# taz.de -- Svenja Schulze über Wiederaufbauarbeit: „Frauen sind Teil der L�… | |
> Wer Frauen unterstützt, hilft ihren Gesellschaften, meint | |
> Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze. Das gilt auch beim | |
> Wiederaufbau der Ukraine. | |
Bild: Freiwillige räumen im ukrainischen Dorf Nowoseliwka Schutt weg | |
taz am wochenende: Frau Schulze, in der Ukraine tobt der russische | |
Angriffskrieg, Russland ruft die Teilmobilisierung aus. Ein Ende des | |
Krieges ist nicht in Sicht. Deutschland – insbesondere das | |
Entwicklungsministerium – setzt jetzt schon auf den [1][Wiederaufbau]. Ist | |
das realistisch? | |
Svenja Schulze: Es geht jetzt vor allem um die Millionen Menschen, die | |
innerhalb der Ukraine geflohen sind. Sie brauchen Strom, Wasser, | |
Unterkünfte. Dieser Aufbau muss schon während des Krieges beginnen. Das ist | |
ein Schwerpunkt unserer Unterstützung, ein zweiter ist es, die | |
Sozialsysteme am Laufen zu halten. Viele Menschen können jetzt nicht | |
arbeiten, sie haben keine Einkünfte – jedenfalls in weiten Teilen der | |
Ukraine nicht. Das heißt, sie sind auf Leistungen des Staates angewiesen. | |
Wenn die nicht mehr geleistet werden könnten, würde das die ukrainische | |
Gesellschaft in einer entscheidenden Phase schwächen. | |
Was heißt das genau? | |
Wir helfen zum Beispiel dabei, Bankensysteme aufrechtzuerhalten. Ich habe | |
in der Nähe von Lwiw eine Landwirtin kennengelernt, die wollte einen | |
Speicher bauen, kriegt aber keinen Kredit mehr, weil in so einer Situation | |
die Banken in der Ukraine schlecht bewertet werden. Dort versuchen wir | |
auszuhelfen. Insgesamt haben wir schon 185 Millionen Euro an | |
Sofort-Aufbauhilfen konkret eingesetzt, weitere 426 Millionen Euro sind | |
zugesagt. | |
Dennoch: Wiederaufbau in Kriegszeiten ist eigentlich unvorstellbar. | |
Es ist in der Tat kompliziert. Auch Korruption war in der Vergangenheit ein | |
schwieriges Thema, mit dem wir umgehen müssen. Wir arbeiten sehr viel mit | |
der kommunalen Ebene und mit mehreren Ministerien zusammen. Dieser | |
dezentrale Ansatz hat sich gegen Korruption bewährt. Gleichzeitig stellen | |
wir sicher, dass die Mittel, die an die Zentralregierung gehen, korrekt | |
verwendet werden. Dazu arbeiten wir eng mit internationalen Partnern wie | |
der Weltbank zusammen. | |
Ganz gleich, wann der [2][Krieg zu Ende ist, die Ukraine] wird ein Land von | |
Kriegsversehrten sein. Viele Männer waren an der Front, kommen als | |
Pflegefälle zurück. Ist der Wiederaufbau die Stunde der Frauen? | |
Es hängt viel davon ab, wie lange dieser Krieg dauert. An der rumänischen | |
Grenze habe ich mit Frauen gesprochen, die aus der Ukraine geflohen sind. | |
Die meisten wollen ja zurück, sie wollen wieder nach Hause. Ob das so | |
kommt, kann im Moment niemand sagen. Aber klar ist: Frauen müssen beim | |
Wiederaufbau ihre Perspektive einbringen, sie tun dies auch jetzt schon. | |
Wir werden darauf achten, dass Frauen an allen Entscheidungen angemessen | |
beteiligt werden. Und wir sehen, dass nicht nur die Männer, die gekämpft | |
