| # taz.de -- Landwirtschaftsminister Cem Özdemir: Fast ganz oben | |
| > Cem Özdemir hat viel erreicht. Er ist Bundesminister – wenn auch nur für | |
| > Landwirtschaft – und wirkt größer als sein Amt. Geht da noch mehr? | |
| Bild: Mag es grün: Cem Özdemir | |
| Es gibt kein Ministerium, das so existenziell wichtig ist wie das | |
| Landwirtschaftsministerium. Könnte man denken. Es muss schließlich im | |
| Klimawandel die Grundlagen unseres Essens und Trinkens erhalten. Und ohne | |
| Ernährung und Wasser geht für Menschen gar nichts. Jedenfalls nicht lange. | |
| Das öffentliche Ansehen des Ministeriums entspricht dem allerdings nicht, | |
| Kanzler Scholz ist nicht dafür bekannt, für Landwirtschaft zu brennen, die | |
| ganze SPD und auch die FDP nicht. Es ist vielleicht auch interessant, was | |
| man beim jüngsten [1][Grünen-Parteitag Mitte Oktober] zu hören gekriegt hat | |
| beim Rumfragen, wie wichtig denen dort dieses Ministerium ist und was der | |
| Minister so macht. | |
| Die höfliche Antwort lautet: Schon auch wichtig. | |
| Die spontan-offene: Interessiert keine Sau. | |
| Das ist jetzt selbstverständlich keine repräsentative Umfrage, aber Fakt | |
| ist, dass Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir beim Parteitag in Bonn | |
| drei Minuten Redezeit bekam, und zwar am Sonntagmittag, als die ersten | |
| Delegierten schon mit ihren Köfferchen Richtung Bahnhof bollerten. Er | |
| sprach dann auch nicht prioritär über Tierwohl, sondern hielt eine | |
| donnernde Verteidigungsrede für die Arbeit der Grünen in der | |
| Bundesregierung und speziell für ihren Vizekanzler Robert Habeck und dessen | |
| Kohleausstieg-Kompromiss, den er einen „Riesenerfolg“ nannte. Dann fing er | |
| sehr gekonnt an rumzuschreien, sie, die lieben Freundinnen und Freunde, | |
| seien nicht die „Jammerpartei“, sondern die „Macherpartei“, die auch mit | |
| denen mache, die sie nicht gewählt hätten. Riesenjubel. | |
| ## Herr ÖTZ-dem-IER | |
| Beim Gespräch in einem ICE-Abteil auf der Fahrt zu diesem Parteitag hatte | |
| Özdemir, 56, davon gesprochen, dass er seine Aufgabe auch darin sehe, „dem | |
| Vizekanzler den Rücken freizuhalten“. Özdemir sagt neuerdings wirklich gern | |
| „der Vizekanzler“ über seinen langjährigen Parteifreund und Konkurrenten | |
| Habeck. Und er spricht auch davon, dass es schon ein sehr besonderer Moment | |
| für ihn gewesen sei, als er das erste Mal „mit dem Kanzler und dem | |
| Vizekanzler“ am Kabinettstisch saß. | |
| „Mir war nicht an der Wiege gesungen, dass ich mit so einem Namen mal | |
| Bundesminister werde“, sagt Cem Özdemir. Soll heißen: dass er viel erreicht | |
| hat und zudem viel mehr, als für ihn vorgesehen war, wenn man das so | |
| formulieren will. Und dass er das zu schätzen weiß. Er, der Türkenjunge aus | |
| dem Arbeitermilieu aus der schwäbischen Kleinstadt Bad Urach, der im | |
| Gegensatz zu den ganzen Bildungsmittelschichtsleuten in seiner Partei | |
| keinen Klavierunterricht bekam, dessen Eltern ihm nicht aus dem „Kleinen | |
| Prinzen“ vorlasen und den längst nicht nur ein Grundschullehrer | |
| diskriminierte. Der nicht mal ein richtiges Abitur hat, was außer ihm bei | |
| den Grünen fast nur für Joschka Fischer gilt. Den sie bei fast jedem Termin | |
| unverdrossen „Herr ÖTZ-dem-IER“ nennen, obwohl er „ÖSS-demir“ heißt. | |
