# taz.de -- Landwirtschaftsminister Cem Özdemir: Fast ganz oben | |
> Cem Özdemir hat viel erreicht. Er ist Bundesminister – wenn auch nur für | |
> Landwirtschaft – und wirkt größer als sein Amt. Geht da noch mehr? | |
Bild: Mag es grün: Cem Özdemir | |
Es gibt kein Ministerium, das so existenziell wichtig ist wie das | |
Landwirtschaftsministerium. Könnte man denken. Es muss schließlich im | |
Klimawandel die Grundlagen unseres Essens und Trinkens erhalten. Und ohne | |
Ernährung und Wasser geht für Menschen gar nichts. Jedenfalls nicht lange. | |
Das öffentliche Ansehen des Ministeriums entspricht dem allerdings nicht, | |
Kanzler Scholz ist nicht dafür bekannt, für Landwirtschaft zu brennen, die | |
ganze SPD und auch die FDP nicht. Es ist vielleicht auch interessant, was | |
man beim jüngsten [1][Grünen-Parteitag Mitte Oktober] zu hören gekriegt hat | |
beim Rumfragen, wie wichtig denen dort dieses Ministerium ist und was der | |
Minister so macht. | |
Die höfliche Antwort lautet: Schon auch wichtig. | |
Die spontan-offene: Interessiert keine Sau. | |
Das ist jetzt selbstverständlich keine repräsentative Umfrage, aber Fakt | |
ist, dass Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir beim Parteitag in Bonn | |
drei Minuten Redezeit bekam, und zwar am Sonntagmittag, als die ersten | |
Delegierten schon mit ihren Köfferchen Richtung Bahnhof bollerten. Er | |
sprach dann auch nicht prioritär über Tierwohl, sondern hielt eine | |
donnernde Verteidigungsrede für die Arbeit der Grünen in der | |
Bundesregierung und speziell für ihren Vizekanzler Robert Habeck und dessen | |
Kohleausstieg-Kompromiss, den er einen „Riesenerfolg“ nannte. Dann fing er | |
sehr gekonnt an rumzuschreien, sie, die lieben Freundinnen und Freunde, | |
seien nicht die „Jammerpartei“, sondern die „Macherpartei“, die auch mit | |
denen mache, die sie nicht gewählt hätten. Riesenjubel. | |
## Herr ÖTZ-dem-IER | |
Beim Gespräch in einem ICE-Abteil auf der Fahrt zu diesem Parteitag hatte | |
Özdemir, 56, davon gesprochen, dass er seine Aufgabe auch darin sehe, „dem | |
Vizekanzler den Rücken freizuhalten“. Özdemir sagt neuerdings wirklich gern | |
„der Vizekanzler“ über seinen langjährigen Parteifreund und Konkurrenten | |
Habeck. Und er spricht auch davon, dass es schon ein sehr besonderer Moment | |
für ihn gewesen sei, als er das erste Mal „mit dem Kanzler und dem | |
Vizekanzler“ am Kabinettstisch saß. | |
„Mir war nicht an der Wiege gesungen, dass ich mit so einem Namen mal | |
Bundesminister werde“, sagt Cem Özdemir. Soll heißen: dass er viel erreicht | |
hat und zudem viel mehr, als für ihn vorgesehen war, wenn man das so | |
formulieren will. Und dass er das zu schätzen weiß. Er, der Türkenjunge aus | |
dem Arbeitermilieu aus der schwäbischen Kleinstadt Bad Urach, der im | |
Gegensatz zu den ganzen Bildungsmittelschichtsleuten in seiner Partei | |
keinen Klavierunterricht bekam, dessen Eltern ihm nicht aus dem „Kleinen | |
Prinzen“ vorlasen und den längst nicht nur ein Grundschullehrer | |
diskriminierte. Der nicht mal ein richtiges Abitur hat, was außer ihm bei | |
den Grünen fast nur für Joschka Fischer gilt. Den sie bei fast jedem Termin | |
unverdrossen „Herr ÖTZ-dem-IER“ nennen, obwohl er „ÖSS-demir“ heißt. | |
Und nun ist er trotzdem ganz oben. | |
Na ja, nicht ganz. Oben sind Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck mit | |
seinem Schlüsselressort. Aber dahinter kommen in den einschlägigen | |
Umfragen, wer zur Top Five der Politiker gehört, die die Bundesdeutschen | |
schätzen oder wichtig finden, nicht nur Finanzminister Lindner und | |
