# taz.de -- Nachruf auf Musiker Michael Ruff: Die Inkubationszelle | |
> Er brachte Synthpop ins punkige Einerlei, wirkte auch als Autor und sein | |
> Plattenladen war eine Hamburger Institution. Nun ist Michael Ruff | |
> gestorben. | |
Bild: Geisterfahrer 1980 in Hamburg. Michael Ruff ganz links | |
In den endlosen Hamburger Wintern der 1990er war die Frage oft: Was wartet | |
hinter dieser Tür? Ja, Schallplatten, das machte schon die übergroße | |
Scheibe am Eingang zum Eckhaus Feldstraße 48 deutlich. Das Inventar ließen | |
die plakatierten Hochparterre-Fenster von außen dennoch nicht erahnen. | |
Betrat man einen leeren Laden? Stand er selbst hinterm Tresen? Und vor | |
allem: in welcher Stimmung? | |
Michael Ruff, Musiker, Journalist und über sehr viele Jahre der | |
Morgenpost-studierende Wachposten seines Plattenladens „Ruff Trade“, | |
pflegte seine Launen. Eine falsche Kundenfrage, und die Stimmung kippte. | |
Hinter „High Fidelity“-Anflügen, wie von Nick Hornby fiktionalisiert, | |
steckte die Attitüde: Kann er sich den Zynismus vom Leib halten, ein paar | |
Jahrzehnte, nachdem er das Hobby Musik zu mehreren Berufen gemacht hat? Im | |
Fall von Michael Ruff lautete die Antwort: Mal besser, mal schlechter. | |
## DJ für elterliche Skatrunden | |
Das Hobby startet er als Fünfjähriger. Da unterhält Ruff als Selecter mit | |
Schlagersingles die Skatrunden im elterlichen Wohnzimmer. Das machte zwar | |
Spaß, war aber musikalisch auf längere Sicht nicht erfüllend. Gut also, | |
dass in Rahl-stedt, am nordöstlichen Stadtrand Hamburgs, zwei Geschäfte | |
Platten führten. „Radio Thiel“ etwa hatte das Velvet-Underground-Debütalb… | |
samt abziehbarer Banane im Angebot, erinnert sich Ruff noch gut 50 Jahre | |
später. | |
Bald kauft der Plattensammler nicht nur ein bei „Govi“, in den 1970ern eine | |
Hamburger Plattenladenkette, sondern beginnt auch dort zu arbeiten. Einen | |
Teil des Lohns trägt er in Form von Vinyl nach Hause. Zumal ab 1977 diese | |
neuen Bands aus England auftauchen. Punk rüttelt Hamburg durch, wie ein | |
paar Monate zuvor London. Das Leben nimmt jetzt Fahrt auf. | |
1978 wird Michael Ruff Mitgründer einer Band: Geisterfahrer heißt sie und | |
bringt einen Sound zwischen [1][Joy Division] und Suicide nach | |
Westdeutschland. Wie ein stabiler Klaus Kinski steht Ruff hier am Mikro. | |
[2][Die Debütsingle wird zur ersten Veröffentlichung des stilprägenden | |
ZickZack-Labels von Alfred Hilsberg.] Vom späteren | |
Palais-Schaumburg-Gründer Holger Hiller bis zum HipHop-Entdecker Hans | |
Keller sind Geisterfahrer eine Inkubationszelle der frühen Hamburger Punk- | |
und Wave-Szene. | |
## Tagsüber Uni, nachts Hopfendiskurs | |
Die trifft sich tags bei „Rip-Off-Records“, Vorläufer von Ruff Trade im | |
Karoviertel, nachts bei Konzerten und beim Bier in der Marktstube. Zugleich | |
besucht Michael Ruff die Uni, wo er im Germanistikstudium [3][Diedrich | |
Diederichsen] kennenlernt. Als der im Sommer 1979 die Chefredaktion des | |
Musikmagazins Sounds übernimmt, heuert er auch Kommilitonen Ruff an. Es ist | |
der Anfang einer langen Laufbahn als Autor, in der Michael Ruff sich vor | |
allem bei Spex einen Namen macht. | |
Mit Diedrich Diederichsen, seinem Bruder Detlef, dem Künstler Markus Oehlen | |
