# taz.de -- Musiker und Autor Kiev Stingl: Dem Wahnsinn auf der Spur | |
> Kiev Stingl veröffentlicht sein fünftes Album. Eine Begegnung mit dem | |
> durch Punk zivilisierten Außenseiter und Eremiten des deutschen Rock. | |
Bild: Kiev Stingl läuft entlang der Potsdamerstraße, Westberlin 1987 | |
Jahrtausende der Kultur haben … haben Euch glauben gemacht, Ihr seiet keine | |
Egoisten, sondern zu Idealisten berufen. Schüttelt das ab!“ [1][Max | |
Stirner] hatte diese Losung in seinem anarchistischen Klassiker „Der | |
Einzige und sein Eigentum“ ausgegeben. | |
Hartnäckigster Abschüttler ist der Musiker und Schriftsteller Kiev Stingl. | |
Sein Ego hat dabei allerdings Federn gelassen. Gerade vier Soloalben sind | |
seit 1975 von Stingl erschienen, dazu Songs, die er für andere | |
Künstler:Innen wie [2][Mona Mur] getextet hat, eine Handvoll | |
Gedichtbände, Erzählfragmente und Musik für Filme von [3][Klaus Wyborny] | |
und Heinz Emigholz, zuletzt gab es seinen Song „Einsam Weiss Boys“ im | |
Emigholz-Film „Slaughterhouses of Modernity“ zu hören. | |
Heute ist Kiev Stingl dennoch der große Vergessene des deutschen Pop, | |
vielleicht auch Faktotum, besser ein Geröllbrocken, quer zum Diskurs den | |
Weg versperrend. Dass er überhaupt lebt, wenn auch zurückgezogen unterm | |
Dach in Berlin-Steglitz, grenzt an ein Wunder. Er gewährt der taz ein | |
Interview, erstaunlich auch das. | |
## Behutsame Arrangements | |
Noch erstaunlicher, dass auf dem Label Klangbad nun Songs von Kiev Stingl, | |
ursprünglich 1982 in Hamburg mit dem [4][Keyboarder Götz Humpf] begonnen | |
und unvollendet geblieben, veröffentlicht werden: „X R I Nuit“ ist | |
maßgeblich der Arrangements des Musikers Niklas David zu verdanken, der | |
1994 in Berlin mit Stingl in Kontakt getreten ist und seither behutsam | |
Songs archiviert und in Kollaboration mit ihm dieses Album fertiggestellt | |
hat. | |
„Ich hatte einen Instinkt, im letzten Augenblick dem Tod von der Schippe zu | |
springen. Ein Herzinfarkt hat mich ruiniert. Die Stimme ist fast weg. Ich | |
spreche wenig, da rostet die Stimme ein. Aber ich bin in meine Arbeit | |
vertieft, Tag für Tag.“ | |
Stingl, geboren 1943, erinnert sich an sein Elternhaus, an das bigotte | |
Hamburg der 1950er und frühen 60er, an Fußballspielen und Mädchen jagen. | |
„Meine Mutter war eine begnadete Violinistin. Als junge Frau hat sie | |
Aufführungen in Opern gehabt. Von ihr habe ich das musikalische Talent. | |
Während mein Vater rational ausgerichtet war. Später war er bei Unilever in | |
Hamburg ein hohes Tier.“ | |
## Gerrard am Banjo | |
Mit dem drei Jahre älteren Bruder Werner verbindet Gerd, wie Kiev | |
bürgerlich heißt, eine Liebe zur Kultur. Was bei Werner Literatur ist, | |
drückt sich bei Kiev durch Musik aus. Er spielt Banjo in einer Jazzcombo, | |
fliegt von der Schule. Werner macht Karriere, arbeitet in der Werbung. „Er | |
war ein nach innen gekehrter, diplomatischer Typ. Ich das genaue | |
Gegenteil.“ | |
Mit 16 nannte er sich Gerrard, Gert schien ihm „zu bieder“. Der Name Kiev | |
kam durch ein Theaterstück, verfasst um 1962, in dem Frauen und Männer | |
Städtenamen tragen. „Damals gab es in Hamburg ein italienisches Café am | |
Gänsemarkt, das Campari. Da bin ich reinmarschiert und sagte allen, ich | |
heiße Kiev.“ | |
Die Kneipe Palette, in [5][Hubert Fichtes gleichnamigen Roman] verewigt, | |
