| # taz.de -- Möglicher Sturz des Regimes in Iran: Keine spontane Heilung | |
| > Was nach einem Sturz des Regimes in Teheran passieren würde, ist gänzlich | |
| > unklar. Das Fehlen jeglicher Systemalternative ist beängstigend. | |
| Bild: Der oberste Führer Ajatollah Ali Chamenei (3l) beim Besuch einer Militä… | |
| Die meisten Iraner und Iranerinnen kennzeichnet ein ausgeprägtes | |
| Nationalbewusstsein; so ist es im Inland wie im Ausland. Das könnte eine | |
| gute Voraussetzung sein für eine organisierte politische Opposition, in | |
| enger Abstimmung mit der Expertise von Protagonisten im Exil. Die Realität | |
| ist indes anders: Weder im Inland noch im Ausland ist eine demokratische | |
| Kraft erkennbar, die in Teheran Verantwortung übernehmen könnte, wenn das | |
| jetzige System implodiert. Und es scheint in erschreckendem Maße unklar, | |
| was überhaupt an dessen Stelle treten soll. | |
| Es ist richtig, für die Proteste Partei zu ergreifen, und der Mut der | |
| Kämpfenden schreibt Emanzipationsgeschichte. Und doch wächst Tag für Tag | |
| meine Beklemmung und meine Furcht, Iran gehe entweder einer Militärdiktatur | |
| oder einem Staatszerfall entgegen. | |
| Wer auf die gegenwärtige Situation analytisch blickt, statt sich allein | |
| moralisch zu positionieren, wird leicht der Sympathie für die Islamische | |
| Republik verdächtigt. Deshalb sei vorausgeschickt: Die Frauen und Männer in | |
| Iran haben jedes Recht der Welt, so zu protestieren, wie sie es für richtig | |
| halten. Unübersehbar aber ist zugleich, wie der Mangel an politischer | |
| Repräsentanz sie zusätzlich verletzlich macht und dem Sicherheitsapparat | |
| ausliefert. In hiesigen Medien aber ist es üblich geworden, [1][an den | |
| Zahlen der Getöteten zu messen, wie stark die Bewegung ist], als seien | |
| Todeslisten ein Ersatz für Manifeste. | |
| Wie könnte sich ein künftiger Iran, im Einklang mit seiner Kultur, seiner | |
| Geschichte und seiner sensiblen geostrategischen Lage in Westasien | |
| definieren? Mit welchem Wirtschaftssystem, welcher Außenpolitik? Wie seine | |
| Ressourcen und Grenzen schützen? Auf alle diese Fragen gibt es keine | |
| Antwort. | |
| ## Keine Vision, die Vertrauen findet | |
| Stattdessen höre ich: Dies ist ein revolutionärer Moment, es gibt kein | |
| Zurück, Staat und Regime müssen stürzen, und zu dessen Beschleunigung soll | |
| Deutschland seine Beziehungen zu Iran abbrechen. Müsste es nicht Teil | |
| politischer Verantwortung sein, eine Systemalternative zu erörtern, mit | |
| aller verfügbaren internationalen Kompetenz, und daran auch den Takt | |
| eigener Forderungen auszurichten? | |
| In 43 Jahren Islamischer Republik ist es der großen westlichen Diaspora mit | |
| so vielen hervorragenden Individuen in Wissenschaft und Politik nicht | |
| gelungen, eine Vision oder ein Übergangsmodell hervorzubringen, das im Land | |
| selbst auf Anklang stoßen würde, gar Vertrauen fände. Während in Iran | |
| [2][eine hochdiverse Gesellschaft entstanden ist], stechen aufseiten des | |
| Exils immer noch (oder wieder) Gestrige hervor: [3][die autoritäre Sekte | |
| der Volksmudschaheddin] und die Monarchisten. Der gewachsene Einfluss | |
| Letzterer zeigt sich an der Popularität eines beschönigenden Blicks auf die | |
| Schah-Zeit: als hätte die Masse der Iraner und Iranerinnen damals besser | |
| und freier gelebt. | |