Außenministerin Baerbock, sondern auch schon Özdemir. Im Gegensatz zu den | |
meisten Kabinettskollegen wird er nicht durch sein Amt größer, sondern er | |
ist größer als das Amt. | |
Nun sagt aber das [2][Landwirtschafts-Fachmagazin agrarheute,]dass die Fans | |
von Özdemir zwar alles Mögliche seien, aber in der Regel keine Bauern. Sie | |
interessierten sich zwar laut des Meinungsforschungsinstituts Yougov für | |
Politik, wohl auch für Ernährung, nicht aber für Ernährungspolitik. Leute, | |
die Özdemir schätzen, das ist der Tenor, schätzen das Özdemir-Portfolio | |
jenseits seiner Fachzuständigkeit, also Außenpolitik, Menschenrechte, | |
Antirassismus, Erdoğan-Kritik. Tatsächlich ist Özdemir weiterhin „in den | |
Themen sehr präsent, die ihn biografisch immer getragen haben“, wie das ein | |
langjähriger Weggefährte formuliert. | |
An einem Samstag im Spätherbst ist Özdemir in Ravensburg, um auf der | |
„grünen Bühne“ die Oberschwabenmesse zu eröffnen. Vor ihm hält der | |
Ravensburger Oberbürgermeister Daniel Rapp, nominell CDU, eine furiose | |
Klimapolitikrede, wie man sie sich beim Grünen-Parteitag mal wünschen | |
würde. Danach überreicht der baden-württembergische Gesundheitsminister | |
Manfred Lucha, Grüne, ein Jugendbild der beiden. „Da waren wir noch junge | |
Buben“, sagt er. Özdemir antwortet, er hätte sich nicht träumen lassen, | |
dass sie beide mal Minister würden, und sagt dann direkt zu Lucha: „Augen | |
auf bei der Berufswahl. Hättsch’ was Gscheit’s glernt!“ Großer Lacher im | |
Zelt. Das ist einer seiner bewährten Standardsprüche. Kommt immer gut. | |
Özdemir wird ja gern vorgeworfen, dass er seine Sprache der jeweiligen | |
Kundschaft anpasse, also je stärker schwäble, desto näher er der | |
Schwäbischen Alb komme. Aber es ist nun mal so, dass die Leute zu Hause | |
einen für einen abgehobenen Deppen halten, wenn man ihnen mit dem Berliner | |
Mittelschichts-Checker-Sound kommt. Es ist schwer zu sagen, ob Özdemir so | |
etwas strategisch einsetzt, um ein diverses Werteportfolio zu | |
demonstrieren. Jedenfalls wurden die Grünen dafür nicht gegründet. | |
„Wie sich’s gehört“, sagt Özdemir auch gern. Das habe er vom Vater | |
mitbekommen, Abdullah Özdemir, der in den frühen 1960ern aus dem Städtchen | |
Pazar am Schwarzen Meer nach Bad Urach am Rand der Schwäbischen Alb umzog | |
und dort in einer Fabrik arbeitete. Die Mutter kam aus Istanbul und war | |
selbstständige Schneiderin. Der Vater sagte ihm auch, er solle sich immer | |
anständig anziehen, was er beherzigt. | |
Ödzemir wolle eigentlich gar nicht Landwirtschaftsminister sein, lautet | |
eine gern kolportierte Einschätzung von Gegnern in und außerhalb der | |
Partei. Dazu sollte man vielleicht erst mal daran erinnern, wie er es | |
wurde. Nachdem Kanzlerinkandidatin Annalena Baerbock noch im Wahlkampf | |
behauptet hatte, sie sei ihren Kindern ernsthafte Klimapolitik schuldig, | |
verlangte sie nach ihrer krachenden Niederlage kategorisch das eher der | |
Darstellung dienliche Amt der Außenministerin. | |
Dazu kamen die komplizierten Identitäts-Repräsentationszwänge der Partei, | |
sodass Özdemir – der schon 2017 das Außenministerium knapp verpasste – am | |
Ende ohne Amt geblieben wäre, hätte nicht Robert Habeck in letzter Minute | |
eine neue Mehrheit für ihn organisiert. Das, sagen Freunde, werde er dem | |
Vizekanzler nie vergessen, damit sei auch die Konkurrenz abgehakt und die | |
„Rücken freihalten“-Aussage kein Blabla, sondern ein Versprechen. Mit dem | |
Ministeramt habe Özdemir auch seinen Frieden mit der Partei gemacht. | |
