| # taz.de -- Kolumne Pöbelmanie: Auf der Law-and-Order-Autobahn | |
| > Zurück aus dem tropischen Winterquartier muss sich unsere Kolumnistin | |
| > sogar noch wärmer anziehen als sonst. | |
| Bild: A100? Vornamenstreit? Alles sehr weit weg hier | |
| Ich habe in diesem Jahr das erste Mal versucht zu überwintern. In einem | |
| warmen Land am anderen Ende der Welt. Keine Lust mehr, mir die Hälfte des | |
| Jahres den Hintern in Berlin abzufrieren. Weil ich mir den sechsmonatigen | |
| Murmeltier-Lifestyle leider nicht leisten kann, nicht mal in Kuba, wurden | |
| es am Ende „nur“ der Januar und Februar. Aber damit würde ich zumindest die | |
| schlimmste Zeit überbrücken, dachte ich. Falsch gedacht. Als ich wiederkam, | |
| war leider nicht nur immer noch Winter, mit Blick auf die Wahlergebnisse | |
| und die voraussichtliche künftige Landesregierung wurde mir auch gleich | |
| ganz kalt ums Herz. | |
| Nun soll diese so quirlige, bunte, weltoffene Metropole Berlin, mit all | |
| ihrer sozialen und kulturellen Vielfalt und ihren vielen progressiven | |
| stadt- und umweltpolitischen Initiativen also von einer | |
| Ich-frage-nach-den-Vornamen-von-Straftäter*innen-um-eine-rassistische-Debat | |
| te-über-Jugendgewalt-zu-führen-statt-soziale-Probleme-anzugehen-CDU und | |
| einer Ich-verrate-alle-sozialdemokratischen-Werte-um-meine-Kumpels-aus | |
| der-Immobilien-und-Autolobby-nicht-zu-verärgern-SPD geführt werden? | |
| Angeführt von den Berliner Politversionen von Bilbo Beutlin und Dolores | |
| Humbridge? Wäre ich doch in Kuba geblieben! | |
| ## Eigenes Dach überm Kopf | |
| Nun ist dort beileibe nicht alles gut, im Gegenteil, es gibt viele Probleme | |
| in dem tropischen Paradies. Was es dort aber im Gegensatz zur deutschen | |
| Hauptstadt nicht gibt, ist etwa massenhafte Obdach- und Wohnungslosigkeit. | |
| Die Leute haben nicht viel, aber sie haben ein eigenes Dach über dem Kopf. | |
| Davon können in Berlin zehntausende Menschen nur träumen – und werden es | |
| unter einer schwarz-roten Landesregierung auch weiterhin müssen. Tausende | |
| davon nicht mal in einem eigenen Bett, sondern im Schlafsack unter der | |
| Brücke. | |
| Denn ohne die Vergesellschaftung von privaten, gewinnorientierten | |
| Wohnungskonzernen und einen massiven Ausbau von sozialem Wohnungsbau – die | |
| es unter der Großen Koalition garantiert nicht geben wird, | |
| Wähler*innenwille hin oder her – wird es keinen bezahlbaren Wohnraum | |
| geben. Damit bleibt diese Stadt weiterhin in den Händen von | |
| kapitalistischen Spekulant*innen, die alteingesessene Mieter*innen | |
| rücksichtslos auf die Straße setzen, um immer größere Rendite einzufahren. | |
| Doch nicht nur für die ganz Armen, auch für ganz normale Arbeiter*innen | |
| ist diese Regierungskonstellation in jeglicher Hinsicht eine schlechte | |
| Nachricht. Auch jenseits des Traums vom eigenen Haus oder zumindest den | |
| eigenen vier Wänden innerhalb des S-Bahn-Rings. Zwar kann das an die | |
| Peripherie verdrängte Proletariat künftig mit dem Verbrennungsmotor über | |
| die A100 zur Arbeit fahren und muss auf der Friedrichstraße keine Rücksicht | |
| mehr auf lästige Fahrradfahrer*innen nehmen. Doch der Preis dafür ist | |
| höher als die explodierenden Spritkosten. | |
| Denn abgesehen von abstrakten Future-Problems wie der Zerstörung unserer | |
| Lebensgrundlage hat der Klimawandel bereits jetzt ganz materielle | |
| Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Deren Kosten die Allgemeinheit trägt, | |
| während der Profit dieser Überschwemmungen, Erdbeben, Jahrhundertdürren und | |
| anderer Umweltkatastrophen verursachenden Wirtschaftsweise in die Taschen | |
| einiger weniger fließt. | |
| ## Alle profitieren davon | |
| Der sozialökologische Umbau dieser Stadt ist also keine Frage einiger | |
| weniger mit Sekundenkleber bewaffneter „Klimaterroristen“, denen sich Kai | |
| Wegner heroisch als Anwalt der „ganz normalen Arbeiter*innen“ aka | |
| Autofahrer*innen entgegenstellt. Wir alle profitieren davon. Gäbe es | |
| einen vernünftigen öffentlichen Nahverkehr in die Außenbezirke und ins | |
| Brandenburger Umland, wäre nicht nur der Umwelt, sondern auch unserem | |
| Geldbeutel geholfen. Von erneuerbaren Energien, die uns unabhängig von | |
| kriegstreibenden Diktatoren machen, ganz zu schweigen. | |
| Doch die Überführung von lebensnotwendiger Infrastruktur wie Wohnraum, | |
| Straßen oder Energiegewinnung weg von Privatinteressen in das Allgemeinwohl | |
| wird es unter Schwarz-Rot nicht geben. Nicht einmal dann, wenn die | |
| Berliner*innen sich mehrheitlich in einer demokratischen Wahl dafür | |
| aussprechen. Mit SPD und CDU an der Spitze verliert die | |
| Arbeiter*innenklasse also auch die demokratische Kontrolle über ihr | |
| Verhältnis zur Umwelt. | |
| Was uns stattdessen erwartet? Ich bin keine Hellseherin, aber ich würde | |
| sagen, die Silvesterdebatte hat uns einen Vorgeschmack gegeben: | |
| Vorurteilsgeladene Scheindebatten, die uns auf der Law-and-Order-Autobahn | |
| weit weg von nachhaltigen Lösungen führen. Da hilft selbst ein | |
| dreieinhalbjähriger Winterschlaf wenig. | |
| 7 Mar 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Marie Frank | |
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