# taz.de -- Moldau und der Krieg gegen die Ukraine: Ein Zug des Schmerzes | |
> Der Ukraine-Krieg überschreitet Grenzen. In Moldau erinnert man sich | |
> durch ihn an die eigenen schrecklichen Kriegserfahrungen mit den Sowjets. | |
Bild: Das Denkmal „Zug der Schmerzen“ in Chişinău | |
Vieles der sowjetischen Gewaltgeschichte ist in Westeuropa kaum präsent. | |
Als ich im Sommer für eine Recherche in der Republik Moldau bin, um | |
herauszufinden, wie [1][der russische Angriffskrieg] in der Ukraine Spuren | |
in dem kleinen Nachbarland hinterlassen hat, wird auch mir klar, dass ich, | |
die in diesem Land geboren wurde, von manchem Schmerz nichts weiß. | |
Es war Mai und ätzend heiß. Unter Bäumen suchten meine Cousine und ich | |
Schutz vor der Sonne. Sie blickte mich eindringlich an und sagte dann: | |
„Wie, du weißt nichts davon, dass auch in unserer Familie jemand deportiert | |
wurde? Du weißt nichts von der Hungersnot hier?“ | |
Die historische Region Bessarabien im heutigen Südosten Moldaus und die | |
Bukowina, die zum Teil zur heutigen Ukraine und Rumänien gehört, waren in | |
der Vergangenheit immer wieder zum Schauplatz für Konflikte zwischen | |
europäischen Großmächten geworden. Ein geheimes Zusatzprotokoll zwischen | |
Hitler und Stalin machte damals den Weg für die Sowjets frei, sich das | |
Gebiet einzuverleiben. Mit der militärischen Besetzung begann die | |
Sowjetisierung und es begann der Terror gegen die Bevölkerung. | |
Die größte Deportationswelle fand in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli 1949 | |
statt und kostete mehr als 35.000 Menschen in Bessarabien und der | |
Nordbukowina das Leben. Frauen, Männer und Kinder wurden in Waggons | |
verladen und zur Zwangsarbeit nach Sibirien gebracht. Auf die Waggons | |
hatten die Sowjets „Zug mit rumänischen Arbeitern, die vor dem Joch der | |
Bojaren aus Rumänien geflohen sind, um ins sowjetische Himmelreich zu | |
gelangen. Begrüßt sie mit Blumen!“ oder „Freiwillige Emigranten“ | |
geschrieben. Ganz Bessarabien war zu einem großen Bahnhof verkommen. | |
Allein aus meiner Geburtsstadt Bender fuhren 48 Züge ab. Die Züge, schrieb | |
die Historikerin Viorica Olaru-Cemîrtan einmal, trugen alle Trauer. | |
73 Jahre nach diesen Ereignissen sind nur noch wenige der Deportieren am | |
Leben. Wer überlebte und wieder in seine Heimat zurückkehrte, begrub das | |
Trauma in sich – so wie auch wohl in meiner Familie. Warum sonst hatte ich | |
nie jemanden darüber sprechen hören? Ein Denkmal, das an die Deportationen | |
erinnern soll und den Namen „Zug der Schmerzen“ trägt, wurde erst 2013 in | |
Moldaus Hauptstadt Chișinău vom ehemaligen Bürgermeister der Stadt, Dorin | |
Chirtoacă, eingeweiht. Auch seine Vorfahren waren Opfer sowjetischer | |
Deportationen. | |
## Erinnerungen werden wach | |
Monate nach meiner Reise stieß ich auf [2][ein Interview mit der | |
rumänisch-moldauischen Schriftstellerin Tatiana Țîbuleac]. Sie erzählte von | |
der Erfahrung der sowjetischen Besatzung. Davon, wie die Erlebnisse ihrer | |
Großeltern, das Trauma, sich an sie vererbt hatte. Sieben Jahre mussten | |
ihre Großeltern in Sibirien verbringen. In dieser Zeit brachte ihre | |
Großmutter in der Taiga ein Kind, Ionel, zur Welt und beerdigte es sogleich | |
wieder: „Nur eine Stunde nach der Geburt war sie (die Großmutter) an der | |
Reihe, im Wald Holz zu hacken, und die Soldaten holten sie aus der Kaserne, | |
damit sie ihre Pflicht erfüllte. Sie ließen Ionel dort auf der Bank liegen, | |
und als ihre Schicht zu Ende war, kamen sie nach Hause und fanden ein | |
erfrorenes Kind vor. Großvater bat darum, ihn zu begraben, aber weil der | |
Boden nass war, schaffte er es nicht, ein Loch für ihn zu graben, und warf | |
ihn in ein Loch mit Wasser. Vielleicht rührt daher die Angst vor Wasser in | |
unserer Familie.“ | |
[3][In Moldau] sind in den vergangenen Wochen immer wieder russische | |
Raketen oder Trümmer davon eingeschlagen. Auch der Strom ist durch Angriffe | |
auf die Ukraine ausgefallen. Der Krieg schlägt in einem anderen Land ein, | |
überschreitet Ländergrenzen. Da werden bei vielen in Moldau auch | |
Erinnerungen wachgerüttelt: an die Zeit des Terrors. | |
10 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5900232 | |
[2] https://www.apofenie.com/interviews/2022/10/11/tatiana-tibuleac-interview | |
[3] /Bezahlte-Proteste-in-Moldau/!5890842 | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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