernde Zurückhaltung, an diesem
Vergnügen teilzuhaben, gibt es viele Gründe: Inflation, deprimierende
Nachrichten allerorten und natürlich immer noch die Seuche.
Leider scheint aber auch unser innerer Couch-Potato in Sachen
Abendgestaltung gewonnen zu haben. Und die digitale Sphäre: Viele Menschen
leben ihr Bedürfnis nach kulturellem Austausch lieber über die sozialen
Medien aus. Dort lässt nämlich durchaus den Eindruck gewinnen, sie gehen
weiter eifrig aus.
Weniger drüber reden, dafür lieber hingehen: Viele Kulturschaffende würden
sich darüber sicher freuen. Die anderen Menschen in den echten Räumen da
draußen erst recht.
## Londonisierung von Pop – Lars Fleischmann
Wir erinnern uns gut an die Bilder eines trauernden London nach dem Tod der
Queen: Kilometerlange Schlangen hielten viele Brit*innen nicht davon ab,
der Monarchin ihr letztes Geleit zu geben. Zwischen all der Kondolenz gab
es derweil einige wichtige Misstöne, nicht nur aus Schottland, wo man
traditionell gegen die Windsors ist, sondern vor allen Dingen aus den
Nicht-Weißen Communitys, die sich vornehmlich aus den ehemaligen Kolonien
des Commonwealth speisen. Da wurde nämlich eindrücklich auf die
imperialistisch-koloniale Vergangenheit und Gegenwart der Royals verwiesen.
Noch immer ist die afrokaribische Community in Großbritannien subaltern, in
politischen Fragen unterrepräsentiert und vielerorts durch Tories und Ukip
unter Beschuss und zudem am stärksten von Verdrängung bedroht. Das gilt
auch für Kulturräume, die vor allen Dingen in der britischen Hauptstadt
immer weiter abgebaut werden. Man spricht schon von „Londonisierung“.
Gleichwohl hat das 2022 zu einer beachtlichen Hybridisierung von Sounds
geführt: Shabaka Hutchings führt in seinen Bands panafrikanische und
britische Musikgeschichte zusammen. Sein Jazz klingt mal nach Südafrika,
mal nach Neunziger-Rave. Moses Boyd und [3][Nubya Garcia] untersuchen
hingegen die Möglichkeiten, Jazz mit afro-lateinamerikanischen-karibischen
Wurzeln zusammenzudenken.
Nicht ohne Grund war die Metropole dieses Jahr Mekka des „Neuen
Europäischen Jazz“. Genauso fand R&B aus London weithin Beachtung, sowohl
durch ctrkls Album „yield“, als auch durch das Remix-Album zu [4][Tirzahs
„Colourgrade“]. Auf „Highgrade“ experimentieren vor allen Neu- und
Alt-Londoner*innen wie Wu-Lu, Actress und Loraine James durch das
musikalische Ausgangsmaterial. Es ist die große Leistung der
Kulturschaffenden dieser Weltstadt, dass sie der Oligarchen-Hochburg
[5][„Londongrad“ etwas entgegensetzen]. Trotz widrigster Umstände können
Orte wie das „Cafe OTO“ bestehen bleiben, noch jedenfalls.
Dafür rühmt man sich auf der Insel zu sehr der neuen Welle an Indiebands:
[6][Jockstrap] und Squid etwa, beide grandios, aber sie könnten so auch in
Los Angeles entstanden sein. Der Moloch London als Creative Hub bleibt
stabil; wie lange, werden die „Neuen 20er Jahre“ zeigen müssen.
## Wiederaufleben von Fankultur – Louisa Zimmer
Auf den ersten Blick war 2022 sehr ergiebig, was Veröffentlichungen und
Konzerte angeht. Aber nicht nur Musikerinnen, auch Konsumenten waren in
diesem Jahr sichtbarer als zuvor. Der Grund dafür liegt bei Tiktok. Auf der
Videoplattform gibt es digitale Subkulturen, die sich speziell
Künstlerinnen verschrieben haben. Darunter fällt auch das Phänomen des „Sad
Girl“.
Unter dieser Selbstbeschreibung teilen junge, queere, meist weibliche
Teenager Videos, die sie mit den emotionalen Popsongs von Lana Del Rey,
[7][Mitski], und [8][Fiona Apple] unterlegen. Während viele über
Tiktok-Trends ihre späteren Helden entdecken, vernetzen sie sich im Zuge
des Fan-Daseins auf der Community-Plattform Discord, wo in Chatgruppen über
Musik, aber auch allerhand Privates diskutiert wird.
Der Einfluss von Fangirls machte sich nicht nur digital bemerkbar. Es
handelt sich um ein internationales Phänomen. Eine Künstlerin, die vom Hype
stark profitierte, ist Phoebe Bridgers. Die US-Songwriterin, deren
Debütalbum bereits 2020 erschienen war, tourte im Mai erstmals durch
Deutschland. Fans standen stundenlang an und kippten dann scharenweise um.