| Und nun ist er trotzdem ganz oben. | |
| Na ja, nicht ganz. Oben sind Kanzler Scholz und Vizekanzler Habeck mit | |
| seinem Schlüsselressort. Aber dahinter kommen in den einschlägigen | |
| Umfragen, wer zur Top Five der Politiker gehört, die die Bundesdeutschen | |
| schätzen oder wichtig finden, nicht nur Finanzminister Lindner und | |
| Außenministerin Baerbock, sondern auch schon Özdemir. Im Gegensatz zu den | |
| meisten Kabinettskollegen wird er nicht durch sein Amt größer, sondern er | |
| ist größer als das Amt. | |
| Nun sagt aber das [2][Landwirtschafts-Fachmagazin agrarheute,]dass die Fans | |
| von Özdemir zwar alles Mögliche seien, aber in der Regel keine Bauern. Sie | |
| interessierten sich zwar laut des Meinungsforschungsinstituts Yougov für | |
| Politik, wohl auch für Ernährung, nicht aber für Ernährungspolitik. Leute, | |
| die Özdemir schätzen, das ist der Tenor, schätzen das Özdemir-Portfolio | |
| jenseits seiner Fachzuständigkeit, also Außenpolitik, Menschenrechte, | |
| Antirassismus, Erdoğan-Kritik. Tatsächlich ist Özdemir weiterhin „in den | |
| Themen sehr präsent, die ihn biografisch immer getragen haben“, wie das ein | |
| langjähriger Weggefährte formuliert. | |
| An einem Samstag im Spätherbst ist Özdemir in Ravensburg, um auf der | |
| „grünen Bühne“ die Oberschwabenmesse zu eröffnen. Vor ihm hält der | |
| Ravensburger Oberbürgermeister Daniel Rapp, nominell CDU, eine furiose | |
| Klimapolitikrede, wie man sie sich beim Grünen-Parteitag mal wünschen | |
| würde. Danach überreicht der baden-württembergische Gesundheitsminister | |
| Manfred Lucha, Grüne, ein Jugendbild der beiden. „Da waren wir noch junge | |
| Buben“, sagt er. Özdemir antwortet, er hätte sich nicht träumen lassen, | |
| dass sie beide mal Minister würden, und sagt dann direkt zu Lucha: „Augen | |
| auf bei der Berufswahl. Hättsch’ was Gscheit’s glernt!“ Großer Lacher im | |
| Zelt. Das ist einer seiner bewährten Standardsprüche. Kommt immer gut. | |
| Özdemir wird ja gern vorgeworfen, dass er seine Sprache der jeweiligen | |
| Kundschaft anpasse, also je stärker schwäble, desto näher er der | |
| Schwäbischen Alb komme. Aber es ist nun mal so, dass die Leute zu Hause | |
| einen für einen abgehobenen Deppen halten, wenn man ihnen mit dem Berliner | |
| Mittelschichts-Checker-Sound kommt. Es ist schwer zu sagen, ob Özdemir so | |
| etwas strategisch einsetzt, um ein diverses Werteportfolio zu | |
| demonstrieren. Jedenfalls wurden die Grünen dafür nicht gegründet. | |
| „Wie sich’s gehört“, sagt Özdemir auch gern. Das habe er vom Vater | |
| mitbekommen, Abdullah Özdemir, der in den frühen 1960ern aus dem Städtchen | |
| Pazar am Schwarzen Meer nach Bad Urach am Rand der Schwäbischen Alb umzog | |
| und dort in einer Fabrik arbeitete. Die Mutter kam aus Istanbul und war | |
| selbstständige Schneiderin. Der Vater sagte ihm auch, er solle sich immer | |
| anständig anziehen, was er beherzigt. | |
| Ödzemir wolle eigentlich gar nicht Landwirtschaftsminister sein, lautet | |
| eine gern kolportierte Einschätzung von Gegnern in und außerhalb der | |
| Partei. Dazu sollte man vielleicht erst mal daran erinnern, wie er es | |
| wurde. Nachdem Kanzlerinkandidatin Annalena Baerbock noch im Wahlkampf | |
| behauptet hatte, sie sei ihren Kindern ernsthafte Klimapolitik schuldig, | |
