# taz.de -- Klingende Kunst der 1950er bis 1970er: Die Kunst, ein unhörbares G… | |
> Dadaistische Klangapparate, vergeistigte Geräuschspeicher: Sound als ein | |
> Material der bildenden Kunst zeigt eine Ausstellung in Krefeld. | |
Bild: Timm Ulrichs: Einton-Musik außerhalb (oberhalb) des menschlichen Hörber… | |
Wenige Orte vereinen die Üppigkeit einstigen Reichtums mit der Tristesse | |
gefallener Industriestädte so eindringlich wie Krefeld. Das immer noch | |
prunkvolle Kaiser Wilhelm Museum zeugt von einem vitalen Bürgertum im | |
späten 19. Jahrhundert. Wer konnte aber ahnen, dass der eklektizistische | |
Historismus seines Baus bald Schauplatz der experimentellen und sich | |
zusehends antibürgerlich gebenden Kunst der Moderne werden würde. | |
„On Air“, eine Ausstellung zur klingenden, experimentellen Kunst der 1950er | |
bis 1970er Jahre, unterstreicht diesen Bedeutungswandel des Museums. Wo aus | |
Jan Thorn Prikkers beeindruckendem, erst seit 2015 wieder zugänglichem und | |
in den Ausstellungsrundgang integriertem Wandgemälde von 1923 noch immer | |
die Demut einer Auftragsarbeit abzulesen ist, nehmen die Werke des | |
bekanntesten Künstlersohns der Stadt, Joseph Beuys, herrschaftlich eigenen | |
Raum ein. | |
Den Beuys’schen Experimenten mit Form und Material entspricht auch eine | |
Vielzahl der Exponate von „On Air“, nicht zuletzt aufgrund ihrer speziellen | |
Art, Raum einzufordern. | |
## Eimer, Lampenschirme, Abflussrohre | |
Doch erst einmal wartet im stillen Weiß am Ende des Treppenaufgangs nichts | |
als eine Vitrine. In ihr, gleich einem Schatz, liegt Reiner Ruthenbecks 7 | |
inch Mono Single „Dachskulpturen“ von 1972. Zu festgelegten Zeiten wird sie | |
vorgeführt, ansonsten begleitet sie stumm den pittoresken Blick auf den | |
Museumsvorplatz. Will man dann die mächtige Doppeltür durchschreiten, so | |
vernimmt man erst einmal ein Respekt einflößendes Brummen und Schlagen im | |
Rücken. Der Effekt ist durchaus ein Klang-Kunstwerk für sich. | |
Die Schwelle einmal überwunden, erweisen sich die meisten der Töne als | |
Geräusche eines künstlichen Regenwaldes, 1973 von David Tudor aus | |
Alltagsprodukten zusammengestellt. Seine Eimer, Lampenschirme, Abflussrohre | |
und Metallteile werden allesamt über Kontaktmikrofone und Schallwandler zum | |
Schwingen und Klingen gebracht. Man bewegt sich staunend vorsichtig durch | |
die von der Decke hängenden Objekte. Ihr Klang gab einmal die Bewegungen | |
für ein Stück von Merce Cunningham vor, dem einflussreichen Neuerer des | |
zeitgenössischen Tanzes. | |
## Ueckers surreale Lärmmonster | |
Alsbald ist man mittendrin. Mal tönen seltsame Gerätschaften, mal | |
abgespeicherte Geräusche, etwa aus den Kopfhörern der Videoarbeiten von | |
Bruce Nauman und John Baldessari. Deren strenge Intellektualität wirkt wie | |
ein Kontrapunkt zu den europäischen, von Dada und Fluxus geprägten | |
Klangmaschinen. Da wären [1][Jean Tinguelys] und Günther Ueckers surreale | |
Lärmmonster aus robustem Metall, die einen brutal elegant, die anderen real | |
industriell. Zart nervend: Takis’ motorenbetriebene Saitenanschläger. Pol | |
Burys Saitenzupfer hingegen entwickeln geradezu eine mechanische Poesie. | |
Nun wäre es falsch, die Klangmaschinen europäischer Künstler:innen fern | |
der Theorie zu verorten. Timm Ulrichs’ vergeistigte Arbeiten fungieren gar | |
oft als Kommentare zur Kunst, etwa wenn sich ihr erzeugter Ton jenseits der | |
Wahrnehmungsgrenze nur visuell im Oszillograf bezeugen lässt. Was ist | |
Kunst, ein unhörbares Geräusch? Doch auch in diesem, einem Versuchsaufbau | |
ähnelnden Werk von Timm Ulrichs lebt die Faszination für das | |
Elektromechanische. Sie hat die Theorien hinter den Kunstwerken überlebt, | |
geschadet hat es ihnen nicht. Nun haben sie ein Eigenleben, gleich den so | |
gruseligen wie entzückend fellbesetzen „Atemobjekten“ von Günter Weseler, | |
deren leise Geräusche fast untergehen. | |
## Längst von Laptops angesteuert | |
Tatsächliche, unmittelbare, die Distanziertheit auch der antiakademischen | |
Avantgarde durchbrechende Körpererfahrung suchen wenige Arbeiten. Gegen | |
Ende der Schau trifft man auf Bernhard Leitners „Vertical Space“ aus dem | |
Jahr 1975. Es erzeugt den Eindruck, man sei durchflossen von Klang, als | |
würde man Teil der Töne, einem helleren, von oben kommendem Pochen und | |
dunkleren, von unten aufsteigenden Sounds. | |
Hermann Goepferts „Optophonium“ aus Holz, Metall, Farbe, Licht, Tonband, | |
Lautsprechern und 57 Aluminiumplatten schafft, was sein Titel verspricht: | |
eine audiovisuelle Science-[2][Fiction-Fantasie der frühen 60er], so | |
rauschhaft wie subtil. Hier wird das Kunstwerk zu einem sinnlichen | |
Spektakel. Das erscheint immens, die künstlerischen Visionen vor rund 60 | |
Jahren bieten heute, was digitale Elektronik nicht vermag. So könnte man | |
denken. Und entdeckt dann beim zweiten Blick auf David Tudors „Rainforest | |
V“, dass seine Klangelemente statt von Relais längst von Laptops | |
angesteuert werden. | |
Später liest man im Katalog über den 1928 geborenen Yaacov Agam und seine | |
„Polyphone Malerei“. Es mag einer Flüchtigkeit geschuldet sein, dass darin | |
bei der Nennung seines Geburtslandes, dem Völkerbundsmandat für Palästina, | |
nur Palästina geschrieben steht. Doch im Zug der Debatten um die BDS-Nähe | |
der letztjährigen Documenta mischen sich so die aktuellen, politischen | |
Diskussionen der Kunst unsanft in den Nachhall der gelungenen Ausstellung. | |
4 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Oliver Tepel | |
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