# taz.de -- Notstand der Flüsse: Transformation am Ufer | |
> Eine Klimakrisen-Wirtschaft kann nur mit den Gesetzen der Flüsse | |
> funktionieren. Die angebliche Versöhnung von Ökologie und Ökonomie ist | |
> keine Option. | |
Bild: Die alten Bauanleitungen für Flüsse taugen nicht mehr | |
Geradezu sinnlich haben wir in diesem Sommer den Klimawandel erlebt. Wir | |
wissen jetzt, wie es sich anfühlt, [1][wenn bei 37 Grad der Schweiß auf der | |
Haut verdunstet] und nicht mehr kühlt, wenn der Körper matt und der Kopf | |
blöde in der Hitze hängen. In den Städten war es unerträglich, die Wälder | |
standen brandgefährlich trocken. Seen und Flüsse kühlten kaum, als wir sie | |
am dringendsten brauchten. Bis Juli hatte die Sonne die Seen und Flüsse auf | |
26, 28 Grad Celsius erhitzt. Auf den freiliegenden Ufersteinen moderten | |
Wasserpflanzen. Algen dickten die Gewässer ein. Und an Rhein, Saale, Panke | |
und unerwähnten anderen Flüssen haben wir erlebt, dass im Klimawandel auch | |
der Flussbarsch und die Bachmuschel sterben. | |
Trockenheit bedeutet Tod im Fluss, der uns mehr angeht als ein ethisches | |
Zucken. Erst einmal die gute Nachricht: Eines der vielen Wunder der Natur | |
ist ihre Stärke, dem Leben das Leben zu ermöglichen. Strudelwürmer, winzige | |
Krebse, Larven von allerhand Insekten und Fischen, Schnecken und Mikroben | |
überleben in den feuchten Tiefen des Sediments und besiedeln den Bach und | |
Fluss, sobald das Wasser wieder fließt. Wenn Tiere, Pflanzen und | |
mikroskopische Kleinstlebewesen wieder ein Netz der Vielfalt knüpfen, | |
belebt sich das ökologische System im Fluss und versorgt auch uns mit dem | |
Element, das uns am Leben hält: Wasser. | |
Im Wasser der Oder keimt auch die Hoffnung, dass die Natur den ökologischen | |
Kollaps im Fluss heilen kann. [2][Die Bilder von Hunderttausenden toten | |
Fischen in der Oder schmerzten]. Barsche, Hechte, Neunaugen, | |
Goldsteinbeißer, Döbel und auch 20.000 junge Störe aus den Bassins einer | |
biologischen Nachzuchtstation erstickten. Verstörend ist vor allem, dass | |
gleich eine ganze Reihe von menschlichen Ursachen den Ökozid in der Oder | |
ausgelöst hatte: Die Salzeinleitungen in Polen lösten eine Kette von | |
Reaktionen aus: Im gestauten Wasser an Buhnen und Wehren fanden die | |
todbringenden Brackwasseralgen einen Lebensraum; zu viele | |
Stickstoffverbindungen aus der Landwirtschaft nährten sie in dem vom | |
Klimawandel erhitzten Fluss. | |
Diese Gründe und vermutlich noch ein paar mehr hängen multikausal mit der | |
Lebens- und Wirtschaftsweise in den Industrieländern Deutschland und Polen | |
zusammen. Und das ist eine der schwierigen Erkenntnisse: Wir alle sind für | |
den Ökozid in der Oder verantwortlich. Das bedeutet: Wir müssen unsere | |
Lebensweise ändern, die bislang vorherrschende Art zu wirtschaften und das | |
Land zu beackern, umstellen. Ohne saubere Flüsse gibt es kein Trinkwasser, | |
ohne natürlichere Flüsse vertrocknet das Land. | |
## Keine Verklärung der Natur | |
Wenn es um Wald, Flüsse, Natur geht, entsteht in Deutschland schnell der | |
Verdacht, man wolle zurück in eine Welt des 18. Jahrhunderts oder früher, | |
jedenfalls in die Zeiten vor der Industrialisierung und der Einhegung des | |
natürlichen Lebens. Das sind alte Reflexe der Abwehr, denn hierzulande | |
überwiegen der feste Glaube an die Technik und menschliche Ratio. Naturnahe | |
Wälder und natürlichere Flüsse entspringen jedoch nicht einer romantischen | |
Verklärung der Natur, sondern der logischen Schlussfolgerung aus | |
Trockenheit und einem Temperaturanstieg von 1,8 Grad in Deutschland in den | |
vergangenen 50 Jahren. | |