| verlangte sie nach ihrer krachenden Niederlage kategorisch das eher der | |
| Darstellung dienliche Amt der Außenministerin. | |
| Dazu kamen die komplizierten Identitäts-Repräsentationszwänge der Partei, | |
| sodass Özdemir – der schon 2017 das Außenministerium knapp verpasste – am | |
| Ende ohne Amt geblieben wäre, hätte nicht Robert Habeck in letzter Minute | |
| eine neue Mehrheit für ihn organisiert. Das, sagen Freunde, werde er dem | |
| Vizekanzler nie vergessen, damit sei auch die Konkurrenz abgehakt und die | |
| „Rücken freihalten“-Aussage kein Blabla, sondern ein Versprechen. Mit dem | |
| Ministeramt habe Özdemir auch seinen Frieden mit der Partei gemacht. | |
| Özdemir war ja viele Jahre Parteivorsitzender, wurde vom linken Flügel hart | |
| bekämpft und sah sich überhaupt mit vielen Vorurteilen konfrontiert. | |
| Dampfplauderer, Parvenü, Opportunist, Antiintellektueller, | |
| Baden-Württemberg-Realo, Letzteres vermutlich die schlimmste Kategorie für | |
| einen aufrechten Linksgrünen. Man könnte manchmal glauben, die Kränkung | |
| herauszuhören. Etwa, wenn er regelmäßig seinen „zweiten Bildungsweg“ | |
| erwähnt oder scheinbar beiläufig sagt, dass er Proust ja erst „sehr spät“ | |
| gelesen habe. | |
| Jedenfalls hat er in einer ungleich schwierigeren Lage als nach ihm Habeck | |
| bereits an der Öffnung und Weiterentwicklung der Partei Richtung Mehrheiten | |
| gearbeitet. Er hat sie auch repräsentiert, sodass er in der richtigen Welt | |
| schon damals größer als die Partei erschien, aber da die jeweilige | |
| Co-Vorsitzende kleiner, als die Partei sein wollte oder musste, hob sich | |
| das auf. | |
| Bei der Bundestagswahl 2017 holte Cem Özdemir als Spitzenkandidat 8,9 | |
| Prozent und damit auch nur das, was die Grüne Engführung in der | |
| Vergangenheit hergab. Der Sprung nach vorn gelang erst seinem Nachfolger | |
| Habeck, der mit Baerbock eine verlässliche Parteifunktionärin an seiner | |
| Seite hatte, die zwar sehr wohl zum Aufpassen da war, aber nicht mehr | |
| dafür, die internen Kräfte zu neutralisieren. Die beiden schienen sich | |
| einige Jahre gegenseitig größer zu machen, wodurch die Grünen zur | |
| „führenden Partei der linken Mitte“ (Habeck) wurden. Bis sie dann im | |
| Wahlkampf 2021 wieder hinter die Scholz-SPD zurückfielen – und es seither | |
| entschlossen vermeiden, den Rückfall analytisch aufzuarbeiten. | |
| Die mehrheitsfähig sein wollende Partei verkörpert Özdemir habituell und | |
| positionell und ist damit – auch wenn Habeck und Baerbock das nicht gerade | |
| förderten – neben den beiden und Ministerpräsident Winfried Kretschmann der | |
| vierte Spitzengrüne in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit. Doch | |
| was kann er damit machen? Für die nächste Kanzlerkandidatur bei einer | |
| Urwahl der normalen Mitglieder am Vizekanzler vorbeizuwollen, ist wohl | |
| selbst für Annalena Baerbock aussichtslos. | |
| Aber es gibt ja noch etwas Größeres, jedenfalls für einen Schwaben. Das ist | |
| das Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Wenn Cem Özdemir | |
| will, dann kann er, ist der Grüne Flurfunk in Stuttgart. Aber will er? Aus | |
| Berlin hört man, dass er anständig „gerufen“ werden wolle, sonst komme er | |