Özdemir war ja viele Jahre Parteivorsitzender, wurde vom linken Flügel hart | |
bekämpft und sah sich überhaupt mit vielen Vorurteilen konfrontiert. | |
Dampfplauderer, Parvenü, Opportunist, Antiintellektueller, | |
Baden-Württemberg-Realo, Letzteres vermutlich die schlimmste Kategorie für | |
einen aufrechten Linksgrünen. Man könnte manchmal glauben, die Kränkung | |
herauszuhören. Etwa, wenn er regelmäßig seinen „zweiten Bildungsweg“ | |
erwähnt oder scheinbar beiläufig sagt, dass er Proust ja erst „sehr spät“ | |
gelesen habe. | |
Jedenfalls hat er in einer ungleich schwierigeren Lage als nach ihm Habeck | |
bereits an der Öffnung und Weiterentwicklung der Partei Richtung Mehrheiten | |
gearbeitet. Er hat sie auch repräsentiert, sodass er in der richtigen Welt | |
schon damals größer als die Partei erschien, aber da die jeweilige | |
Co-Vorsitzende kleiner, als die Partei sein wollte oder musste, hob sich | |
das auf. | |
Bei der Bundestagswahl 2017 holte Cem Özdemir als Spitzenkandidat 8,9 | |
Prozent und damit auch nur das, was die Grüne Engführung in der | |
Vergangenheit hergab. Der Sprung nach vorn gelang erst seinem Nachfolger | |
Habeck, der mit Baerbock eine verlässliche Parteifunktionärin an seiner | |
Seite hatte, die zwar sehr wohl zum Aufpassen da war, aber nicht mehr | |
dafür, die internen Kräfte zu neutralisieren. Die beiden schienen sich | |
einige Jahre gegenseitig größer zu machen, wodurch die Grünen zur | |
„führenden Partei der linken Mitte“ (Habeck) wurden. Bis sie dann im | |
Wahlkampf 2021 wieder hinter die Scholz-SPD zurückfielen – und es seither | |
entschlossen vermeiden, den Rückfall analytisch aufzuarbeiten. | |
Die mehrheitsfähig sein wollende Partei verkörpert Özdemir habituell und | |
positionell und ist damit – auch wenn Habeck und Baerbock das nicht gerade | |
förderten – neben den beiden und Ministerpräsident Winfried Kretschmann der | |
vierte Spitzengrüne in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit. Doch | |
was kann er damit machen? Für die nächste Kanzlerkandidatur bei einer | |
Urwahl der normalen Mitglieder am Vizekanzler vorbeizuwollen, ist wohl | |
selbst für Annalena Baerbock aussichtslos. | |
Aber es gibt ja noch etwas Größeres, jedenfalls für einen Schwaben. Das ist | |
das Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Wenn Cem Özdemir | |
will, dann kann er, ist der Grüne Flurfunk in Stuttgart. Aber will er? Aus | |
Berlin hört man, dass er anständig „gerufen“ werden wolle, sonst komme er | |
nicht. In Stuttgart gibt es strategisch herausragende Spin-Doktoren, wie | |
man an den Wahlergebnissen sieht. Und die sagen: Özdemir muss Winfried | |
Kretschmann nachfolgen, denn er sei der einzige Grüne, der die | |
darauffolgende Landtagswahl 2026 gewinnen könne. Diese ist nicht nur für | |
das Bundesland wichtig. Jene Parteifunktionäre aber, die sich mit | |
Mehrheiten unwohl fühlen, hoffen immer noch, sich vom Gedanken einer Grünen | |
Volkspartei mit dem Abgang von Kretschmann verabschieden zu können. | |
Warum Özdemir dafür zentral ist, liegt auch daran, dass selbst in | |
Baden-Württemberg viele weder den Fraktionsvorsitzenden der CDU (Manuel | |
Hagel) noch den der Grünen (Andreas Schwarz) kennen, und auch den Grünen | |
Finanzminister Danyal Bayaz noch nicht. Sie kennen namentlich nur zwei | |
Landespolitiker: ihren Ministerpräsidenten – und Özdemir, der zwar keiner | |
ist, aber gerne und häufig Termine in Baden-Württemberg absolviert, eine | |
Wohnung in Stuttgart hat und seinen dortigen Wahlkreis mit dem besten | |
Ergebnis aller direkt gewählten baden-württembergischen | |
Bundestagsabgeordneten gewonnen hat. | |
