# taz.de -- Eurovision Song Contest: The winner is: Ukraine | |
> Kein Land war bei den jüngsten Ausscheiden erfolgreicher als die Ukraine. | |
> Jetzt tritt die ukrainische Sängerin Jamala beim deutschen Vorausscheid | |
> auf. | |
Bild: Susana Camaladinova, Künstlername Jamala, ist zu Gast beim deutschen ESC… | |
Sie hat es auf dem Landweg in den freien Teil geschafft: Susana | |
Camaladinova, Künstlername Jamala, gelang wie tausenden anderen Frauen mit | |
ihren Kindern, aus der Ukraine zu fliehen. In ihrer ukrainischen Heimat ist | |
sie eine Berühmtheit. 2016 gewann sie in Stockholm den Eurovision Song | |
Contest (ESC) mit der [1][jazz-ethnohaften Hymne „1944“], einem Lied, das | |
das Schicksal der Krimtartaren und ihre Deportation nach Sibirien. Freitag | |
Abend wird sie zu Gast sein in der ARD beim deutschen Vorentscheid zum | |
Eurovision Song Contest. | |
Schon vor sechs Jahren war ihre Performance in der schwedischen Hauptstadt | |
von russischen Kommentatoren heftig kritisiert worden – es sei ein | |
politisches Lied, feindlich gesinnt Russland gegenüber und solle | |
disqualifiziert werden. [2][Solche giftigen Töne] waren (und sind) beim | |
populärsten europäischen Sangesstreit ungewöhnlich. Man hält sich aufs | |
angeblich unpolitische Tun viel zugute. Es sei doch nur, so steht es auch | |
in der Präambel des Regelwerks zu diesem Wettbewerb, Unterhaltung. | |
Dabei ist dieses Event, 1956 erstmals im schweizerischen Lugano ins Werk | |
gesetzt, aus sich selbst heraus politisch noch und noch. Weil es eben auch, | |
neben ästhetischen Aspekten, auch immer um nationale und internationale | |
Repräsentationen ging – und geht. Kaum waren Anfang der neunziger Jahre die | |
Reste der Eisernen Vorhänge gefallen, klopften auch so gut wie alle vormals | |
sozialistische TV-Anstalten an die Türen der European Broadcasting Union in | |
Genf, verantwortlich für den ESC, um mitmachen zu dürfen. | |
## Wodkaempfang bei Russlands Debütauftritt | |
1993 waren es die drei postjugoslawischen Länder Slowenien, Kroatien und | |
Bosnien & Herzegowina erstmals beim ESC mit von der Partie; als die Punkte | |
aus dem bosnischen Sarajewo durchgegeben wurden, hörte man, es herrschte | |
noch serbischer Krieg gegen die abtrünnigen neuen Republiken, Kugelhagel im | |
Hintergrund. Danach sollte eine [3][Ära des Friedens (in Europa), auch beim | |
ESC] anbrechen: Als Russland 1994 bei dieser Show sein Debüt hinlegte, gab | |
es sogar an einem Vormittag einen feucht-fröhlichen wodkagesättigten | |
Presseempfang in der ehemaligen KGB-Zentrale von Dublin, wo der ESC damals | |
Station machte. Sängerin Youddiph, die in der Show mit tüchtig Extrabeifall | |
bedacht wurde, mittendrin, freudig, wie sie damals sagte: „Es ist mir eine | |
große Ehre, mein Land im neuen Europa zu vertreten.“ | |
Die Ukraine war erst 2003 eurovisionär sortiert genug, um sich bei einem | |
ESC zu empfehlen. Der erste Sänger war eine Niete, die zweite allerdings, | |
Ruslana, reiste gar nicht erst nach Istanbul, um scheu Europa um Gehör zu | |
bitten. Ihr Lied „Wild Dance“ siegte mit einem semitechnostampfigen | |
Postfolksong haushoch. Hernach sagte sie, es sei auch ein Zeichen | |
ukrainischer Selbstbehauptung, sich in Europa besonders anzustrengen. Zur | |
gleichen Zeit wuchs die Sängerin, inzwischen in ihrer Heimat eine Ikone, | |
zur Heldin der Orangenen Revolution heran. Sie war die künstlerische | |
Stimme, die außerhalb der Ukraine erzählte, dass in ihrer Heimat es um | |
[4][Europa und Freiheit] ginge – auch noch viele Jahre danach: „Lwiw, die | |
