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# taz.de -- Bericht aus der russischen Armee: Wer wird die Toten verantworten?
> Der russische Soldat Pawel Filatjew hat am Überfall auf die Ukraine
> teilgenommen. Dann ist er desertiert. Sein Bericht ist schockierend.
Bild: Mittlerweile gefährdet im Exil: Pawel Filatjew
Schon wenige Wochen nach dem Beginn von Wladimir Putins [1][Angriffskrieg
gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 tauchten in den sozialen Netzwerken
die ersten Memes auf], die die Armee des Kremlchefs aufs Korn nehmen. Auf
einem sind unter der Überschrift „Russische Militärtraditionen“ drei Fotos
zu sehen, auf denen Soldaten lächelnd ihre Beute präsentieren: Während sich
der Großvater mit einem altersschwachen Schwarz-Weiß-Fernseher begnügen
muss, hat es dessen Enkel immerhin zu einem Flachbildschirm gebracht.
Ein anderer Post, angeblich aus Melitopol, zeigt einen Uniformierten. Seine
Statur, so breit wie hoch, wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf die
Kampffähigkeit der Truppe, sondern so manche weitere Frage auf. Und Fragen
gibt es, nicht nur in Expert*innenkreisen, viele. Wie ist es möglich, dass
die angeblich so mächtige, unbesiegbare russische Armee, die vor knapp zehn
Monaten noch glauben machte, die ukrainische Hauptstadt Kyjiw im
Handstreich nehmen zu können, mittlerweile komplett entzaubert ist?
Antworten darauf finden sich in dem Buch „ZOV. Der verbotene Bericht. Ein
russischer Fallschirmjäger packt aus“ von Pawel Filatjew, das seit Kurzem
in deutscher Übersetzung vorliegt. Der heute 34-Jährige aus Wolgodonsk, der
in einer Familie von Militärs aufwächst, geht, kaum volljährig, zur
russischen Armee. Dort dient er drei Jahre, auch in der
Nordkaukasusrepublik Tschetschenien.
Nach einem Studium der Geschichtspädagogik arbeitet er fast zehn Jahre lang
als Pferdetrainer und nebenbei auch noch für den russischen
Fleischproduktionsbetrieb Miratorg. 2021 meldet sich Filatjew erneut bei
der Armee – aus finanziellen Gründen, wie er bekennt.
## In den Schützengräben
Am 24. Februar 2022 marschiert er als Angehöriger des 56.
Luftsturmregiments in die Ukraine ein. Er ist am Angriff auf Cherson
beteiligt und sitzt mit seinen Kameraden in den Schützengräben um
Mikolajiw. Nach zwei Monaten wird Filatjew schwer an einem Auge verwundet
und schließlich evakuiert.
Sein Bericht, eine Mischung aus Tagebucheintragungen und persönlichen,
reflektierenden Rückblenden, ist ein Blick in menschliche Abgründe und in
eine Armee, deren Zustand als desolat zu beschreiben noch untertrieben ist.
Funktionierende Kommandoketten sind schlichtweg nicht existent.
Filatjew beschreibt gespenstische Szenen: herumliegende Leichen und völlig
desorientierte Soldaten, die panisch in alle Richtungen davonlaufen, weil
sie offensichtlich von ihren eigenen Leuten versehentlich unter Beschuss
genommen wurden. „So zu sterben, am ersten Tag der Kämpfe, durch friendly
fire – wer wird sich für die toten und verwundeten Soldaten verantworten?
War doch der Grund für ihren Tod nicht die Professionalität der
ukrainischen Armee, sondern die Schlamperei der unsrigen“, schreibt
Filatjew.
Bei der Truppe mangelt es an allem: an Nahrungsmitteln, Kleidung, Uniformen
und Medikamenten. Dafür müssen die Soldaten, die nicht selten um ihren
lausigen Sold betrogen werden, auch noch selbst aufkommen. Eine adäquate
medizinische Versorgung nach einer schweren Verwundung? Fehlanzeige,
stattdessen Demütigungen, Schikanen von Vorgesetzten und angekündigte
Entschädigungszahlungen, die nie ankommen.
Die Militärtechnik ist museumsreif und vielfach bereits nach ersten
Einsätzen unbrauchbar. Wer Widerworte gibt (Beschwerden an höheren Chargen
sind sinnlos), wird sanktioniert.
## „Keine Menschen, sondern Vieh“
„Es ärgert mich, dass die Führung auf uns scheißt, dass sie uns mit allen
Mitteln zu verstehen gibt, dass wir für sie keine Menschen, sondern Vieh
sind“, lautet der wenig schmeichelhafte Befund von Filatjew. „Es ärgert
mich, dass sie vor diesem Krieg, den sie selbst angefangen haben, alles
taten, um die Armee zu schwächen.“
Dabei hatten die [2][Militärreformen zwischen 2008 und 2012], noch von
Verteidigungsminister Sergei Schoigus’ Vorgänger Anatoli Serdjukow ins Werk
gesetzt, das Gegenteil erreichen sollen: die Umgestaltung der Armee in eine
professionellere und mobilere Truppe mit größtenteils gut ausgebildeten
Berufssoldaten, um die Abhängigkeit von Wehrpflichtigen zu reduzieren.
Doch offensichtlich ist der Schuss nach hinten los gegangen, wie der
Ukrainekrieg zeigt – „dieser schreckliche Krieg, den wir vom Zaun gebrochen
haben, ohne das moralische Recht zu haben, irgendein anderes Land
anzugreifen – erst recht nicht das Volk, das uns von allen am nächsten
ist“, wie Filatjew schreibt.
Die Verluste auf russischer Seite, auch wenn es keine verlässlichen Zahlen
gibt, sind gigantisch, die Personaldecke ist entsprechend dünn. Einer
Mobilmachung im September entziehen sich Tausende Russen durch Flucht ins
Ausland. Rekrutiert werden jetzt gehäuft Strafgefangene, die zu langen
Haftstrafen verurteilt wurden. Auch Angehörige ethnischer Minderheiten aus
entlegenen Region sind bereit, sich mangels Alternativen und Perspektiven
sinnlos verheizen zu lassen.
## „Moralisch verrottet“
Für Filatjew ist die russische Truppe, die er für korrupt und „moralisch
verrottet“ hält, auf ganzer Linie gescheitert. Nicht zuletzt das dürfte den
Ausschlag dafür gegeben haben, die Zustände im Militär öffentlich zu machen
und damit ein hohes Risiko einzugehen. „Ich kann mein Gewissen nicht zum
Schweigen bringen“ notiert er.
„Sicher wird mich ein,gerechtes' russisches Gericht schon bald zu
lebenlanger Haft verurteilen.“ Jetzt lebt Filatjew an einem unbekannten Ort
in Frankreich. Eine Garantie, dass das Sicherheit vor Putins Häschern
bedeutet, gibt es jedoch nicht.
16 Dec 2022
## LINKS
[1] /Ein-halbes-Jahr-Krieg-in-der-Ukraine/!5873024
[2] /Krise-in-der-Ukraine/!5034347
## AUTOREN
Barbara Oertel
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russische Armee
Deserteur
GNS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Lesestück Recherche und Reportage
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