| # taz.de -- Ende von Hartz IV: Bundestag beschließt Bürgergeld | |
| > Nach scharfer Debatte passiert die Neuregelung des Arbeitslosengelds das | |
| > Parlament. Das Gesetz dürfte allerdings im Bundesrat stecken bleiben. | |
| Bild: Kann erst mal zufrieden sein: Arbeitsminister Heil bei der Abstimmung zum… | |
| Berlin taz | Der Bundestag hat am Donnerstag das Bürgergeld mit der | |
| Mehrheit von SPD, Grünen und FDP beschlossen. Union und AfD stimmten gegen | |
| das Gesetz, die Linke enthielt sich bei der Abstimmung. | |
| Doch ob das Bürgergeld tatsächlich kommt und die Regelsätze wie geplant ab | |
| Januar steigen, bleibt ungewiss. Denn dass der Bundesrat in seiner | |
| Sondersitzung am kommenden Montag den Plänen der Ampel zustimmt, ist | |
| unwahrscheinlich. Die von der Union mitregierten Länder werden das | |
| Bürgergeld [1][mit ihrer Mehrheit im Bundesrat wohl blockieren]. Selbst in | |
| der SPD geht man mittlerweile davon aus, dass man sich im | |
| Vermittlungsausschuss wiedertrifft. | |
| In der turbulenten und von vielen Zwischenrufen unterbrochenen | |
| Bundestagsdebatte am Donnerstag gaben sich die Politiker:innen der | |
| Ampel-Parteien und die Union gegenseitig die Schuld. Der zuständige | |
| SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil bezeichnete das Bürgergeld als die größte | |
| Sozialstaatreform seit 20 Jahren. Das Ziel sei nicht nur, Menschen in Not | |
| unbürokratisch abzusichern, sondern auch ihnen die Chance auf ein | |
| selbstbestimmtes Leben in Arbeit zu geben. Zwei Drittel der | |
| Langzeitarbeitslosen hätten keinen Berufsabschluss. „Mit dem Bürgergeld | |
| schaffen wir die Chance, dass Menschen nicht in Hilfstätigkeiten vermittelt | |
| werden müssen, sondern einen Berufsabschluss nachholen können.“ | |
| Man habe viele Änderungsanträge auch von Unionsländern übernommen, so Heil. | |
| „Unsere Hand ist ausgestreckt.“ Falls es am Montag noch keine Mehrheit im | |
| Bundesrat gebe, rufe die Regierung den Vermittlungsausschuss an. „Dann | |
| haben wir die Gelegenheit, in einem schnellen Verfahren dafür zu sorgen, | |
| dass das Bürgergeld am 1. Januar in Kraft tritt“, so Heil optimistisch. | |
| ## 53 Euro mehr pro Monat | |
| CDU-Chef und Unionsfraktionsvorsitzender Friedrich Merz trat am Donnerstag | |
| nicht ans Rednerpult, sondern ließ dem stellvertretenden | |
| Fraktionsvorsitzenden Hermann Gröhe den Vortritt. Ein für Merz | |
| ungewöhnlicher Akt der Bescheidenheit. Gröhe warf der Regierungskoalition | |
| vor, sie wische Kritik weg und sei ideologisch verbohrt. Die Ampel | |
| verweigere jede [2][sachliche Debatte] über die grundsätzlichen Fehler des | |
| Gesetzentwurfs. „Mit dieser Arroganz werden sie im Bundesrat scheitern“, | |
| prophezeite Gröhe. | |
| Mit dem Bürgergeld will die von der SPD geführte Ampelkoalition das viel | |
| kritisierte Hartz-IV-System hinter sich lassen. Der Schwerpunkt soll | |
| künftig mehr auf dem Fördern statt dem Fordern liegen. Menschen sollen mehr | |
| Zeit haben, sich auf Jobsuche und Weiterbildung zu konzentrieren. Die | |
| Jobcenter übernehmen deshalb bis zu zwei Jahren [3][die Miete oder Raten | |
| für die Wohnung in jeder Höhe]. Rücklagen und Vermögen von bis zu 60.000 | |
| Euro für Alleinstehende und 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied | |
