# taz.de -- Ein Soldat berichtet von der Front: „Drei Autostunden bis zur Hö… | |
> Andrej Ischtschenko hat sich als Freiwilliger an die ukrainische Front | |
> gemeldet. Nun ist er zurück und hat sich mit der taz getroffen. | |
Bild: Tragbahren vor dem Krankenhaus in Bakhmut: viele Soldaten sind bei heftig… | |
ODESA taz | In der irischen Kneipe abseits der Fußgängerzone von Odessa | |
läuft Fußball. Weltmeisterschaft. Gewerkschaftsaktivist Andrej | |
Ischtschenko sitzt am Tisch, starrt auf den grünen Rasen im Fernseher. Er | |
hat die Haare kurz. Zu Zeiten seiner Gewerkschaftsarbeit trug er sie lang. | |
Fußball interessiert ihn nicht. Er bezahlt sein Essen in bar – Kreditkarten | |
funktionieren wegen fehlender Verbindung zum Bankserver aktuell nicht – und | |
macht sich auf den Weg. „Kommen Sie in drei Stunden wieder“, sagt die | |
Kellnerin. „Wir haben heute Live-Musik.“ | |
Ischtschenko bleibt eine Weile vor der Tür im ersten Stock stehen, raucht | |
und schaut auf den Hof hinunter, wo Menschen geschäftig gehen, Kinder | |
spielen. „Von hier bis zur Hölle sind es genau drei Autostunden“, sagt er. | |
„Ich war fast neun Monate nicht zu Hause, habe nicht in einem Bett | |
geschlafen.“ | |
Ischtschenko kommt von der Front, hat noch vor zwei Tagen gegen die | |
russische Armee gekämpft. „Hier in Odesa ist es ja schön warm, fast immer | |
Temperaturen über null. In Cherson und bei Donezk, wo ich gekämpft habe, | |
waren es oft minus 10 Grad.“ | |
## Vom eigenen Panzer niedergewalzt | |
[1][In Odessa] lebe man noch relativ unbekümmert: „Es gibt Arbeit. [2][In | |
Mykolajiw], zwei Stunden von hier entfernt, kommt immer ein Schwarm | |
bettelnder Kinder auf dich zu, wenn du aus dem Auto steigst. Und wenn man | |
noch eine Stunde weiterfährt, nehmen auch die Probleme zu“, berichtet er. | |
[3][Bei Cherson] habe er Menschen gesehen, die noch vor einem Jahr reich | |
waren, einen landwirtschaftlichen Betrieb mit vielen Tieren besaßen. Jetzt | |
erinnere nur noch ein Steinhaufen an ihren ehemals prächtigen Bau. | |
Verdient habe er ja nicht schlecht beim Militär, fast 3.000 Euro im Monat. | |
In Odessa, also nicht an der Front, hätte er nur rund 1.000 Euro bekommen. | |
„Aber es ist Dauerstress, ständig mit dem Gefühl zu leben, dass man dich | |
töten will. Jeden Tag riskierst du dein Leben.“ | |
„An der Front bekommt man eine andere Einstellung zum Leben. Wenn gestern | |
20 Kameraden getötet worden sind, nimmt man das einfach so zur Kenntnis.“ | |
Einmal seien aus Versehen fünf Soldaten von einem eigenen Panzer | |
niedergewalzt worden. | |
Ein anderes Mal sei er in einen Hinterhalt geraten. Seine Gruppe habe sich | |
zerstreut. Manche seien getötet worden, andere in Gefangenschaft geraten. | |
Wieder andere, wie er, hätten sich einzeln durchgeschlagen. Und so habe er | |
sich sieben Tage im Wald versteckt, habe den russischen Soldaten, die nur | |
wenige Meter von ihm entfernt patrouilliert hatten, bei deren Gesprächen | |
zugehört. | |
## „Der Preis ist sehr hoch“ | |
„Ich habe mit dem Helm das Regenwasser aufgefangen, um es zu trinken“, | |
erzählt Ischtschenko. Gerettet hat ihn seine Powerbank. „Wenn man auf die | |
eigenen Leute zugeht, kann es ja sein, dass die einen für einen Angreifer | |
halten und schießen.“ So aber habe er per Handy seine Rückkehr ankündigen | |
können. | |
Jetzt ist Ischtschenko erst einmal in Odesa, Zivilist. „Die ukrainische | |
Armee kämpft mit nackten Händen gegen einen imperialistischen Aggressor“, | |
sagt er. „Die Waffen sind zu 95 Prozent sowjetisch. Die | |
[4][Waffenlieferungen aus dem Westen] sind eher PR“, so Ischtschenko. | |
„Gleichwohl erringt die ukrainische Armee in dieser Situation Erfolge.“ | |
„Aber der Preis ist sehr hoch: Es sind die Leben von Hunderten und | |
Tausenden ukrainischer Soldaten. Trotz aller Erfolge – alle Probleme, die | |
die sowjetische Armee hatte, hat auch die ukrainische Armee. Und zwar in | |
verschärfter Form, wegen des Krieges und der sich [5][ständig ändernden | |
Frontlinie]. In der Armee herrschen noch Regeln und Sitten aus der | |
Sowjetzeit, es kommt mitunter zu Konflikten zwischen Soldaten und | |
Kommandeuren, die entgegen militärischem Wissen handeln. Sie versuchen die | |
Probleme der fehlenden Militärtechnik zu kompensieren, durch extremen und | |
riskanten Einsatz von Menschen, gegen eine gut ausgerüstete russische | |
Armee.“ | |
Häufig, so Ischtschenko, stehen ukrainische Soldaten der russischen | |
Kriegstechnik nur mit Sturmgewehren in der Hand gegenüber. „Sie verteidigen | |
heldenhaft ihr Land gegen einen bewaffneten Aggressor.“ | |
Der Text wurde von Andrej Ischtschenko gegengelesen. Passagen, die ihm | |
oder der Armee schaden könnten, wurden gestrichen. Ischtschenko hatte | |
früher mehrfach bei taz-Reisen in die Ukraine über seine | |
Gewerkschaftsarbeit referiert. | |
15 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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