# taz.de -- Nicole über Musik und Ukraine-Krieg: „Mehr als ein bisschen Frie… | |
> Nicoles Lied „Ein bisschen Frieden“ hat heute wieder traurige Aktualität. | |
> Ein Gespräch über familiäre Kriegserfahrungen und die Macht der Sprache. | |
Bild: „Dass ein deutsches Mädchen beim ESC von Israel zwölf Punkte bekommt.… | |
Nicole hat mit „Ein bisschen Frieden“ das populärste aller | |
deutschsprachigen Friedenslieder gesungen, doch ihr Sieg beim Eurovision | |
Song Contest 1982 war vielen in der Friedensbewegung ein Graus: Die | |
Sängerin stand, so muss man es sagen, im Verdacht der CDU-Nähe. Unbeachtet | |
blieb, dass das Lied einen Pazifismus in der Bundesrepublik artikulierte, | |
der bis weit in christlich-konservative Milieus kulturell dominant wurde. | |
Die Sängerin lebt wie eh und je mit ihrem Mann im Saarland. Sie ist gerade | |
aus den Ferien – den ersten nach Corona und nach ihrer Brustkrebserkrankung | |
– in Südafrika zurückgekommen. Weil sie erkältet ist, wie momentan fast | |
alle, findet das Gespräch per Zoom statt. Eigentlich heißt sie Nicole | |
Seibert, aber sie mit ihrem Vornamen anzusprechen sei okay, sagt sie, „ich | |
bin die Nicole, so kennen mich alle“. Sie spricht, anders als auf der Bühne | |
jenseits des Saarlands, in der Tonlage ihrer Heimat. | |
wochentaz: Nicole, vor 40 Jahren sangen Sie Ihr [1][„Ein bisschen Frieden“ | |
beim Eurovision Song Contest] (ESC) im englischen Harrogate. Dabei wirkten | |
Sie schon als 17-Jährige wahnsinnig entschlossen und souverän. | |
Nicole: Ich erinnere mich natürlich noch genau. Auf dem Weg zur Bühne war | |
ich in mich gekehrt. Ich dachte nur, wenn ich das hier rocke, wird sich | |
mein Leben dramatisch verändern. Aber wollte ich das überhaupt? Ich hatte | |
Angst zu gewinnen, ja. | |
Sie wollten schon als kleines Kind Sängerin sein. | |
Genau – und deshalb dachte ich, verdammt noch mal, ich bin den langen Weg | |
gegangen und ich werd hier mein Bestes geben und nicht falsch singen. So | |
ging ich auf die Bühne, und dann war es gleich wieder vorbei nach drei | |
Minuten. | |
Es war die Zeit der Friedensbewegung gegen die Nato-Nachrüstung. Sie | |
demonstrierten nicht, sie sangen von „Ein bisschen Frieden“. | |
Wir, also Komponist Ralph Siegel und Bernd Meinunger mit dem Text, wir | |
wollten ein Friedenslied für die Eurovision. Eben weil es die Zeit der | |
Friedensbewegung war. Andere haben halt ihre Plakate genommen, sind auf die | |
Straße gegangen und haben demonstriert. Waren laut. Dieser Typ war ich nie. | |
Für mich zählten mehr die leisen Töne. | |
Wie dachten Sie damals über die Idee der Nachrüstung in politischer | |
Hinsicht? | |
Ja, wer wollte die denn? Aber was konnten wir machen? Was konnte ich | |
machen? Gar nichts. Außer jetzt vielleicht so ein Lied singen. Und das hat | |
dann was bewirkt an diesem Abend bei der Eurovision. | |
Was denn? | |
Dass ein deutsches Mädchen beim ESC von Israel zwölf Punkte bekommt. Das | |
war eine Sensation. Danach kam eine Einladung der israelischen Regierung. | |
Ich sollte nach Tel Aviv und dort in der Kaserne vor den Soldaten „Ein | |
bisschen Frieden“ singen. | |
War das ein Auftritt unter vielen, die nach dem Eurovisionsieg kamen? | |
Nein, diese Einladung bedeutete mir viel, ich habe den Brief aufbewahrt. | |
Ich habe da auf dem Hocker gesessen und mein Friedenslied gesungen. Die | |
Soldatinnen und Soldaten setzten sich davor, hatten ihre Waffen in der | |
Hand, lange Schießgewehre, und haben die hingelegt. Die haben sich offenbar | |
gefreut. Mir war das eine wahnsinnige Ehre, ich kenn ja auch unsere | |
