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# taz.de -- Ukraine gewinnt den ESC in Turin: Mehr als eurovisionärer Gratisso…
> Die Volxabstimmung rettete den Abend und kürte das Kalush Orchestra zum
> Gewinner des ESC. Schöne Pointe eines unterhaltsamen Abends.
Bild: Das Kalush Orchestra aus der Ukraine singt den Song „Stefania“ beim F…
Turin taz | Die Euphorie hielt sich wenigstens bei ihnen stark in Grenzen
kurz nach Mitternacht im Palaolimpico von Turin, der großen Olympiahalle,
in der der [1][66. Eurovision Song Contest] zelebriert wurde. Viele
jubelten, die Briten, Schweden, Spanier, Griechen und Niederländer, oft
bekamen sie „Twelve Points“. Aber Oksana Skybinska, Chefin der ukranischen
Delegation bei diesem ESC, guckte wie ihre Schützlinge nicht gerade
entzückt. Nach über drei Stunden Showspektakel ging es nun um die Wertungen
– zunächst um die der Jurys aus 40 Ländern, den Preisgerichten der Profis,
Künstler*innen und Musikindustrieangehörigen.
Und da tröpfelte es im Hinblick auf das einzige Ziel des ukrainischen
Kalush Orchestra bei diesem ESC doch eher gemächlich. So richtig sah das
nicht nach erfüllter Mission aus: dem dritten ESC-Sieg für dieses Land,
einem Sieg im Zeichen des russischen Angriffskriegs gegen die seit den
frühen Neunzigern Abtrünnigen aus dem russischen Imperium. In Führung:
exzellenter, aber eben doch nur Standardpop aus Großbritannien, Spanien und
Schweden. Es hatte ja auch noch nie ein Rap bei einem ESC gewonnen, aber
waren die Jurys, abgesehen von denen aus dem Baltikum, aus Polen und
Moldau, wirklich so herzenskalt, den für die Ukraine so wichtigen Gewinn zu
verweigern?
Als wärs aus einem ziemlich perfekten Drehbuch des Märchens vom Phönix aus
der Asche, kam es doch noch ganz anders, die Gesichter von Oleh Psyuk (der
mit dem filzigen Anglerhut), Ihor Didenchuk, Vlad Kurochka, Tymofii
Muzychuk, Vitalii Duzhyk, Dhhonni Dyvnyy und Sasha Tab hellten sich nicht
nur auf, sie sahen wie nach einer großen Anstrengung zwar erschöpft, aber
zufrieden, ja glücklich aus: Als die [2][Moderator*innen Laura
Pausini] (grandios, 14 Kleiderwechsel!), Mika (5 Outfitwechsel) und
Alessandro Cattelan das Bündel der Televotenden, der europäischen
Volxabstimmung verkündeten: [3][439 Punkte – von 468 möglichen Zählern.]
„[4][Stefania“, korrekter: die Ukraine erhielt aus allen Ländern
Höchstwertungen], die meisten „Douze Points“, auch aus Putin ambivalent
gegenüberstehenden Ländern wie Israel und Aserbaidschan, selbst Serbien mit
dem niedrigsten Wert für das Kalush Orchestra erkannte die Ukraine mit
sieben Punkten an. Mit anderen Worten: So sehr die Jurys vor sich hin
geschmäcklerten und sehr oft an Publikumsfavourites vorbeihörten, so sehr
rettete die Volxabstimmung die Atmosphäre der Herzen auch in Turin. Jubel,
Ergriffenheit bei der Ukraine, später Glückwünsche vom Präsidenten, Hugs
per SMS durch die Mutter, die „Stefania“ heißt, ihr war der Ethno-Rap ja
auch gewidmet, und vielen Freunden.
## Das Lied war einfach gut und sympathisch
Und es war ja auch nicht so, dass die Ukraine aus treudoofer,
schlafschafiger und eurovisionärer Gratissoli gewonnen hätte – schon vor
dem 24. Februar war ihr Lied mit der in dystopischen Zeiten gültigen Zeile
„I’ll always find my way home, even if all roads are destroyed“ aktuell
interpretiert worden und lag in den europäischen Wettbüros immer weit oben.
Das Lied ist einfach gut, moderner Seitenmainstream, sympathisch, eher
bescheiden in der Performance – nichts von der Perfektion etwa des Briten
Sam Riley mit der Freddie-Mercury-haften Stimme und dem Titel „Space Man“,
der Spanierin Chanel und ihrem einschüchternd perfekten Tanzgesangsvortrag
mit „SloMo“ (und, nein, so war es keineswegs) und der Schwedin Cornelia
Jakobs mit „Hold Me Closer“, einem funkelnden Stück aus schwedischer
Popindustrieproduktion. Die Ukrainer siegten beim Contestvoting der Herzen,
und das war eine erwartete, dennoch schöne Pointe des über vier Stunden
kurzen Abends.
