# taz.de -- Eurovision Song Contest: Warum die Ukraine den ESC gewinnt | |
> Die Band Kalush Orchestra lädt den Eurovision Song Contest politisch auf. | |
> Die musikalische Qualität ihres Liedes „Stefania“ wird dabei überhört. | |
Bild: Der Sänger Oleh Psiuk (m., mit Hut) widmete das Lied „Stefania“ sein… | |
Das Publikum in der riesigen Olympiahalle in Turin, Location des 66. | |
Eurovision Song Contests (ESC), ist zahlreich, Applaus bekommen alle 17 | |
Acts beim ersten Semifinale am Dienstag, in dem es um die Qualifikation für | |
das Finale am Samstag geht. Ein Act bekommt auch im Fernsehen mächtigen | |
Extrajubel: Das ist die ukrainische Band Kalush Orchestra [1][mit ihrem | |
Song „Stefania“]. Als die Moderator*innen die Ukraine als | |
qualifiziertes Land nennen, [2][brandet abermals Beifall in der Halle auf]. | |
Mit anderen Worten, ausweislich der Prognosen der europäischen Wettbüros: | |
Wer auf die HipHop-Eastern-Folk-Nummer mit dem Titel „Stefania“ setzt, | |
bekommt kaum mehr als den Einsatz zurück – so sehr ist dieses Land | |
favorisiert. Der ESC, dessen Resultat sich am Ende durch eine | |
Fifty-fifty-Mischung aus Jury- und Televotingstimmen zusammensetzt, wird | |
sich an diesem Abend symbolisch solidarisch erklären – vielleicht abgesehen | |
von Serbien, wo Putin und die Seinen noch etwas gelten. Aber das Gros der | |
40 am ESC teilnehmenden Televotingcommunitys wird es moralisch für geboten | |
halten, dieses in der Tat ja auch vorzügliche Poplied auf den Thron zu | |
hieven. | |
Ist der ESC nicht in Wirklichkeit nur ein Liederwettbewerb mit ästhetisch | |
begrenzter Haltbarkeit? Ist es nicht in den ESC-Statuten verboten, | |
politisch zu agieren? Beide Fragen können mit einem nüchternen Ja | |
beantwortet werden. Aber Kalush Orchestra, deren Musik in Hipsterkreisen | |
der Ukraine viel gespielt wird und deren popästhetische Arbeiten mehr an | |
den hippen Szenen aller europäischen Länder orientiert sind, als dass sie | |
in Mainstreamradios liefen, liefern mit ihrem Lied keine politische | |
Agitation. „Stefania“ ist ein energisch-fröhliches Liebeslied ohne direkte | |
Politmessage, der Sänger Oleh Psiuk hatte es schon vor Monaten seiner | |
Mutter gewidmet. | |
Die Politisierung beziehungsweise die Solidaritäts- und | |
Mitgefühlsreaktionen machen es für die Band, selbst im Moment des | |
wahrscheinlichen Erfolgs, zwiespältig: Mission erfüllt – dabei hätte | |
„Stefania“ auch in friedlichen Zeit prima Chancen auf den Sieg gehabt. | |
Aber, so oder so: Die symbolische Solidarität funktioniert beim ESC immer | |
schon mit den Vorräten des Wissens, das das Publikum in das Event mit | |
hineinträgt. | |
Für die Ukraine ist die Performance von Kalush Orchestra politisch und | |
kulturell so wichtig, wie nur irgendein Gastspiel jenseits des von Russland | |
militärisch heimgesuchten Lands sein kann. Sie bekamen selbstverständlich | |
Ausreisegenehmigungen. Für die Mission Eurovision Song Contest waren sie | |
vom Kriegsdienst gegen die russischen Invasoren freigestellt. Die jungen | |
Männer der Band, die in den Wochen vor der Reise nach Turin meist nur per | |
Zoom miteinander proben konnten, wissen, dass sie in der italienischen | |
Metropole nicht für einen Gig an irgendeinem Tourneeort zu Gast sind, | |
sondern dass sie im günstigsten Fall den dritten Sieg für ihr Land zu | |
erringen aufgefordert sind. | |
## Wird der nächste ESC in Kiew stattfinden? | |
Zweimal hat die Ukraine bereits den ESC gewonnen, und beide Male waren auch | |
politisch aufgeladen. 2004 holte die Sängerin Ruslana mit „[3][Wild | |
Dances]“ den ersten Sieg für dieses postsowjetische Land. Sie war die | |
Künstlerin, die im restlichen Europa die Botschaft der Orangenen Revolution | |
verbreitete. „Meine Botschaft ist die eines freien Lands, das nicht auf | |
