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# taz.de -- „Songs of Gastarbeiter“ Teil Zwei: Discofolk in Almanya
> Die Compilation „Songs of Gastarbeiter Vol. 2“ sammelt vergessene Musik
> der ersten Einwanderergeneration und liefert dazu den fehlenden Kontext.
Bild: Die Nachtigall von Köln: Ausschnitt eines Coverfotos von Yüksel Oezkasap
In vielen türkischen Familien gibt es „Gurbetçiler“. Menschen, die in der
Fremde leben und ihre Erlebnisse aus der Ferne den Verwandten zu Hause
berichten. Aber es gibt nur einen Gurbetçi in Almanya, der beim Erzählen
auf den Flügeln einer Saz und einer Wah-Wah-Gitarre davonschwebt und in
spacigen Gefilden landet, noch nicht ganz in der Disco, aber auch nicht
mehr im Folk. Dieser Gurbetçi taucht in dem sagenhaften Song [1][„Liebe
Gabi“ vom Duo Derdiyoklar] aus dem Jahr 1981 auf.
Er leidet bitterlich, trotzdem will er nicht mehr zurück in die Türkei,
denn er ist längst verwurzelt in Westdeutschland, was im Fall von
Derdiyoklar damals der Großraum [2][Stuttgart] war. Weil ihm dort die
Anerkennung fehlt, er sich ausgenutzt fühlt und diskriminiert, singt der
Vortragende zweisprachig über erlittenes Unrecht.
Einer deutschen Freundin berichtet er, was alles falsch läuft: „Helmut Kohl
und auch Strauß le le liebe Gabi / Wollen Ausländer raus le le liebe Gabi /
Bizler insan değil miyiz le le liebe Gabi / Severek yaşamak varken le le
liebe Gabi / Şimdi bir de vize cıktı le le liebe gabi / Nice gönülleri
yıktı le le liebe Gabi / Gurbetçiler dertten bıktı le le liebe Gabi /
Gülerek yaşamak varken le le liebe Gabi.“
## Ehrenwerte Menschen
„Sind wir etwa keine ehrenwerten Menschen?“ (Bizler insan değil miyiz) ist
eine rhetorische Frage und sie wird durch das psychedelisch gestotterte „le
le liebe Gabi“ verstärkt. Der nachgeschobene Satz „Jetzt wurde auch ein
Visum ausgestellt“ (Şimdi bir de vize cıktı) wird durch den
charakteristischen Klang von Saz und der Wah-Wah-Gitarre gepolstert. Musik
und Text machen „Liebe Gabi“ von Derdiyoklar zu einer Preziose, für die
eigens das Genre Disco-Folk erfunden worden zu sein scheint.
Ursprünglich gab es „Liebe Gabi“ lediglich auf einem Tape-Album des
Kassettenlabels Türküola. Vor einigen Jahren tauchte der Song dann auf
einer leider nur wenig beachteten Platte des Hamburger [3][Pudelclubs] auf.
Nun bildet „Liebe Gabi“ das Herzstück [4][der verdienstvollen Compilation
„Songs of Gastarbeiter Vol. 2“]. Und spätestens jetzt sollte das Lied noch
breitere Hörerkreise erreichen.
An seiner Veröffentlichungsgeschichte sieht man schon, dass es auch 61
Jahre nach Beginn des Anwerbeabkommens von türkischen Arbeiter:Innen in
der BRD Mühe kostet, migrantische Kultur jenseits des türkischen
Hochzeitsmusik-Zirkels und einiger Nerds zu etablieren. Das ändert die
Reihe „Songs of Gastarbeiter“ auf jeden Fall.
[5][Seit ihrem ersten Teil, 2014 veröffentlicht,] ist schon viel passiert,
in einigen deutschen Städten gibt es längst regelmäßig Clubabende, bei
denen migrantische Musik auch für Hörer:Innen jenseits ihrer
unmittelbaren Zielgruppe gespielt wird. Zusammengestellt haben Teil 1 und
die 17 Songs von Teil 2 der Berliner [6][Imran Ayata] und der Münchner
Bülent Kullukcu.
## Aktuelle Botschaften
Und neben dem Hit „Liebe Gabi“ versammeln sie teils noch seltenere und
unbekannte, aber nicht minder eindrucksvolle Songs aus einer fernen Zeit.
Ihre Musik ist entstanden, bevor es Satellitenschüsseln und Handys gab.
Nicht nur an „Liebe Gabi“ ist zu bemerken, wie aktuell ihre Botschaften
immer noch sind. Wie rassistisch es früher war und wie und was sich an
diesem Zustand dann doch mit der Zeit geändert hat im Zusammenleben in
Deutschland.
Übrigens haben Ayata und Kullukcu nicht nur türkischsprachige und
türkisch-deutsche Songs ausgegraben, auch solche von griechischen,
vietnamesischen, spanischen und südamerikanischen Interpreten sind auf
„Songs of Gastarbeiter“ enthalten. Einen Remix von [7][Ozan Ata Cananis]
Song „Alle Menschen dieser Erde“ haben sie beim Frankfurter
Elektronikproduzenten Shantel in Auftrag gegeben. Durch seinen Beitrag für
Teil 1 ist der [8][Musiker] überhaupt erst wieder aus der Versenkung
aufgetaucht und aktiv geworden.
Dazu gibt es Coverversionen, klassische Folktraditionals, aber auch
rührselige Schlager und Disco-Folk, nicht nur aus Westdeutschland, auch
[9][vietnamesischer Pop aus der DDR] ist zu entdecken: „Cherie“ vom Projekt
Bayon.
Hervorzuheben wäre auch [10][„Almanya’ya Mecbur Ettin“] von Yüksel Özk…
der Sängerin, die als „Nachtigall von Köln“ bekannt war. In dem Lied räu…
eine Saz, diesmal eingebettet in ein fulminantes Streicherarrangement, den
Zweifel der Sängerin, nach Deutschland zurückzukehren, zwar nicht aus, aber
lässt die Melancholie des Abschieds erträglich werden.
„Songs of Gastarbeiter“ adressiert auch die migrantische Community, genauer
die zweite und dritte Generation: „Unser Blick auf die erste Generation ist
[…] immer noch geprägt von Vorurteilen und Klischees“, schreiben die beiden
Herausgeber in den informativen Linernotes. Das Wirken der ersten
Generation werde „noch immer verkannt“.
Dieser Ignoranz will diese geschichtsträchtige Songkoppelung
entgegenwirken. Die Gewerkschaft IG Metall hat ihr Logo schon mal
solidarisch auf dem Cover von Teil 2 abgedruckt, wenn jetzt noch die
Indie-Gewerkschaft, der Arbeitskreis Dancefloor-Community und die HipHop
GmbH beim dritten Teil dazukommen, wäre schon viel erreicht.
20 Jan 2022
## LINKS
[1] https://youtu.be/0ut52fJm9VA
[2] /Ausstellung-ueber-Punk-in-Stuttgart/!5449334
[3] /Konzert-von-Jimi-Tenor-in-Hamburg/!5793733
[4] https://www.songs-of-gastarbeiter.com/vol-ii
[5] /!5302133/
[6] /Imran-Ayata/!a34880/
[7] /Erstes-Album-von-Ozan-Ata-Canani/!5770143
[8] /Musiker-ueber-deutsche-Gastarbeiterkultur/!5556325
[9] /Vietnamesische-Vertragsarbeiter-in-DDR/!5677599
[10] https://www.youtube.com/watch?v=0nhzOFIGfdc
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Gastarbeiter
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Türkisch
Migranten
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