Stadt, in der ich geboren wurde, hieß früher Lemberg. Sie gehörte zum | |
habsburgischen Reich und war damit natürlich Teil von Europa. In der | |
Ukraine war Europa immer ein Teil des Alltags, nie hat man gedacht, man sei | |
nicht Teil dieser Kulturgemeinschaft. Wir sind ein Land mit vielen | |
Kulturen, nicht nur einer – und die der Krimtataren gehört auch dazu.“ | |
Als der ESC 2005 erstmals in Kiew ausgerichtet wurde, merkte man der Stadt | |
an, dass sie sich wesentlich von sowjetischen Schlacken zu häuten begann. | |
Die Kiewer:innen – ratlos ob der queeren Fans aus allen möglichen | |
Ländern, teils schrill, jedenfalls oft offen schwul, eine queere | |
Gastrokultur wie in jüngerer Zeit existierte noch nicht. Das | |
Revolutionslied, mit dem die Ukraine bei jenem ESC antrat, „Razom nas | |
bahato“ (Zusammen sind wir mehr), war für das televotende Europa etwas zu | |
viel, es landete unter ferner sangen. | |
## 2009 homophobster ESC ever | |
Kein Land der jüngeren ESC-Geschichte war erfolgreicher als die Ukraine. | |
Sogar als [5][Russland, das mit teils monströs teuer produzierten Liedern | |
antrat] und doch nur einmal gewann: 2008 in Belgrad mit dem Sänger Dima | |
Bilan. Im Jahr darauf, 2009 in Moskau, fand der unfreundlichste, faktisch | |
homophobste ESC ever statt. Den Journalisten und Fans wurde verboten, | |
übermäßig stark mit Regenbogenfahnen herumzuwedeln; immerhin gab es noch | |
kein Gesetz, das öffentlich positives Sprechen über Homosexuelles unter | |
Strafe stellt. Was den Moskauer Bürgermeister damals nicht davon abhielt, | |
besonders gehässige Worte über den Eurovisionsstrom von queeren Leuten in | |
Moskau abzulassen, bei der Welcome Party: „Moskau kann nicht solche | |
Unsittlichen begrüßen, es ist gegen alle Kultur.“ | |
Als damals zwei Kilometer vom Roten Platz eine Mikro-CSD-Parade anberaumt | |
wurde, bestand diese am Ende aus 70 Leuten, am Rande supported von einigen | |
Journalisten (auch vom NDR), die Zeug.innen wurden, wie eine Parade an 500 | |
Milizionären den CSD auseinanderkloppten. Allen akkreditierten Gästen wurde | |
mitgeteilt, wer gegen diese Polizeiaktion protestetiert, verliere das Visum | |
und müsse ausreisen. Gegen diese Gastgeberstadt war [6][vier Jahre später | |
Baku] ein lauer Witz. | |
2017 in Kiew, die Stadt hätte sich geändert, queere Zeichen waren | |
willkommen, sie wurden von vielen Kiew.erinnen vielleicht als komisch | |
angesehen, aber eine solch aggressive Stimmung wie in Moskau fehlte, im | |
Gegenteil. Man merkte, im Vergleich mit dem ESC 2005, wie sehr diese schöne | |
Stadt um den Anschluss an Europa ringt: Man will sich, wie Jamala mir | |
damals sagte, als „würdig erweisen“, bald zu Europa zu gehören. Soviel | |
Bescheidenheit war ganz unnötig: Wer das Kiew (oder Charkiw oder andere | |
Städte und Dörfer) in jüngerer Zeit kennenlernte, merkte, dass da ein | |
freierer Wind wehte. | |
Was aus der Band wird, die dieses Jahr nach Turin fahren sollte, um die | |
Ukraine zu repräsentieren, Kalusha, ist ungewiss. Russland ist dieses Jahr | |
vom ESC in Turin ausgeschlossen worden. | |
3 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=B-rnM-MwRHY | |
[2] https://www.eurovision.de/feddersens_kommentar/Kommentar-zur-Kritik-an-Jama… | |
[3] /Shitstorm-um-ukrainische-ESC-Kandidatin/!5833708 | |
[4] https://www.eurovision.de/news/ESC-Siegerin-Ruslana-im-Interview,ukraine870… | |
[5] /Russlands-ESC-Kandidatin-Manizha/!5767785 | |
[6] /ESC-Berichterstattung/!5093141 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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wider. |