Was war das für eine Propagandaschau des modernen Selbstverständnisses von
Europa: Inklusiv, hassfrei, queer, ästhetisch durchaus sammelsurisch,
antidiskriminierend, einladend und frisch. Da sah man eine
Valeska-Gert-hafte, durchweg surreal agierende Serbin namens Konstrukta,
die die Jurys nicht mochten, aber die Volxabstimmenden mit Liebe, eben:
Stimmen fast so wie das Kalush Orchestra überhäuften. Sie wusch sich drei
Minuten lang in einer Schüssel die Hände – das war auch lustig, klar, doch
in erster Linie glaubwürdig, warum auch immer. Kurzum: Man schwamm in einer
Bilderflut mal mehr, mal größerer Erbaulichkeit. Ergreifend zu sehen, wie
viele Künstler*innen performten, weil sie es, als Queers, als
missachtete Undergroundkünstlerinnen oder People of Colour als Chance ihres
Lebens mit more or less souveräner Lust zu nehmen wussten.
Angenehmerweise hetzte der gastgebende Sender RAI offenbar auch nicht durch
ein Programm, das auch in der Länge Opulenz verdient. Drei Stunden wie
früher? Mehr ist mehr, länger ist besser: Angenehm, wie die
Wertungszeremonie allen zugeschalteten Moderator*innen Raum für ihren
Dank und ihre Späßchen gab – ist ja nur einmal, warum Hetze? Und dann die
Lust der Kameras am Blick in die Zuschauerränge. Männer schwuler Art
rudelweise, einige trans Menschen, Drag Queens, anders als früher aber
ebenso viele kundige, enthusiasmierte Frauen, die dieses Hochamt der
Selbsteuropäisierung offenbar feierten, mithin: sich feierten. Schöne
Zeichen, die zu sehen waren, im Überfluss, man ist einfach offenbar sehr
gern das, was Wladimir Putin im Hass „Gayropa“ nennt: divers und politisch
wach in einem.
## Wo findet das Finale nächstes Jahr statt?
Bei der Siegesmedienkonferenz danach, aber schon vorher als Geraune zu
hören, wollte man wissen, ob denn die Ukraine nächstes Jahr, wie es Pflicht
für Gewinnerländer ist, den ESC ausrichten werde. Stockholms
Bürgermeisterin bot exilische Hilfe an, auch aus Polen waren gütige Stimmen
zu hören, man könne das doch in Warschau oder … Nein, sagte Oksana
Skybinska, wir werden den nächsten ESC ausrichten. Man muss ihre Worte
unbedingt ernst nehmen. Wer die Ukraine kennt, wer den „Wollen wir doch mal
sehen“-Ehrgeiz von Wolodymyr Selenskyj kennt, weiß: Die überdachen in fünf
Monaten das Olympiastadion von Kiew und machen die Chose dort – wohin auch
Selenskyj bei der Präsidentschaftswahl seinen Vorgänger Petro Poroschenko
lud und die Debatte gewann.
Und die Deutschen? Wurden mal wieder Letzte. [5][Malik Harris und sein
„Rockstars“] bekam nur je zwei Punkte aus Österreich, der Schweiz und
Estland. Eine lichtschluckende Show, gemessen an den anderen Performances
provinziell. Deutschland ist einfach nicht cool im Pop, mutlos, risikoscheu
und – das vor allem ist bedauerlich – Talente wie den jungen Bayern
verheizend. Dazu passt, dass ARD-Kommentator Peter Urban im italienischen
Lied von [6][Mahmood und Blanco („Brividi“)] den textlich geäußerten
Liebesschmerz – hier: bei einem offenkundig schwulen Paar – nicht zu
erkennen vermochte und von einem Lied zweier Brüder sprach. Geht noch mehr
alle Sagbarkeit missachtende Bratenrockhaftigkeit?
Immerhin, Trost für die ARD: Zwei Drittel aller jungen Zuschauer bis 29
Jahre guckten den ESC – sie werden sich mit der Piefigkeit der
ARD-ESC-Gewohnheiten nicht mehr lange zufriedengeben wollen. It’s Europe,
stupids!
15 May 2022
## LINKS
[1] /Eurovision-Song-Contest/!5850434
[2] https://www.youtube.com/watch?v=Oyps5Fb0XfM
[3] https://eurovision.tv/event/turin-2022/grand-final/results/ukraine
[4] https://www.youtube.com/watch?v=F1fl60ypdLs
[5] https://www.youtube.com/watch?v=2BYIou-oWXA
[6] https://www.youtube.com/watch?v=blEy4xHuMbY
## AUTOREN
Jan Feddersen
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