kannte Stingl. „Die war mir zu proletarisch. Ich war damals sehr arrogant. | |
Im Campari traf ich auf Jungs meines Alters, die Verbrecher waren und gemäß | |
der Zeit gekleidet waren. In der Palette waren eher so Zeitgeistgegner.“ | |
## Ping im Mörser mit Flügeltüren | |
Etwas später, im [6][Top Ten auf der Reeperbahn] hat, Stingl auch die | |
Beatles gesehen, aber den Zeitgeist zunächst nicht erfasst. „Ich hatte | |
einen Freund, Graf Alexander von Bismarck, genannt Ping, mit dem ich im | |
Mercedes 300 SEL mit Flügeltüren rumgekurvt bin. Wir hatten die Bands im | |
Top Ten als Knechte empfunden, die für uns Musik machen, damit wir tanzen | |
können. Es war noch keine Beziehung zum angloamerikanischen Pop. Ich habe | |
damals Chansons gehört und Jazz.“ | |
Stingl überträgt Chansontexte ins Deutsche. In der Zeit der | |
Studentenrevolte fällt ihm seine „bourgeoise Herkunft vor die Füße“. | |
Politik habe er als Abenteuer verstanden, erklärt Stingl, studierte einige | |
Semester Politologie und Ethnologie, bricht wieder ab. Er habe ein Denkmal | |
des Kolonialherrn Wissmann am Dammtor mit Farbe beschmiert, anderweitig | |
engagiert war er nicht. | |
„An kollektiven Projekten war ich nie interessiert, ich blieb | |
Einzelgänger.“ In Momenten von Verzweiflung beginnt er Ende der 1960er auf | |
Deutsch zu texten. Durch Vermittlung seines Bruders wird der Musiker Achim | |
Reichel auf ihn aufmerksam. 1975 erscheint mit dessen Hilfe Stingls | |
Debütalbum „Teuflisch“. Zum Dank schreibt Kiev Stingl für Reichel immer | |
wieder Songs. | |
## Er singt so teuflisch | |
Im Titelsong heißt es „Du bist so teuflisch / Vielleicht schenke ich dir | |
den Ozean / Vielleicht schenke ich Dir Aga Khan“. Windschiefe Rocksongs mit | |
sparsamer Poesie, das war dem Hippiemainstream damals zu karg, das passte | |
nicht zum progressiven Gedudel der mittleren 1970er. Rimbaud und [7][Rolf | |
Dieter Brinkmann] nennt Stingl als wichtigste lyrische Impulse. | |
Stingls eigene poetische Leistung wurde damals ignoriert. Nach | |
Veröffentlichung von „Teuflisch“ gab es ein Meeting beim Label Phonogramm, | |
Stingl saß neben dem Komiker Mike Krüger. „Die wollten mir Kommerz | |
aufschwatzen, da habe ich gedacht, die Scheiße mach’ ich nicht mit.“ | |
Im Hamburger Karolinenviertel zwischen der Kneipe Marktstube und der | |
Buchhandlung Welt führte Stingl zunächst bei Lesungen „Lieder des Maldoror�… | |
auf, Songs, die er Lautréamont ablauschte. Ein bisschen Exorzismus und | |
Berauschung an sich selbst sei das gewesen. Anders als die Agitprop-Texte | |
der Scherben und Lindenbergs angetörntes Gesäusel klang Stingl da schon | |
gefährlicher, machistischer, aber auch existenzieller. | |
## Greifvogel kackt im Sturzflug | |
Der taumelnde Beweis, dass Eigenbrötler im Rock existenzberechtigt sind. | |
„Ich bin der windgestörte Geier, der im Sturzflug auf eure Köpfe kackt“, | |
hieß es 1974 in einem Text von Stingl, der in der Zeitschrift „für neue | |
Literatur“, [8][Boa Vista], abgedruckt war. | |
Man habe sich damals beim Kicken an der Außenalster getroffen und über die | |
Leidenschaft für Fußball gemeinsame Kunstinteressen entdeckt, erzählt der | |
Filmemacher und Mitherausgeber Klaus Wyborny. Er erinnert sich an Kiev | |
Stingl als gute Type. Stingl erinnert sich wiederum an Wybornys damalige | |
Lebensgefährtin, die US-Autorin Marcia Bronstein, die die verschiedenen | |
Beitragenden mit Filmen, Musik und Undergroundliteratur fütterte. | |