Jetzt ist es von oder für Journalisten immer blöd, mit einem Thema | |
anzukommen, von dem man weiß, dass der andere auf keinen Fall davon reden | |
wird. Von dem man aber trotzdem denkt, man müsse es ansprechen. Und so | |
entspinnt sich auf der bereits erwähnten ICE-Fahrt ein mittellanges | |
Nichtgespräch über den nächsten Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. | |
Andere sind da weniger verschlossen. Bei der Opposition sagen sie, es sei | |
doch offensichtlich, dass Özdemir als Landwirtschaftsminister gar nicht | |
erst loslegen wolle, sondern sein Hauptziel darin bestehe, schöne Reden zu | |
halten und keinen Fehler zu machen, bis er endlich nach Stuttgart könne. | |
Aber das ist eben auch ein Spin, so wie es der Spin seiner Leute ist, zu | |
sagen, er sei angekommen und habe keine Lust mehr, auf etwas zu warten, wie | |
all die Jahre zuvor. Das sagt er selbstverständlich auch. Er wolle den Job, | |
den er mache, richtig gut machen. Und dass er mit „einem der größten | |
Reformvorhaben in der Landwirtschaft“ beschäftigt sei. | |
Mitte dieser Woche hat Özdemir in Berlin sein erstes Jahr bilanziert. Es | |
war prioritär dem Tierwohl gewidmet, konkret dem Versuch, endlich [3][ein | |
Tierhaltungskennzeichnungsgesetz] durchzusetzen, das bisher nicht zustande | |
kam. Letzte Woche ist es durch den Bundesrat gegangen, allerdings zunächst | |
nur für unverarbeitetes Schweinefleisch. | |
Der neue Minister war vor zwölf Monaten eingestiegen mit dem hehren | |
Koalitionsziel von 30 Prozent Ökolandbauflächen bis 2030 (von bisher etwa | |
10 Prozent) und markanten Aussagen, dass Fleisch zu billig sei, also auf | |
Kosten von Tierhaltung und Klimaschäden produziert wird. Russlands Überfall | |
auf die Ukraine hat auch hier reingehauen, weil die langfristigen Schäden | |
für das Allgemeine seither noch stärker hinter die akuten Probleme von | |
Einzelnen zurückfallen, also den Benzin- und Fleischpreis. | |
## Mit Bauern in Frieden leben | |
Was kann man im Amt des Landwirtschaftsministers wirklich reißen, das ist | |
eine unbeantwortete Frage. Ein langjähriger journalistischer Beobachter | |
sagt: Nicht viel, außer mit den Bauern irgendwie in Frieden zu leben. Cem | |
Özdemirs viel gescholtene Vorgängerin Julia Klöckner (CDU) habe vier Jahre | |
überlebt, das sei aller Ehren wert. | |
Bei Opposition und manchen Verbänden bringen sie den Grünen die üblichen | |
Vorbehalte entgegen: Die hätten keine Ahnung, weil sie selbst keine Bauern | |
seien. Die Spitze, neben dem Minister aus drei Grünen Staatsekretärinnen | |
bestehend, triefe vor „Grüner Ideologie“ und sei deshalb jenseits der | |
Realität der Landwirte in Deutschland. Allerdings sei Özdemir selbst ein | |
total netter Typ, ein begabter Menschenfänger, sagt Albert Stegemann, ein | |
Landwirt aus dem Emsland, der für die CDU die Oppositionspositionen gegen | |
Özdemir zu formulieren hat. „Kommunikationsmäßig absolute Spitzenklasse, | |
aber seine Politik sorgt für keinerlei Veränderung.“ Was habe denn Özdemir | |
in seinem Jahr im Amt geschafft, bitte schön? Ein Hopfengesetz | |
verabschiedet, aber sonst „gar nichts, null, zero“. | |
Nun ist das Landwirtschaftsministerium, im Gegensatz zum Umweltministerium, | |
ein „knallhart schwarzes Haus“, wie die Grünen gerade auf die harte Tour | |
erfahren. Manchmal landen Entwürfe auf ihrem Schreibtisch, die gegen die | |
geplante Politik argumentieren. Trotzdem haben die Grünen | |
selbstverständlich den Eindruck, dass sie trotz der Kollateralschäden des | |
russischen Überfalls auf die Ukraine einen Paradigmenwechsel schaffen | |