| müssen in diesen ersten beiden Jahren nicht aufgezehrt werden. | |
| Diese Grenzen gelten bereits, die damalige Große Koalition aus Union und | |
| SPD führte sie während der Coronapandemie ein. Die Ampel will sie | |
| beibehalten. Heil sagte, dies sei eine Frage des Respekts vor | |
| Lebensleistung. | |
| Die Sanktionen sollen etwas gelockert werden, vor allem in den ersten sechs | |
| Monaten, nachdem sich der oder die Arbeitslose mit dem Jobcenter auf einen | |
| Kooperationsplan geeinigt hat. In dieser Zeit kann er oder sie Jobangebote | |
| ablehnen, ohne Leistungskürzungen zu befürchten. Allerdings werden | |
| versäumte Termine weiterhin geahndet. Derzeit sind nur drei Prozent der | |
| Bezieher:innen von solchen Kürzungen betroffen. | |
| ## Harte Kritik an Merz | |
| Der Regelsatz soll ab Januar um 53 Euro auf 502 Euro erhöht werden. Das | |
| Bürgergeld setzt zudem mehr Anreize für Weiterbildungen, etwa mit | |
| Zuschlägen, und schafft bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten insbesondere | |
| für Schüler, Studierende und Azubis. Ein Punkt, der besonders der FDP | |
| wichtig war. „Von 800 dürfen junge Menschen nun 604 Euro behalten, das | |
| verändert etwas in den Köpfen“, so der Sprecher der FDP für das Bürgergeld | |
| Jens Teutrine. | |
| Die Union kritisiert insbesondere die aus ihrer Sicht zu hohen | |
| Schonvermögen und die teilweise Abschaffung der Sanktionen. Arbeit würde | |
| sich damit nicht mehr lohnen, so das zentrale Argument. Unionsfraktionschef | |
| Friedrich Merz hatte vergangene Woche vorgeschlagen, nur die Erhöhung der | |
| Regelsätze zu beschließen und den Rest auf später zu verschieben. Diesen | |
| Vorschlag weist die Ampel zurück. Wenn die Union wochenlang beklage, Arbeit | |
| lohne sich nicht mehr, und jetzt nur den Regelsatz erhöhen wolle, „dann ist | |
| da ein gewisser logischer Bruch“, so Heil. | |
| Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP Johannes Vogel legt noch einen | |
| drauf. Er warf der Union „alternative Fakten vor“ und Unionsfraktionschef | |
| Friedrich Merz die Verbreitung von Fake News. „Es stimmt einfach nicht, | |
| dass sich Arbeit nicht mehr lohnen würde. Es gibt keinen Fall, dass jemand, | |
| der arbeitet, weniger hat als jemand, der nicht arbeitet“, so Vogel. Auch | |
| die Behauptung, mit dem Bürgergeld werde eine „sechsmonatige sanktionsfreie | |
| Zeit eingeführt, stimmt einfach nicht.“ Es sei absurd, nur die Regelsätze | |
| zu erhöhen, ohne für mehr Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen zu | |
| sorgen. | |
| Die Fraktionsvorsitzende der Grünen Britta Haßelmann warf dem CDU-Chef | |
| fehlende Empathie vor. „Wie soll jemand, der in einer anderen | |
| Lebenswirklichkeit lebt und sich überlegt, ob er zur Party mit dem | |
| Privatjet fliegt, sich in die Lebenwirklichkeit einer alleinerziehenden | |
| Mutter einfühlen?“ Merz schüre Sozialneid. | |
| ## Linke wirft Union Schmierentheater vor | |
| Landesministerinnen der Union aus Bayern, Baden-Württemberg, | |
| Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben in einem Eckpunktepapier | |
| von Ende Oktober eigene Kritikpunkte formuliert. Sie kritisieren ebenfalls | |
| die ihrer Ansicht nach zu hohen Vermögen, die | |
| Bürgergeldbezieher:innen behalten dürfen, die unbegrenzte Übernahme | |