Eine Klimakrisen-Wirtschaft an und auf Flüssen kann nur mit den | |
Gesetzmäßigkeiten der Flüsse funktionieren. [3][Denn ob die Wirtschaft nun | |
wächst oder stagniert, ob der Kapitalismus noch ein paar Jahre weiter | |
ballert oder zusammenbricht] – in jeder Art zu wirtschaften und zu leben | |
werden Flüsse eine entscheidende Rolle in Mitteleuropa spielen. Wie auch | |
immer wir kollektiv zusammenleben, wird die Ökonomie nur mit Ökologie | |
florieren. Um gleich ein Missverständnis auszuräumen: Es geht nicht darum, | |
die Ökologie mit der Ökonomie zu versöhnen, die Wirtschaft also | |
nachhaltiger, umweltfreundlicher und sogar klimaverträglicher zu gestalten. | |
Es geht darum, die Gesetzmäßigkeiten von hochkomplexen Ökosystemen | |
anzuerkennen und das bisschen, was Wissenschaftler:innen bislang | |
entziffert und verstanden haben, in praktisches Handeln umzusetzen. | |
Auch das ist keine Romantik, sondern Logik. Nur mit den physikalischen, | |
chemischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten in den Ökosystemen werden wir | |
die Systeme menschlichen Zusammenlebens erneuern und erhalten können. Die | |
Natur der Flüsse anzuerkennen, ist also kluge Wirtschafts- und | |
Gesellschaftspolitik – ebenso wie Treibhausgase einzusparen und die | |
Erwärmung der Erde zu begrenzen. | |
FDP, CDU und weite Teile der SPD drücken sich noch an den Spundwänden | |
entlang, um in ausgetrockneten Flüssen so weiterzumachen wie bisher. | |
FDP-Bundesverkehrsminister Volker Wissing holte aus dem trockenen Sediment | |
seines Schreibtischs [4][die Rheinvertiefung] vor, die er schon als | |
Minister in Rheinland-Pfalz machen wollte und auch ohne Dürre die Sache | |
verschlimmert hätte. Den Rhein in diesen heißen Zeiten zu vertiefen, ist | |
so, als ob man einen Sonnenbrand mit dem Abtragen der Haut behandelt. Je | |
tiefer ein Fluss ausgebaggert wird, desto schneller fließt das Wasser aus | |
der Landschaft und desto stärker trocknet das umliegende Land aus. | |
Ein vertiefter Fluss verliert außerdem zu viel Sediment, in dem kleinste | |
Lebewesen und Bakterien das Wasser reinigen, bevor es ins Grundwasser | |
läuft. Sind zu wenige Steine und Sand am Flussgrund, bricht das Sediment, | |
und das ungefilterte Flusswasser verschmutzt das Grundwasser. Schon jetzt | |
kippen Laster täglich Steine und Sand in den Rhein und andere gestaute und | |
ausgebaggerte Flüsse, um das Sediment in den Flüssen zu erhalten und den | |
Trinkwasser-GAU zu verhindern. | |
Die Folgen von Hochwasser oder Gar-kein-Wasser werden nur dann gemildert, | |
wenn die Ökosysteme in und an den Flüssen in das menschliche Wirtschafts- | |
und Gesellschaftssystem in heißen Zeiten integriert werden. Das bedeutet | |
nicht, dass fortan Rhein, Elbe, Donau wieder in den natürlichen Flussarmen | |
strömen, Deiche verschwinden, alle Wehre und Staumauern und | |
Wasserkraftwerke abgebaut werden. An sehr vielen Ufern brauchen wir den | |
Schutz den Mauern, denn sie halten Industrieanlagen und Siedlungen trocken. | |
Noch brauchen wir auch die megawattstarken Wasserkraftwerke in den | |
Alpenflüssen, aber eines Tages werden Sonne und Wind die Energie | |
naturverträglicher liefern als die gestauten Flüsse. | |
Wehre, Wasserkraftwerke und Ufermauern stammen aus früheren Jahrhunderten. | |
Aber mit den Bauanleitungen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts können wir im | |
21. Jahrhundert nicht mehr hantieren. Damals haben Wasserbauer die Flüsse | |
begradigt, gestaut, vertieft, umgeleitet, um Wasser aus der Landschaft zu | |
holen, Land zu gewinnen und Transportwege zu bauen. In früheren | |