werden. | |
„Uns unterscheidet“, sagt Staatssekretärin Manuela Rottmann, „dass wir d… | |
Politik danach ausrichten, dass ökologische Grundlagen die Basis der | |
Ernährungssicherung sind.“ Gerade auch die Bauern stehen vor härteren | |
Zeiten, sind von den Folgen von Krieg, Klimakrise und steigenden | |
Energiepreisen betroffen. Die Regierungs-Grünen wollen die Landwirtschaft | |
im Klimawandel „zukunftsfest“ machen, also eine Begrenzung seiner Folgen. | |
Das bedeutet für sie: weniger Nutztiere, bessere Haltung, weniger und | |
teureres Fleisch. Und gesunde Böden, was auf weniger Dünger und Pestizide | |
rausläuft. | |
## Parlieren mit der Apfelkönigin | |
Aber auch das sieht die große Mehrheit der Bauern ganz anders. In einer | |
Obstplantage nahe Friedrichshafen erklärt ein Apfelbauer an einem Samstag | |
im Herbst dem Landwirtschaftsminister, warum eine geplante EU-Verordnung | |
ihn und viele andere Apfelbauern killen würde. Die EU will den Einsatz von | |
Pestiziden bis 2030 um 50 Prozent reduzieren und in Schutzgebieten gar | |
nicht mehr zulassen, dabei ist die „integrierte“ Landwirtschaft aus Sicht | |
ihrer Bauern mit Artenschutz und Klimaschutz bestens kompatibel. | |
Es ist ein echtes Ereignis, dass sie den Minister hierher an den Bodensee | |
gekriegt haben, in eines von vier großen Apfelanbaugebieten in Deutschland. | |
Die Branche besteht aus traditionellen Familienbetrieben, oft Jahrhunderte | |
alt, und die Situation ist laut Eigeneinschätzung „zunehmend verzweifelt“. | |
Man würde es nicht denken, aber Apfelproduktion ist sehr energieintensiv, | |
weil Teile der Ernte über Monate gekühlt gelagert werden, weshalb die | |
steigenden Energiepreise voll reinknallen. Dazu kommt der Mindestlohn von | |
12 Euro, der über dreimal höher ist als das, was die polnische Konkurrenz | |
zahlt. Dann ist da die schwierige Zusammenarbeit mit den deutschen | |
Supermarktketten, die billigeres Weltmarkt-Flugobst gegen den CO2-ärmeren | |
deutschen Apfel ausspielen. Manche Äpfelbauern haben im Oktober [4][Teile | |
ihres Anbaus verrotten lassen], weil sie das weniger kostet, als sie zu | |
pflücken und zu lagern. | |
An diesem Samstag sind alle da, die was zu sagen haben oder zu | |
repräsentieren, bis hin zu einer Apfelkönigin, mit der Özdemir auch kurz | |
parliert. Manche Bauern stellen sich breitbeinig auf. Die Reden sind im Ton | |
höflich, aber in der Sache drängend: „Herr Özdemir, wir brauchen Ihre | |
Unterstützung“, aber nicht für die Transformation zu Bio, sondern zum | |
Weiterbenutzen von Pflanzenschutzmitteln im Schutzgebiet. „Herr Özdemir, | |
lehnen Sie das Gesetzpaket der EU ab.“ Es gibt da einen | |
baden-württembergischen Kompromiss und der dürfe nicht überschritten | |
werden. | |
## „Schwätza muass mer mit de Leit“ | |
Wenn man sich nicht auskennt, ist man erst mal erschüttert, wie schlimm die | |
Bauern dran sind, aber im Zuge der Recherche verdichten sich die Anzeichen, | |
dass immer alles vorbei wäre, wenn Cem Özdemir irgendetwas umsetzen würde, | |
und dass alle immer grundsätzlich bereit sind, aber diese spezielle Sache | |
auf keinen Fall gehe. Der „Minischter“, wie er sich selbst nennt, hält dann | |
eine austarierte Rede, in der er die Sorgen und Nöte der Apfelbauern | |
aufnimmt und verspricht, sich für sie einzusetzen, in Brüssel und | |
überhaupt. | |
„Mein Prinzip isch: Schwätza muass mer mit de Leit“, sagt er. Wie Habeck | |
hat auch Özdemir die moralautoritären Nischenreflexe der alten Grünen durch | |
den „guten“ Kompromiss als zukunftsgestaltenden und | |
gesellschaftszusammenhaltenden Wert abgelöst. „Cem muss Mordskompromisse | |