| ## Gesellschaft ohne Schuld? | |
| Die Überzeugung, in jenem Moment, da das herrschende Regime implodiert, | |
| werde es eine spontane Selbstheilung der Gesellschaft geben, eine intuitive | |
| Befähigung, alles auf gute Weise in die Hand zu nehmen, entspringt gewiss | |
| der Liebe zum Land. Andererseits zeigt sich gerade hier die verhängnisvolle | |
| Wirkung von Nationalstolz. Die Annahme, die iranische Zivilisation sei | |
| besonders hochstehend und in der Islamischen Republik demütige eine | |
| exzeptionell miese Herrscherclique ein exzeptionell wertvolles Volk, nährt | |
| ein künstliches, rosig homogenisiertes Iran-Bild. Typisch dafür ein Satz | |
| der Comedian und Aktivistin Enissa Amani: „Diese Diktatur hat seit vier | |
| Jahrzehnten ein ganzes Land mit allen darin lebenden Völkern gekidnappt.“ | |
| Eine Gesellschaft ohne Schuld und Mitverantwortung als Geisel einer Clique | |
| von Verbrechern? | |
| In Iran habe ich solcher Art Holzschnitt nie angetroffen. Für einen | |
| Großteil der westlichen Öffentlichkeit saß hingegen in Teheran immer schon | |
| das exzeptionell Böse. Donald Trump rühmte die hochstehende iranische | |
| Seele, um sie dann mit seinen Sanktionen zu knechten. Auf progressiver | |
| Seite hat die Fixierung auf die Spezifik Irans, auf ein einzigartiges | |
| polit-religiöses System, wiederum verhindert, die Erfahrungen mit anderen | |
| autokratischen Regimen zu Rate zu ziehen, etwa der revolutionären | |
| Bewegungen Ägyptens und jüngst des Sudans. | |
| ## Iran nur an Iran gemessen | |
| Weil Iran stets nur an Iran gemessen wird, geht nun [4][der Vergleich mit | |
| 1979 um] – obwohl eigentlich die Unterschiede zu damals überwiegen. Die | |
| Gesellschaft hat sich durch Bildung, Verstädterung, moderne Infrastruktur | |
| grundlegend gewandelt, und die so entstandene Heterogenität erklärt zum | |
| Teil, warum sich keine Systemalternative entwickelt. 1979 galt der Schah ja | |
| nicht nur als Diktator, sondern als Marionette des Westens. Sein Sturz | |
| wurde durch eine Vision außenpolitischer Unabhängigkeit befeuert, wozu die | |
| Hoheit über die eigenen Energie-Ressourcen gehörte. | |
| Und heute? Wie würde sich ein postislamistischer Iran international | |
| positionieren, bedrängt von russischen, chinesischen, saudischen, | |
| israelischen Interessen? Und was ist mit dem [5][weit entwickelten | |
| Nuklearprogramm]? Wer den raschen Sturz des herrschenden Regimes wünscht, | |
| kann diesen Fragen nicht ausweichen. Verführerisch, wenn nun in den | |
| Staatskanzleien westlicher Hauptstädte zan – zendegi – azadi angestimmt | |
| wird, als würden [6][Frauen- und Menschenrechte nicht regelmäßig hinter | |
| harten Eigeninteressen zurückstehen], siehe die geplanten deutschen | |
| Rüstungslieferungen an Saudi-Arabien oder die Geschäfte mit Ägyptens | |
| al-Sisi, dem Herrscher über Zehntausende politische Gefangene, der | |
| demnächst mit einem Klimagipfel geehrt wird. | |
| Im Umgang mit einem taumelnden Iran werden inmitten eines globalen | |
| Energiekrieges nicht Human Rights bestimmend sein, sondern geopolitische | |
| Strategien. Und Planspiele der CIA zur Balkanisierung Irans entlang | |
| potenzieller ethnischer Bruchlinien wurden schon vor Jahren bekannt. | |
| 19 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Charlotte Wiedemann | |
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