Geschichte. Wahrscheinlich habe ich denen da aus der Seele gesungen. | |
Welche Erinnerungen haben Sie an familiäre Geschichten, die vom Krieg | |
handelten? | |
Mein Großvater ist im Krieg gefallen, er war sehr jung. Meine Großmutter | |
ist mit Mitte 20 Witwe geworden, die hat immer davon erzählt. Als Kind habe | |
ich gesagt: Mein Gott, wie schrecklich. Warum? Warum müssen denn die Männer | |
in den Krieg ziehen? Was wollen die denn erreichen? Wollen die jetzt, dass | |
jemand ein Stück Land mehr bekommt? Für mich war Krieg etwas ganz | |
Schlimmes. | |
Was ist sonst über die Zeit bis 1945 in Ihrer Familie erzählt worden? | |
Nicht viel, außer bei irgendwelchen Familienfeiern zu später Stunde mal. | |
Meine Großmutter, so hörte ich, erzählte vom Tauschen, sie hat Butter | |
getauscht gegen Kartoffeln zum Beispiel. Meine Mutter erzählte, dass sie | |
mal auf den Zug aufgesprungen ist, um was zu hamstern. Oder dass sie mal | |
hier bei uns zwei Orte weiter beim Bombenangriff in den Bunker | |
runtermussten, um sich zu verstecken. | |
Sie haben immer in Friedenszeiten gelebt. | |
Dafür bin ich dankbar. Meine Mutter hat den Krieg noch erlebt als Kind. Die | |
war drei, vier. Aber ich ja nicht mehr. Gott sei Dank ist uns das erspart | |
geblieben. Und deshalb ist das, was jetzt gerade passiert, so entsetzlich. | |
Und jetzt müssen wir doch wirklich wieder Angst haben. Und dieses Lied, | |
„Ein bisschen Frieden“, das ist jetzt wieder aktuell. Ich finde, es hat wie | |
vor 40 Jahren Gewicht. | |
Kein Konzert von Ihnen, ohne dass Sie es anstimmen? | |
Ausgeschlossen, das darf das Publikum erwarten. In dieser Zeit möchte das | |
Publikum dieses Lied mehr denn je, so beobachte ich das. Wenn ich es singe, | |
passiert etwas mit den Leuten. Als ob die Angst vor Krieg realistisch | |
geworden ist. | |
Sie haben vor einigen Monaten, nachdem der russische Krieg gegen die | |
Ukraine begann, eine Strophe von „Ein bisschen Frieden“ auf Russisch | |
eingesungen. | |
Ich bin immer mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gegangen. Ich war | |
Beobachter und habe meine Songtexte dem angepasst, was ich sah und hörte. | |
Dem Weltgeschehen oder den zwischenmenschlichen Beziehungen, was eben | |
passiert. Ich habe auch mal dem Volk aufs Maul geschaut. So war es mit dem | |
[2][Ukrainekrieg]. Und ich dachte: Die wollen das doch eigentlich auch | |
nicht. Warum müssen die Männer wie damals in den Krieg ziehen? | |
Hunderttausende flüchteten in geschützte Länder, auch nach Deutschland. | |
Ja, es sind so viele geflüchtet, die gar nicht flüchten wollten, aber die | |
flüchten mussten mit ihren Kindern, weil sie nicht sterben wollten. Und wir | |
haben sie hier aufgenommen, damit sie in Sicherheit sind. Diese Menschen | |
kommen hierher, die sprechen diese Sprache nicht. Sie kommen in ein fremdes | |
Land, sind fremd. Und ich dachte, mein Lied habe ich in sieben Sprachen | |
gesungen, warum nicht in einer achten? | |
Doch warum nur in der Sprache der Kriegführenden? | |
Vielleicht schwappt mein Lied mit dem russischen Vers ja rüber bis nach | |
Russland, das dachte ich. Keine Ahnung, aber ich wollte nicht untätig | |
dasitzen und die Situation einfach hinnehmen. Ich mache es wieder auf meine | |
Weise. Ich singe. Und dann habe ich den Text übersetzen lassen von einer | |
Russin. Mittlerweile läuft es hier im Aufnahmeheim für Flüchtlinge aus den | |
Kriegsgebieten in Dauerschleife. | |
Weshalb sangen Sie die zusätzliche Strophe nicht auf Ukrainisch? | |
Die Frage war, ob ich auf Ukrainisch singe oder Russisch. Und ich habe mir | |