| nicht. In Stuttgart gibt es strategisch herausragende Spin-Doktoren, wie | |
| man an den Wahlergebnissen sieht. Und die sagen: Özdemir muss Winfried | |
| Kretschmann nachfolgen, denn er sei der einzige Grüne, der die | |
| darauffolgende Landtagswahl 2026 gewinnen könne. Diese ist nicht nur für | |
| das Bundesland wichtig. Jene Parteifunktionäre aber, die sich mit | |
| Mehrheiten unwohl fühlen, hoffen immer noch, sich vom Gedanken einer Grünen | |
| Volkspartei mit dem Abgang von Kretschmann verabschieden zu können. | |
| Warum Özdemir dafür zentral ist, liegt auch daran, dass selbst in | |
| Baden-Württemberg viele weder den Fraktionsvorsitzenden der CDU (Manuel | |
| Hagel) noch den der Grünen (Andreas Schwarz) kennen, und auch den Grünen | |
| Finanzminister Danyal Bayaz noch nicht. Sie kennen namentlich nur zwei | |
| Landespolitiker: ihren Ministerpräsidenten – und Özdemir, der zwar keiner | |
| ist, aber gerne und häufig Termine in Baden-Württemberg absolviert, eine | |
| Wohnung in Stuttgart hat und seinen dortigen Wahlkreis mit dem besten | |
| Ergebnis aller direkt gewählten baden-württembergischen | |
| Bundestagsabgeordneten gewonnen hat. | |
| Jetzt ist es von oder für Journalisten immer blöd, mit einem Thema | |
| anzukommen, von dem man weiß, dass der andere auf keinen Fall davon reden | |
| wird. Von dem man aber trotzdem denkt, man müsse es ansprechen. Und so | |
| entspinnt sich auf der bereits erwähnten ICE-Fahrt ein mittellanges | |
| Nichtgespräch über den nächsten Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. | |
| Andere sind da weniger verschlossen. Bei der Opposition sagen sie, es sei | |
| doch offensichtlich, dass Özdemir als Landwirtschaftsminister gar nicht | |
| erst loslegen wolle, sondern sein Hauptziel darin bestehe, schöne Reden zu | |
| halten und keinen Fehler zu machen, bis er endlich nach Stuttgart könne. | |
| Aber das ist eben auch ein Spin, so wie es der Spin seiner Leute ist, zu | |
| sagen, er sei angekommen und habe keine Lust mehr, auf etwas zu warten, wie | |
| all die Jahre zuvor. Das sagt er selbstverständlich auch. Er wolle den Job, | |
| den er mache, richtig gut machen. Und dass er mit „einem der größten | |
| Reformvorhaben in der Landwirtschaft“ beschäftigt sei. | |
| Mitte dieser Woche hat Özdemir in Berlin sein erstes Jahr bilanziert. Es | |
| war prioritär dem Tierwohl gewidmet, konkret dem Versuch, endlich [3][ein | |
| Tierhaltungskennzeichnungsgesetz] durchzusetzen, das bisher nicht zustande | |
| kam. Letzte Woche ist es durch den Bundesrat gegangen, allerdings zunächst | |
| nur für unverarbeitetes Schweinefleisch. | |
| Der neue Minister war vor zwölf Monaten eingestiegen mit dem hehren | |
| Koalitionsziel von 30 Prozent Ökolandbauflächen bis 2030 (von bisher etwa | |
| 10 Prozent) und markanten Aussagen, dass Fleisch zu billig sei, also auf | |
| Kosten von Tierhaltung und Klimaschäden produziert wird. Russlands Überfall | |
| auf die Ukraine hat auch hier reingehauen, weil die langfristigen Schäden | |
| für das Allgemeine seither noch stärker hinter die akuten Probleme von | |
| Einzelnen zurückfallen, also den Benzin- und Fleischpreis. | |
| ## Mit Bauern in Frieden leben | |
| Was kann man im Amt des Landwirtschaftsministers wirklich reißen, das ist | |
| eine unbeantwortete Frage. Ein langjähriger journalistischer Beobachter | |