| der Wohnkosten während der ersten zwei Jahre und den teilweisen Verzicht | |
| auf Sanktionen in den ersten sechs Monaten. | |
| Die Unionsländer sehen die Ampel hier zu lasch. „Die sechsmonatige | |
| Vertrauenszeit sowie der unverbindliche Kooperationsplan stellen eine | |
| Abkehr vom Prinzip des ‚Förderns und Forderns‘ dar und sind abzulehnen“, | |
| heißt es in dem Papier. Einige Kritikpunkte haben die Ampelparteien indes | |
| schon aufgegriffen. So werden Heizkosten nur noch in „angemessener“ Höhe | |
| erstattet. | |
| Auch Die Linke warf der Union Schmierentheater vor. Milliardenvermögen | |
| würden geschützt, Schonvermögen von Menschen, die lebenslang gearbeitet | |
| haben, aber als zu hoch kritisiert, so Linken Fraktionschef Dietmar | |
| Bartsch. Das Bürgergeld sei zwar ein Fortschritt, aber im Kern sei es nicht | |
| mal im Ansatz armutsfest. Die Linke fordert eine Erhöhung der Sätze um 200 | |
| Euro. „Das Bürgergeld ist zu wenig für ein Leben in Würde und eine neue | |
| Waschmaschine“, so Bartsch. „In der Substanz ist es Hartz V.“ | |
| Zu Beginn der Sitzung gedachte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas des am | |
| Mittwoch verstorbenen ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers und späteren | |
| Grünen-Abgeordneten Werner Schulz. Der Bundestag erhob sich für eine | |
| Schweigeminute. | |
| Aktualisiert am 10.11.2022 um 14:35 Uhr. d. R. | |
| 10 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Streit-um-Grundsicherung/!5890397 | |
| [2] /Union-zum-Ampel-Projekt/!5890348 | |
| [3] /Debatte-um-neues-Buergergeld/!5892668 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| ## TAGS | |
| Bürgergeld | |
| Hartz IV | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Bundestag | |
| Arbeitslosengeld | |
| Ampel-Koalition | |
| Arbeitslosigkeit | |
| Friedrich Merz | |
| Ampel-Koalition | |
| Ampel-Koalition | |
| Hubertus Heil | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debatte um Bürgergeld: FDP macht Kompromissangebot | |
| Das Bürgergeld ist vorerst von der Union gestoppt worden. Ein möglicher | |
| Kompromiss könnte bei der „Vertrauenszeit“ ansetzen. | |
| Hartz IV und Bürgergeld: Von Bildungswilligen und Kleinerben | |
| Der Bundestag hat das Bürgergeld beschlossen. Wer in Not gerät, sich aber | |
| Kurse selbst aussucht, kurz vor der Rente steht oder etwas erbt, | |
| profitiert. | |
| Blockade der Union beim Bürgergeld: Nur Lust am Nein | |
| CDU und CSU machen mit giftiger Rhetorik Stimmung gegen das Bürgergeld. | |
| Viel mehr haben die Unionsparteien in sozialen Fragen auch nicht | |
| anzubieten. | |
| Union zum Ampel-Projekt: Kulturkampf ums Bürgergeld | |
| Ein Kompromiss beim Bürgergeld scheint mit den Unionsparteien nicht möglich | |
| zu sein. Deren Argumente sind nicht nur falsch, sondern heuchlerisch. | |
| Streit um Grundsicherung: Die Union pokert ums Bürgergeld | |
| CDU-Chef Friedrich Merz will nur die Hartz-IV-Regelsätze erhöhen und den | |
| Rest später klären. Die Grünen sehen das Bürgergeld-Projekt damit in | |
| Gefahr. | |
| Debatte um neues Bürgergeld: Villenbesitzer auf Hartz IV | |
| Hinter dem Streit um den Anspruch auf das neue Bürgergeld für Vermögende | |
| verbergen sich Probleme des Wohnungsmarktes. Und des Renteneintritts. |