gedacht, die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass die Ukrainer Russisch | |
verstehen und dass auch andere Nationen eher Russisch lernen als | |
Ukrainisch. Ich habe mich dann für das Russische entschieden. | |
Die russische Sprache ist in der Ukraine eine inzwischen verhasste | |
Sprache, es ist die des Landes, das den Krieg führt. | |
Es müsste vielleicht noch eine zweite Version geben, eine ukrainische. Kann | |
man auch drüber reden. Russisch und Ukrainisch, beide Sprachen klingen ja | |
sehr ähnlich. Es wäre für mich auch kein Problem, eine ukrainische Version | |
zu singen. | |
Der Krieg scheint wieder in Deutschland angekommen zu sein, als Bilderflut | |
des großen Schreckens. In der Bundesrepublik wurde nirgendwo in den letzten | |
Jahrzehnten viel über Militärisches, über die Bundeswehr gesprochen. War | |
das in Ihrer Familie auch so? | |
Ich habe nicht viel mitbekommen, das war bei uns kein Thema. Ich weiß nur, | |
dass mein Mann eingezogen wurde. Der hat gedient, wie alle jungen Männer. | |
Er hätte auch Zivildienst leisten können. | |
Nee, der hat richtig gedient, drei Jahre, glaube ich. In der Kälte draußen | |
liegen und so. | |
Bundeskanzler Scholz sprach kurz nach dem russischen Überfall der Ukraine | |
von [3][„Zeitenwende“] und von 100 Milliarden Euro, die ins Militärische | |
gehen würden. Wie empfanden Sie diese Aussagen? | |
Als eher unbehaglich, weil wir Waffen offenbar brauchen. Wir wollen | |
kämpfen. Das bedeutet natürlich was. Doch was ist die richtige | |
Entscheidung? Lassen wir uns alle totschießen, oder wehren wir uns? In der | |
Bibel heißt es: Wenn dir einer auf die Wange schlägt, halt die andere hin. | |
Für mich bleibt es zwiespältig. | |
Inwiefern? | |
Waffen kaufen heißt schießen. Ich würde dann lieber weglaufen, also | |
irgendwohin, wo mich keiner findet. Oder ich würde auch, wie es viele | |
Frauen aus der Ukraine gemacht haben, die Kinder auf den Buckel nehmen und | |
wegfahren. Ich möchte kein Politiker sein, der Entscheidungen zu Krieg und | |
Frieden zu treffen hat. | |
Soll man der Ukraine Waffen liefern oder nicht? | |
Ich hatte eigentlich in der Zeit ganz viel mit mir selbst zu tun, ich war | |
ja noch erkrankt. Man machte sich trotzdem Gedanken. Soll man denen Waffen | |
liefern oder nicht? Was ist die richtige Lösung? Wenn man Waffen liefert, | |
dann geht der Krieg ja immer weiter. Aber man kann auf der anderen Seite | |
die Ukraine nicht alleine stehen lassen und sich nicht verteidigen lassen | |
können. Ich habe darauf keine Antwort. Ich finde beides schrecklich. | |
Ein Dilemma? | |
Ja. It’s the classical dilemma between the head and the heart. | |
Wie entscheiden Sie sich am Ende? | |
Ach, ich wünsche mir einfach, dass es ja mehr als ein bisschen Frieden | |
wird, dass die Menschen wirklich zur Vernunft kommen und sich fragen: Warum | |
macht man das denn? Ich finde keine Antwort auf das Warum. Warum schickt | |
man Menschen, junge Männer, in den Krieg mit einer hohen | |
Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht zurückkommen? Dieser Mann … | |
… Wladimir Putin … | |
… der sitzt im Trockenen. Der zieht sich keine Uniform an. Alle, die sowas | |
entscheiden, waren nie dabei. Nie hautnah. Ihnen ist nie ins Bein | |
geschossen worden. Oder haben ein Auge verloren. Es ist einfach zu sagen: | |
Geht in den Krieg, ich sitze ja gut. Da denke ich immer an Reinhard Mey. | |
Der hat damals ein Lied geschrieben: „Nein, meine Söhne geb’ ich nicht“. | |
Und das fand ich genial. | |
25 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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