| sagt: Nicht viel, außer mit den Bauern irgendwie in Frieden zu leben. Cem | |
| Özdemirs viel gescholtene Vorgängerin Julia Klöckner (CDU) habe vier Jahre | |
| überlebt, das sei aller Ehren wert. | |
| Bei Opposition und manchen Verbänden bringen sie den Grünen die üblichen | |
| Vorbehalte entgegen: Die hätten keine Ahnung, weil sie selbst keine Bauern | |
| seien. Die Spitze, neben dem Minister aus drei Grünen Staatsekretärinnen | |
| bestehend, triefe vor „Grüner Ideologie“ und sei deshalb jenseits der | |
| Realität der Landwirte in Deutschland. Allerdings sei Özdemir selbst ein | |
| total netter Typ, ein begabter Menschenfänger, sagt Albert Stegemann, ein | |
| Landwirt aus dem Emsland, der für die CDU die Oppositionspositionen gegen | |
| Özdemir zu formulieren hat. „Kommunikationsmäßig absolute Spitzenklasse, | |
| aber seine Politik sorgt für keinerlei Veränderung.“ Was habe denn Özdemir | |
| in seinem Jahr im Amt geschafft, bitte schön? Ein Hopfengesetz | |
| verabschiedet, aber sonst „gar nichts, null, zero“. | |
| Nun ist das Landwirtschaftsministerium, im Gegensatz zum Umweltministerium, | |
| ein „knallhart schwarzes Haus“, wie die Grünen gerade auf die harte Tour | |
| erfahren. Manchmal landen Entwürfe auf ihrem Schreibtisch, die gegen die | |
| geplante Politik argumentieren. Trotzdem haben die Grünen | |
| selbstverständlich den Eindruck, dass sie trotz der Kollateralschäden des | |
| russischen Überfalls auf die Ukraine einen Paradigmenwechsel schaffen | |
| werden. | |
| „Uns unterscheidet“, sagt Staatssekretärin Manuela Rottmann, „dass wir d… | |
| Politik danach ausrichten, dass ökologische Grundlagen die Basis der | |
| Ernährungssicherung sind.“ Gerade auch die Bauern stehen vor härteren | |
| Zeiten, sind von den Folgen von Krieg, Klimakrise und steigenden | |
| Energiepreisen betroffen. Die Regierungs-Grünen wollen die Landwirtschaft | |
| im Klimawandel „zukunftsfest“ machen, also eine Begrenzung seiner Folgen. | |
| Das bedeutet für sie: weniger Nutztiere, bessere Haltung, weniger und | |
| teureres Fleisch. Und gesunde Böden, was auf weniger Dünger und Pestizide | |
| rausläuft. | |
| ## Parlieren mit der Apfelkönigin | |
| Aber auch das sieht die große Mehrheit der Bauern ganz anders. In einer | |
| Obstplantage nahe Friedrichshafen erklärt ein Apfelbauer an einem Samstag | |
| im Herbst dem Landwirtschaftsminister, warum eine geplante EU-Verordnung | |
| ihn und viele andere Apfelbauern killen würde. Die EU will den Einsatz von | |
| Pestiziden bis 2030 um 50 Prozent reduzieren und in Schutzgebieten gar | |
| nicht mehr zulassen, dabei ist die „integrierte“ Landwirtschaft aus Sicht | |
| ihrer Bauern mit Artenschutz und Klimaschutz bestens kompatibel. | |
| Es ist ein echtes Ereignis, dass sie den Minister hierher an den Bodensee | |
| gekriegt haben, in eines von vier großen Apfelanbaugebieten in Deutschland. | |
| Die Branche besteht aus traditionellen Familienbetrieben, oft Jahrhunderte | |
| alt, und die Situation ist laut Eigeneinschätzung „zunehmend verzweifelt“. | |
| Man würde es nicht denken, aber Apfelproduktion ist sehr energieintensiv, | |
| weil Teile der Ernte über Monate gekühlt gelagert werden, weshalb die | |
| steigenden Energiepreise voll reinknallen. Dazu kommt der Mindestlohn von | |