Überhaupt die Frauen. Stingl, sagt ein Zeitzeuge, sei ein Chauvi gewesen | |
und erst durch Punk zivilisiert worden. Stingl selbst sieht es anders: | |
„Frauen habe ich als Wesen empfunden, deren zwei Seiten mich faszinieren. | |
Einerseits ihre Fähigkeit, Männer zu verzaubern, andererseits ihre | |
Hinterhältigkeit, Männer, wenn sie sich nicht nach ihrem Willen richten, | |
wie begossene Pudel stehen zu lassen.“ | |
## Hart wie Mozart | |
Stingls zweites Album, „Hart wie Mozart“, 1979 erschienen, ist bis heute | |
sein bekanntestes Werk. Das liegt auch am Cover, das mit der orangefarbenen | |
Rahmung des Spiegel versehen war, woraufhin ihn das Nachrichtenmagazin | |
verklagte. Damals begleitete ihn für eine Weile die Band Sterealisa, junge, | |
am Punk geschulte Hamburger Musiker, unter ihnen [9][Holger Hiller.] | |
Stingl inszeniert sich in den Songs als surrealistischer Dandy und | |
hechelnder Erotomane, dem Wahnsinn immer auf der Spur: Brian Ferry mit mehr | |
Rawumms und weniger Galanterie; eine Lachmöwe, die mit Widerspruchsgeist | |
durch die Republik segelt und in den guten Stuben Alarm auslöst. Velvet | |
Underground habe er viel gehört, gesteht Stingl. In seinen eigenen Songs | |
klingt es weniger cool und lange nicht so abgeklärt. | |
Als Punk über Westdeutschland fegt, war Kiev Stingl schon wieder | |
Randerscheinung, nicht linientreu genug für die Hardliner und zugleich zu | |
unzuverlässig für den Mainstream. | |
## Verständnislose Kritiken | |
Eine Tournee hatte er bestritten 1980, die Kritiken zumeist verständnislos. | |
1982 tauchte Stingl frustriert ab und in Madagaskar wieder auf. Für ein | |
Filmprojekt kam er auf die Insel, wollte Medizinmänner befragen, wurde im | |
Drogenrausch verhaftet und nach Frankreich abgeschoben. | |
Von da ab ging’s bergab. 1985 hatte er sich fast zu Tode gesoffen, war in | |
[10][Französisch-Guyana] gestrandet, dann in Rio de Janeiro, bis er dem | |
Alkohol entsagte. In Westberlin machte Stingl einen Neuanfang, | |
veröffentlichte zwei weitere Alben, 1981 und 1987, Zeugnisse eines | |
unsteten, von Brüchen gekennzeichneten Künstlerlebens, aus dem keine | |
Karriere zu machen war. | |
Als Erzähler bleibt Kiev Stingl unzuverlässig, Begebenheiten verschwimmen. | |
Er ringt manchmal nach Worten, aber, sagt er, er habe einen Roman | |
fertiggestellt, an dem er 20 Jahre geschrieben hat. „Ich bin am | |
Schöpferischen interessiert.“ Und dann sind da diese gespenstischen, | |
eiskalten Momente von „X R I Nuit“. In dem Song „Spiel den Brief“ erwä… | |
er beiläufig den englischen Schriftsteller Malcolm Lowry. Auch so ein | |
Unbehauster, wie Kiev Stingl. | |
22 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Urauffuehrung-am-Deutschen-Theater-Berlin/!5880565 | |
[2] /Die-Musikerin-Mona-Mur-im-Interview/!5615760 | |
[3] /Buch-ueber-Filmemacher-Hellmuth-Costard/!5865429 | |
[4] https://www.discogs.com/artist/1087956-G%C3%B6tz-Humpf | |
[5] /Briefe-von-Schriftsteller-Hubert-Fichte/!5322834 | |
[6] /Interview-mit-Hamburger-Kiez-Wirtin/!5707764 | |
[7] /Sammelband-ueber-Underground-Literatur/!5701728 | |
[8] /Archiv-Suche/!437461&s=Boa+Vista&SuchRahmen=Print/ | |
[9] /Neue-deutsche-Welle/!5104374 | |
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Papillon_(1973_film) | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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