Jahrhunderten hat es mehr geregnet, im 19. Jahrhundert sogar sehr viel | |
mehr, und das Land war nass und die Moore ausgedehnt. Es gab zu wenig | |
trockenes Land zum Ackern, Siedeln, Fabriken bauen. Ein Prozent der Flüsse | |
und nicht einmal ein Prozent der Auwälder haben die große Trockenlegung in | |
Deutschland überlebt. | |
## Ökologische Naivität | |
Klimakrise und Flüsse als Rinnsale in der Restwasserrinne erfordern ein | |
neues Denken, eine Transformation am Ufer, die in ihrem Ausmaß dem Umbau | |
der Energieversorgung gleichkommt. Und wo wir bei der Energiegewinnung am | |
Fluss sind: Ohne Wasser im Fluss können Atomkraftwerke schon aus | |
ökosystemischen Gründen keine Lösung der Energiefrage sein. Atomkraftwerke | |
laufen nicht ohne Kühlwasser. | |
Die ökologische und wirtschaftliche Naivität von Leuten wie CDU-Chef | |
Friedrich Merz und FDP-Christian-Lindner erschreckt in der multiplen Krise | |
von Energieversorgung, Trockenheit und extremen Temperaturen. Den | |
Klimawandel zu leugnen, können sie sich nicht leisten, aber die | |
Realitätsverleugnung bleibt in ihren Kreisen salonfähig. Also versuchen | |
Merz und Lindner mit alten Rezepten das Bestehende in der Krise zu erhalten | |
– und verschleppen die längst anlaufende Transformation. | |
Wer Ökologie nicht versteht, kann auch keine Wirtschaft in der | |
Transformation. Und da brauchen die neuerdings im grünen Jargon fischenden | |
Politik- und Wirtschaftsleute [5][nicht mit Nachhaltigkeit zu kommen. | |
Nachhaltigkeit taugt nicht mehr als Konzept in der Klimakrise]. Das | |
Wirtschaftsmodell stammt aus der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts und | |
kann keine Antworten auf die komplexen biologischen, physikalischen und | |
chemischen Zusammenhänge einer Erderwärmung geben. | |
## Umbau der Flüsse | |
Ein naturwissenschaftlich basiertes Wirtschaftskonzept muss vernetzt denken | |
und Vielfalt fördern – das wäre schon mal die erste Lehre aus der | |
Ökosystemforschung. Ökosysteme sind dann stark, wenn viele unterschiedliche | |
Lebewesen vernetzt und in ihrem Rhythmus arbeiten und leben. [6][Da Flüsse | |
den entscheidenden Rohstoff allen Lebens kontrollieren], müssen Flüsse in | |
die Überlegungen der Zukunftsfähigkeit eingebunden werden. Die Flüsse | |
müssen umgebaut werden – so wie die Bundesregierung den Waldumbau mit | |
Milliarden Euro subventioniert, muss ein Vielfaches dieser Summe in den | |
ökologischen Flussumbau fließen. | |
Der Klimawandel ist in diesem Sommer der ausgetrockneten Flüsse endgültig | |
aus der wissenschaftlichen Realität in die spürbare Wirklichkeit von Hitze | |
und Durst getreten. Das Wesen des Flusses ist sein Fließen, das die | |
Landschaft mit Wasser versorgt und unser Denken bewegt. Wir müssen es | |
anders machen. Anders essen, anders fahren, anders heizen, anders | |
wirtschaften, alles das anders machen, das bisher Treibhausgase produziert | |
und die Temperatur steigen lässt. Und weil wir alles anders machen werden, | |
neu denken und Lebensweisen neu erfinden, geht es nicht mehr um Verzicht, | |
sondern um Bewegung für die Transformation der Gesellschaft. Panta rhei, | |
alles fließt, lehren die Flüsse. | |
3 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Hitzetote-in-Deutschland/!5873299 | |
[2] /Fischsterben-in-der-Oder/!5875609 | |
[3] /Kapitalismus-und-Klimaschutz/!5879301 | |
[4] /Niedrigwasser-am-Rhein/!5877777 | |
[5] https://www.gruene.de/artikel/die-wirtschaft-muss-sich-neu-erfinden | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=lc6F47Z6PI4 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Fokken | |
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