eingehen“, sagt Daniel Cohn-Bendit, der sein EU-Fraktionschef zu Özdemirs | |
Brüsseler Zeiten Anfang des Jahrtausends war. „Aber Kompromisse kann er | |
gut.“ | |
Özdemir will ausdrücklich ein Landwirtschaftsminister aller Bauern sein, | |
ein Landwirtschaftsvater sozusagen, und das ist selbstverständlich auch | |
machtstrategisch hilfreich, ob nun in der Republik oder in | |
Baden-Württemberg, wo der in jeder Beziehung fossile | |
Landwirtschaftsminister Peter Hauk Last Man Standing jener alten CDU ist, | |
die von Kretschmann als Baden-Württemberg-Partei abgelöst wurde. | |
Überall wo der Minister am Bodensee hinkommt, drücken sie ihm einen Apfel | |
in die Hand. Er bedankt sich stets höflich und sagt dann zu seinem | |
Assistenten: „Franz, pack’s ei.“ Später steht eine große Papiertüte vo… | |
Äpfel neben Özdemir im Regionalexpress nach Ulm. | |
Und, essen Sie denn nun die ganzen Äpfel? | |
Er schaut lange sinnierend in die Papiertüte. „Die halten sich ja“, sagt er | |
dann vage. | |
Wenn Cem Özdemir nicht schon Politiker wäre, es wäre einer an ihm verloren | |
gegangen. | |
3 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gruenen-Parteitag/!5885664 | |
[2] https://www.agrarheute.com/politik/cem-oezdemir-smash-fuer-wen-599602 | |
[3] /Oezdemir-plant-Tierhaltungskennzeichnung/!5857697 | |
[4] /Obstanbau-in-der-Krise/!5885801 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Cem Özdemir | |
Landwirtschaft | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
GNS | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
wochentaz | |
Cem Özdemir | |
Cem Özdemir | |
Schwerpunkt Pestizide | |
IG | |
Schwerpunkt Pestizide | |
Greenwashing | |
Landwirtschaft | |
Schwerpunkt Pestizide | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachfolge von Winfried Kretschmann: Özdemir will Ministerpräsident von Baden-… | |
Lange war es ein offenes Geheimnis, jetzt ist es offiziell: | |
Landwirtschaftsminister Cem Özdemir bewirbt sich 2026 als | |
Ministerpräsident. | |
Nachfolge von Winfried Kretschmann: Warten auf Cem | |
Baden-Württemberg hat noch über ein Jahre bis zur Wahl. Aber in | |
Kretschmanns Koalition rumpelt es. Und alle Fragen: Wann entschließt sich | |
Özdemir? | |
Landwirtschaft und Ernährungssicherheit: Gift aus dem Ausland | |
Kleinbauern in Uganda verwenden Pestizide, die in Europa verboten sind. Nun | |
will Deutschland auch deren Export untersagen. Welche Folgen hätte das? | |
Winfried Kretschmann über 2022: „Der Staat ist nicht die Mutti“ | |
Der Ministerpräsident kritisiert, dass die Demokratie zu einem | |
„Lieferservice“ zu werden droht. Die Proteste der Letzten Generation nennt | |
er anmaßend. | |
In der EU nicht zugelassene Pestizide: Exportverbot mit Schlupflöchern | |
Ackergifte, die in der EU verboten sind, sollen auch nicht exportiert | |
werden dürfen. Kleinbauern im Globalen Süden begrüßen das grundsätzlich. | |
Label für angebliche Klimaneutralität: Werbung mit sieben Siegeln | |
Zertifizierungsfirmen helfen Unternehmen, ihre Produkte als klimaneutral zu | |
vermarkten. Verbraucherschutzorganisationen sehen das als „Ablasshandel“. | |
Landwirtschaft mit guter Bilanz: Höhere Kosten, aber mehr Gewinn | |
Viele Bauern profitieren etwa von teurerem Getreide. Deshalb könnten sie | |
sich stärker gegen Naturschutz auf ihren nun sehr rentablen Feldern wehren. | |
EU will Pestizid-Zulassung verlängern: Noch mindestens ein Jahr Glyphosat | |
Die EU wird das umstrittene Pestizid wohl wenigstens ein weiteres Jahr | |
zulassen – auch mit deutscher Hilfe. Umweltschützer fürchten um den | |
Ausstieg. |