Moskau hören will – und zu Europa gehören will“, sagte sie. | |
2015, beim ersten ESC in Kiew, war die Band Greenjolly mit „[4][Razom nas | |
bahato]“ am Start, es war der Mitgrölrap dieser demokratischen Rebellion. | |
Bei den Maidan-Aufständen 2014 spielte sie ihre europäische Prominenz auch | |
jenseits der Ukraine aus, um die Botschaft zu lancieren: Nein, wir | |
rebellieren nicht für ein Naziregime, wir sind für Europa, gegen Korruption | |
und für Demokratie. 2016 gewann in Stockholm dieses Land mit der Sängerin | |
Jamala den ESC – [5][ihr Lied „1944“] handelte im jazzig-folkligen | |
Drama-Elektro-Sound von der stalinistischen Vertreibung der Krimtataren aus | |
ihrer Heimat gen Sibirien. | |
Russland missbilligte den Sieg der Sängerin schwer, zumal der eigene | |
Kandidat, Sergei Lasarew, viel Geld als Marketinginvestment für die Show | |
investierte. Überhaupt nutzte Russland den ESC als Imageplattform: [6][Seit | |
1994 als eines der ersten osteuropäischen Länder beim ESC] dabei, steckte | |
es so viel Geld in das ESC-Geschehen wie kaum ein anderes Land. Oft waren | |
die Lieder dem Frieden, der Liebe oder dem guten Miteinanderleben gewidmet, | |
immer galt es, für das Land selbst bella figura zu machen. | |
Als Russland mit Dima Bilan 2008 gewann und im Jahr darauf die Show in | |
Moskau ausgetragen wurde, war der schöne Schein des freundlichen Friedens | |
passé. Am Ort selbst war es [7][verboten, Regenbogenfahnen zu schwenken]. | |
Eine von Moskauer Queers organisierte CSD-Parade mit nur einer Handvoll | |
Teilnehmer*innen wurde vor den Augen der europäischen | |
Besucher*innen beim ESC von Milizen und Polizeieinhalten brutal | |
zerschlagen: Für Präsident Putin war der ESC in seinem Land eine Sache des | |
Renommees, wofür er allerdings nicht den Kern des Events mit in Kauf nehmen | |
wollte: dass der ESC eben auch immer ein queeres Ding ist, ein Zeichen des | |
von der Putin-Nomenklatur gehassten „Gayropa“. | |
Russland wurde beim diesjährigen ESC ausgeladen, da zögerte die European | |
Broadcasting Union in Genf, Veranstalterin des ESC, keine Sekunde. Im | |
Vorjahr wurde schon Belarus aus dem Wettbewerb geworfen – als Reaktion auf | |
die tyrannische Niederschlagung der Proteste in diesem Land gegen den | |
autokratischen Präsidenten Lukaschenka und weil der ESC-Sender des Lands | |
eine Art Lukaschenka-Jubelarie delegieren wollte. | |
Die Frage, die die ukrainische Delegation in Turin am häufigsten gestellt | |
bekommt, ist die nach dem Ort des nächsten ESC: Wo wollt ihr den ESC dann | |
ausrichten? Denn das Siegesland eines ESC verpflichtet sich mit dem | |
Triumph, den nächsten ESC zu veranstalten. | |
Und immer lautet die Antwort der ESC-Verantwortlichen der Ukraine: in | |
unserem Land – wo sonst? Es wäre vermutlich wieder Kiew, zum dritten Mal | |
nach 2005 und 2017. Nötigenfalls würde das Olympiastadion überdacht werden, | |
um das Event zu ermöglichen, aber so viel Prestige ließe man sich nicht | |
entgehen – 150 Millionen Zuschauer*innen an einem Abend im Mai 2023, so | |
viel fette politische Manifestation würde sich kein Land, das Opfer eines | |
Kriegs wird, entgehen lassen. | |
13 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=jfm8hVNZt8g | |
[2] https://www.ukrinform.net/rubric-society/3480185-kalush-orchestra-receives-… | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=10XR67NQcAc | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=N5u6J_mbhLU | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=B-rnM-MwRHY | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=CQ6wLOrAc3o | |
[7] https://www.youtube.com/watch?v=-72s4WzUcKI | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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