und einigen anderen gründet Ruff auch die Artschoolband Flying | |
Klassenfeind. Während Diederichsen das Schreiben über Pop auf ein zuvor | |
unbekanntes theoretisches Niveau hebt, bleibt Ruff näher an der Musik. | |
Besonders Gitarrenpop hat es ihm angetan. | |
Früh erkennt Michael Ruff die Qualität von Bands wie [4][Orange Juice] und | |
den australischen [5][Go-Betweens]. Als das neuseeländische Label Flying | |
Nun Mitte der 80er aufregende Musik veröffentlicht, berichtet Ruff hiesigen | |
Leser:innen zuerst davon. Seine Themen zeigen wiedererkennbaren | |
Geschmack, nebenbei sind sie Werbung für den von ihm geleiteten | |
Plattenladen. | |
## Der Laden brummt | |
Nach der Pleite von Rip Off, der zunächst auch der deutsche Ableger vom | |
britischen Rough Trade-Vertrieb war, arbeitet Ruff dort ab 1984 als | |
Geschäftsführer. Die Leute in London kennen ihn als Musiker und | |
Journalisten. Michael Ruff schreibt viel, seine Band Geisterfahrer ist | |
weiter aktiv, und der Laden brummt. Manchmal steht der [6][britische | |
Rüschenhemd-Troubadour Nikki Sudden] hinterm Ladentresen, der damals in | |
Hamburg wohnt. Es ist die Hochphase des Indie-Booms. | |
Als Ende der 1980er auch der britische Rough Trade-Vertrieb finanziell ins | |
Trudeln kommt, übernimmt Ruff den Plattenladen ganz und benennt ihn um in | |
„Ruff Trade“. Doch im Laufe der 90er Jahre lässt das Geschäft nach. Das | |
Business ändert sich. Online kann jetzt jeder Plattenhändler sein. Das | |
Schreiben stellt er 2004 ein. Mit 50 fühlt er sich zu alt dafür. | |
Auch Indie als Konzept wird zu eng. Ruff verbreitert das Angebot um Folk, | |
Reggae und Jazz. Der Laden wird zum Ebenbild seines persönlichen | |
Geschmacks. Über den wacht er, in den letzten Jahren unterstützt von einem | |
Kompagnon, so unerschütterlich wie der Hochbunker gegenüber. Dachte man. | |
Anfang dieser Woche ist Michael Ruff 67-jährig an Krebs gestorben. | |
28 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Buch-zu-Joy-Division/!5698386 | |
[2] /Biografie-ueber-Alfred-Hilsberg/!5291759 | |
[3] /!s=diedrich+diederichsen/ | |
[4] /Edwyn-Collins-macht-wieder-Musik/!5130126 | |
[5] /Robert-Forster-The-Candle-and-the-Flame/!5908972 | |
[6] /Buch-ueber-britische-Postpunks-Swell-Maps/!5857630 | |
## AUTOREN | |
Gregor Kessler | |
## TAGS | |
Nachruf | |
Soul of Hamburg | |
Plattenladen | |
Punk | |
Musik | |
Pop | |
Postpunk | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Abwärts-Sänger Frank Z. ist tot: Der Westen ist einsam | |
Mit der Hamburger Postpunkband Abwärts sang Frank Z. früh auf Deutsch und | |
spielte verzinkten Sound. Nachruf auf einen unbequemen Künstler. | |
Nachruf auf Musiker Kristof Schreuf: Der Text war seine Party | |
Der Musiker und taz-Autor Kristof Schreuf ist gestorben. Seine Band | |
Kolossale Jugend schrieb deutsche Popgeschichte. Er wurde nur 59 Jahre alt. | |
Musiker und Autor Kiev Stingl: Dem Wahnsinn auf der Spur | |
Kiev Stingl veröffentlicht sein fünftes Album. Eine Begegnung mit dem durch | |
Punk zivilisierten Außenseiter und Eremiten des deutschen Rock. | |
Buch über britische Postpunks Swell Maps: Bricolage mit Staubsauger | |
Gitarrist Jowe Head hat ein liebevoll aufgemachtes Buch veröffentlicht, das | |
mit Fotos, Texten und Musik an seine Postpunkband Swell Maps erinnert. |