| 12 Euro, der über dreimal höher ist als das, was die polnische Konkurrenz | |
| zahlt. Dann ist da die schwierige Zusammenarbeit mit den deutschen | |
| Supermarktketten, die billigeres Weltmarkt-Flugobst gegen den CO2-ärmeren | |
| deutschen Apfel ausspielen. Manche Äpfelbauern haben im Oktober [4][Teile | |
| ihres Anbaus verrotten lassen], weil sie das weniger kostet, als sie zu | |
| pflücken und zu lagern. | |
| An diesem Samstag sind alle da, die was zu sagen haben oder zu | |
| repräsentieren, bis hin zu einer Apfelkönigin, mit der Özdemir auch kurz | |
| parliert. Manche Bauern stellen sich breitbeinig auf. Die Reden sind im Ton | |
| höflich, aber in der Sache drängend: „Herr Özdemir, wir brauchen Ihre | |
| Unterstützung“, aber nicht für die Transformation zu Bio, sondern zum | |
| Weiterbenutzen von Pflanzenschutzmitteln im Schutzgebiet. „Herr Özdemir, | |
| lehnen Sie das Gesetzpaket der EU ab.“ Es gibt da einen | |
| baden-württembergischen Kompromiss und der dürfe nicht überschritten | |
| werden. | |
| ## „Schwätza muass mer mit de Leit“ | |
| Wenn man sich nicht auskennt, ist man erst mal erschüttert, wie schlimm die | |
| Bauern dran sind, aber im Zuge der Recherche verdichten sich die Anzeichen, | |
| dass immer alles vorbei wäre, wenn Cem Özdemir irgendetwas umsetzen würde, | |
| und dass alle immer grundsätzlich bereit sind, aber diese spezielle Sache | |
| auf keinen Fall gehe. Der „Minischter“, wie er sich selbst nennt, hält dann | |
| eine austarierte Rede, in der er die Sorgen und Nöte der Apfelbauern | |
| aufnimmt und verspricht, sich für sie einzusetzen, in Brüssel und | |
| überhaupt. | |
| „Mein Prinzip isch: Schwätza muass mer mit de Leit“, sagt er. Wie Habeck | |
| hat auch Özdemir die moralautoritären Nischenreflexe der alten Grünen durch | |
| den „guten“ Kompromiss als zukunftsgestaltenden und | |
| gesellschaftszusammenhaltenden Wert abgelöst. „Cem muss Mordskompromisse | |
| eingehen“, sagt Daniel Cohn-Bendit, der sein EU-Fraktionschef zu Özdemirs | |
| Brüsseler Zeiten Anfang des Jahrtausends war. „Aber Kompromisse kann er | |
| gut.“ | |
| Özdemir will ausdrücklich ein Landwirtschaftsminister aller Bauern sein, | |
| ein Landwirtschaftsvater sozusagen, und das ist selbstverständlich auch | |
| machtstrategisch hilfreich, ob nun in der Republik oder in | |
| Baden-Württemberg, wo der in jeder Beziehung fossile | |
| Landwirtschaftsminister Peter Hauk Last Man Standing jener alten CDU ist, | |
| die von Kretschmann als Baden-Württemberg-Partei abgelöst wurde. | |
| Überall wo der Minister am Bodensee hinkommt, drücken sie ihm einen Apfel | |
| in die Hand. Er bedankt sich stets höflich und sagt dann zu seinem | |
| Assistenten: „Franz, pack’s ei.“ Später steht eine große Papiertüte vo… | |
| Äpfel neben Özdemir im Regionalexpress nach Ulm. | |
| Und, essen Sie denn nun die ganzen Äpfel? | |
| Er schaut lange sinnierend in die Papiertüte. „Die halten sich ja“, sagt er | |
| dann vage. | |
| Wenn Cem Özdemir nicht schon Politiker wäre, es wäre einer an ihm verloren | |
| gegangen. | |
| 3 Dec 2022 | |
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| [2] https://www.agrarheute.com/politik/cem-oezdemir-smash-fuer-wen-599602 | |
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| Peter Unfried | |
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