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# taz.de -- Kolumne Pöbelmanie: Vier Wände für ein Alles Super
> Wer Obdachlosigkeit wirklich abschaffen will, darf nicht das Kapital
> bestimmen lassen, wer in dieser Stadt leben darf und wer nicht.
Bild: Für Obdachlose bedeutet der Winter Lebensgefahr
Eins vorneweg: Ich hasse den Berliner Winter. Er ist kälter, als ich es aus
Hessen gewohnt bin, und dauert gefühlt doppelt so lange. Weihnachtsmärkte
kann ich mir nicht leisten, außerdem ist mir das Risiko zu groß, [1][dort
auf die Regierende Franziska Giffey zu treffen] und mir ihre heuchlerischen
Reden anhören zu müssen: dass die Menschen jetzt nur zusammenstehen müssen,
dann wird die Welt schon wieder in Ordnung. So gesehen gibt es in Berlin
doch etwas, was ich noch mehr hasse als den Winter.
Das Einzige, was diese Jahreszeit für mich einigermaßen erträglich macht,
sind die wenigen Tage, in denen der Schnee für kurze Zeit liegen bleibt.
Für einen winzigen Moment sorgt das weiße Treiben für ein wenig Spiel und
Spaß auf den flachen Hügeln der Hauptstadt – bevor diese im grauen Matsch
versinkt, der gemeinsam mit dem grauen Himmel und den grauen
Häuserschluchten eine einzigartige Komposition aus Großstadt-Tristesse und
Trostlosigkeit formt.
„Fühl ich“, mögen sich einige jetzt denken. Was wir in unseren beheizten
Wohnungen allerdings nicht fühlen, ist die Kälte, die den Tausenden
Menschen, die in Berlin auf der Straße leben, zu dieser Jahreszeit bis in
die Knochen dringt. Für die ist nämlich gar nichts in Ordnung, liebe
Franzi. Für sie bedeuten die nächsten Monate nichts weniger als
[2][Lebensgefahr]. In den sozialen Medien häufen sich derzeit daher auch
wieder die alljährlichen Appelle, solidarisch zu sein und auf Obdachlose zu
achten – und im Fall der Fälle den Wärmebus zu rufen: 030 600 300 1010.
## Obdachlosigkeit beenden
Leider bringt der Bus den Menschen keine dauerhafte Wärme. Das kann, wie
allgemein bekannt ist, nur eine eigene Wohnung. Und natürlich eine Heizung,
deren Kosten man sich auch erst mal leisten können muss. [3][Bis zum Jahr
2030 will der rot-grün-rote Senat Obdachlosigkeit beenden]. Wie dieses
ambitionierte Ziel erreicht werden kann, darüber wird noch bis Donnerstag
auf der Strategiekonferenz zur Wohnungslosenhilfe beraten.
Herzstück der zweiwöchigen Veranstaltung ist das „Erfolgsprojekt“
[4][Housing First]. Für alle, die es noch nicht wissen: Seit vier Jahren
werden darüber Menschen ohne Vorbedingungen in Wohnungen vermittelt. Nach
dem Motto: Erst mal weg von der Straße, dann kann man sich immer noch um
Probleme wie Drogensucht oder psychische Krankheiten kümmern – unter denen
laut Studien ein Großteil der Obdachlosen leidet.
Klingt super, ist es auch, hat allerdings einen Haken: In den vier Jahren,
die es das Projekt mittlerweile in Berlin gibt, konnten nicht einmal 100
Menschen von der Straße in die eigenen vier Wände vermittelt werden.
Gerechnet auf 2.000 Obdachlose, die in der Hauptstadt offiziell gezählt
wurden, würde es bei diesem Tempo 80 Jahre dauern, bis alle Obdachlosen
eine eigene Wohnung haben.
Zum Vergleich: Durch die Besetzung der lange teils leer stehenden
Habersaathstraße 40–48 in Mitte haben auf einen Schlag [5][60 Obdachlose
ein neues Zuhause gefunden]. Besetzungen sind halt immer noch das
effektivste Mittel, um das Recht auf Wohnen durchzusetzen.
Was können wir also tun, um den vielen Menschen auf der Straße zu helfen?
In unserem Hausprojekt wird viel darüber diskutiert, und in besonders
kalten Monaten haben wir auch immer wieder Obdachlose aufgenommen – um dann
zu merken, dass ihnen mit Zwischenlösungen nicht geholfen ist, wenn sie
danach wieder auf der Straße landen. Abgesehen davon, dass wir den nötigen
Betreuungsbedarf, den viele Obdachlose durch ihre multiplen Problemlagen
zweifellos haben, überhaupt nicht leisten können.
So gut und wichtig es ist, Obdachlose mit individuellen Hilfestellungen im
Alltag zu unterstützen, strukturelle Probleme lassen sich so nicht
beseitigen. Und die liegen in Berlin wie so oft in einer [6][verfehlten
Stadtpolitik]. Wer Obdachlosigkeit wirklich abschaffen will, darf nicht
[7][das Kapital bestimmen lassen], wer in dieser Stadt leben darf und wer
nicht.
## Blockade statt Weihnachtsmarkt
Das fängt beim Erhalt und bei der Schaffung von günstigem Wohnraum an und
[8][hört bei Zwangsräumungen nicht auf]. Immerhin werden in kaum einer
anderen Großstadt so viele Wohnungen zwangsgeräumt wie in Berlin. Statt zum
Weihnachtsmarkt gehe ich in diesem Winter lieber zur Blockade der nächsten
Zwangsräumung – da ist auch die Chance geringer, auf Franziska Giffey zu
treffen.
7 Dec 2022
## LINKS
[1] https://www.bz-berlin.de/berlin/franziska-giffey-eroeffnet-5-weihnachtsmaer…
[2] /Fuenfter-toter-Obdachloser-in-Hamburg/!5738612
[3] /Wohnungslose-in-Berlin/!5795305
[4] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5626627
[5] /Projekt-gegen-spekulativen-Leerstand/!5828915
[6] /Spekulativer-Leerstand-in-Berlin/!5749397
[7] /Linke-Hausprojekte-in-Berlin/!5894992
[8] /Brief-an-Justizminister-Buschmann/!5884563
## AUTOREN
Marie Frank
## TAGS
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
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