Über diese Art von Massenhysterie schrieb die US-Journalistin Kaitlyn
Tiffany in ihrem Buch „Everything I Need I Get from You“. Zwar behandelt
Tiffany darin den One-Direction-Hype der Zehner-Jahre. Ihre Ausführungen
sind aber auf die Fangirls von heute übertragbar.
Der Tiktok-Algorithmus hat viele Künstler:innen, die vorher als „Indie“
galten, zum Mainstream-Phänomen gemacht. Die beliebtesten Songs von Mitski
und Co haben mittlerweile dreistellige Millionen-Streams. Bridgers spielte
etwa gemeinsam mit Billie Eilish vor Stadionpublikum, was ohne die virale
Power der Fans undenkbar gewesen wäre. Der „Sad Girl“-Hype hat aber auch
eine neue, experimentierfreudige Generation von Indie-Musiker:innen
hervorgebracht. Beachtlich waren dabei das Debütalbum „Preachers Daughter“
der Gothic-Künstlerin Ethel Cain und das Bedroompop-Album „Janky Star“ von
Grace Ives.
## Mehr Ukraine-Solidarität – Julian Weber
Er sei ja an der Ukraine historisch interessiert, sagte der Kollege Günther
Maria Feuilleton* im Gespräch. „Wegen Joseph Roth“ habe er seine Zelte
sogar für eine Weile in Lwiw aufgeschlagen und dort an einer Buchidee
gearbeitet. Die Einwohnerinnen sähen aus „wie Nutten“ und die Männer „w…
Soldaten“. Ja, so unhip, diese Ukrainer:Innen. Noch gar nicht lange her, da
hat einer seiner Freunde [9][Jihad-Inszenierungen vom „Islamischen Staat“
„als Pop“] bezeichnet. Die Nachrichten sind seither nicht besser geworden.
Wenigstens kam noch kein Text darüber, ob und wie sich Pop zum Putin-Regime
verhält. Die Ukraine wird seit Februar in einem Krieg von Russland
angegriffen und versucht, dieses Unheil zurückzuschlagen. Müsste deren
Verteidigung von Demokratie nicht auf viel mehr Zustimmung stoßen?
Das Schicksal des Landes wird eher nicht von den popsozialisierten
deutschen Autor:Innen auf den Kulturseiten entschieden, sondern auf dem
Schlachtfeld. Und doch verwundert es, dass die Solidarität auch nach mehr
als 300 Tagen russischen Angriffskriegs überschaubar bleibt: Beim Konzert
der Kiewer Band [10][Dakh Daughters] im Hamburger Thalia Theater war
niemand aus der sonst so alerten Hamburger Subkulturszene anwesend.
Bisher lässt sich „die Zeitenwende“ bequem aus vielen ästhetischen und
mikropolitischen Debatten auslagern. „Nie wieder Krieg in dir und mir“, die
Zeilen aus dem Tocotronic-Song „Nie wieder Krieg“ klingen trotzdem wie
Makulatur. Indierock ist zwar nicht tot, aber er riecht komisch, seine
Komfortzone sollte dringend ausgelüftet werden.
„Russland habe den Widerstandsgeist der Ukraine unterschätzt“, sagte die in
Lausanne forschende ukrainische Literaturwissenschaftlerin Hanna Perekhoda
vor Kurzem beim Festival „Territory Disrupt“. „Und der Westen tut das
auch.“ Das Festival brachte in aller Welt im Exil verstreut lebende
ukrainische Kulturschaffende und Wissenschaftler:Innen in Berlin
zusammen. Neben Perekhoda auf dem Panel saß der Elektronikproduzent Dmytro
Fedorenko, dessen herber Dissonanznoise den Krieg in seiner Heimat in
distopische Musik übersetzt. Sound, der in den Eingeweiden weiter blubbert
und dessen Schroffheit nachdenklich macht.
22 Dec 2022
## LINKS
[1] /Saxofonistin-Nubya-Garcia/!5709197
[2] /Debuetalbum-von-Kokoroko/!5871498
[3] /56-Ausgabe-des-Montreux-Jazz-Festival/!5866593
[4] /Neuer-Artschoolpop-von-Britin-Tirzah/!5804816
[5] /Londoner-Ausnahme-Kuenstlerin-Lolina/!5902020
[6] /Debuetalbum-von-Folkpop-Duo-Jockstrap/!5880581
[7] /Neues-Album-von-US-Kuenstlerin-Mitski/!5834394
[8] /Neues-Album-von-Fiona-Apple/!5678270
[9] /HipHop-und-Terror/!5021376
[10] /Dakh-Daughters-Band-aus-der-Ukraine/!5848094
## AUTOREN
Stephanie Grimm
Lars Fleischmann
Louisa Zimmer
Julian Weber
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