haben, Kriegsversehrte sind. Gewalt gegen Frauen und Vergewaltigungen | |
kommen leider auch in diesem Krieg wieder vor. Deswegen ist es auch so | |
wichtig, zum Beispiel Traumatherapien anzubieten, wie wir das mit Unicef | |
zusammen tun. Das brauchen auch jene Frauen, die innerhalb der Ukraine | |
geflohen sind. Auch sie haben solche Erfahrungen gemacht und brauchen diese | |
Beratung. | |
Bei der Konferenz von Lugano, dem Auftakt zum Ukraine-Wiederaufbau, wurde | |
Gleichberechtigung als ein Prinzip neben Rechtsstaatlichkeit oder | |
Nachhaltigkeit aufgeführt. Gibt es feministische entwicklungspolitische | |
Ansätze bereits in der Ukraine-Unterstützung? | |
Erfolgreiche Entwicklungsarbeit geht ran an die strukturellen Ursachen von | |
Ungleichheit und wirkt über Jahre. Ganz akut unterstützen wir im Rahmen | |
unseres Netzwerks für Frauen auf der Flucht Projekte von Frauen für Frauen, | |
auch in der Ukraine und der Republik Moldau. So helfen wir Frauen auf der | |
Flucht dabei, ihre Familien zu ernähren, von ihnen gegründete Unternehmen | |
an neuem Ort aufzubauen und ihre Stimme so einzubringen, dass ihre | |
besonderen Bedürfnisse gesehen und gehört werden. Dieser Blick ist mir | |
wichtig – in der Ukraine, aber auch in anderen Weltregionen. | |
Woran denken Sie da? | |
Die Klimaveränderung führt zu massiven Problemen, gerade in der Sahelzone, | |
in den Ländern Afrikas. Wenn die Felder von Landwirtinnen betroffen sind | |
von Trockenheit, dann sind Frauen oft diejenigen, die als Erste aufgeben | |
müssen, weil sie häufig keine Rechte an dem Land besitzen, das sie | |
bewirtschaften. Deshalb bekommen sie keinen Kredit, wenn die Ernte | |
vernichtet ist, und können kein neues Saatgut kaufen. Wir drängen darauf, | |
dass Frauen Land besitzen dürfen und in einer Krisensituation dann auf ein | |
Sozialsystem zurückgreifen können. Das nutzt den Ländern, denn Frauen | |
kümmern sich in diesen Ländern traditionell um Ernährungsfragen. Wenn die | |
Frauen aber durch mangelnde Rechte behindert werden, führt das letztlich | |
dazu, dass Menschen hungern und die gesamte Gesellschaft leidet. | |
Entwicklungspolitik kann nur dann erfolgreich sein, wenn Frauen Teil der | |
Lösung sind. Sie brauchen mehr Rechte, mehr Repräsentanz, mehr Ressourcen. | |
In den Staaten, mit denen Sie arbeiten, ist es meist nicht Teil des | |
Wertekanons, Frauen gleichberechtigt zu sehen. Wie gehen Sie damit um? | |
Wir müssen in diesen Ländern die Rechte von Frauen stärken, weil das die | |
Weiterentwicklung dieser Gesellschaften ermöglicht. Wenn diese Diskussion | |
mit den Regierungen nicht möglich ist, dann arbeiten wir regierungsfern mit | |
Nichtregierungsorganisationen zusammen. In Bangladesch etwa haben wir ein | |
Projekt, mit dem wir Frauen als Arbeitnehmerinnen in der Textilindustrie | |
stärken. Wir müssen dafür sorgen, dass sie mehr Rechte in den Betrieben | |
bekommen und sich besser vernetzen. | |
Bei Ihrem [3][Vorgänger Gerd Müller (CSU)] lag der Fokus auf | |
wirtschaftlicher Stabilität. Sie setzen jetzt zusätzlich noch auf einen | |
feministischen Wertekanon. Ist das nicht etwas vermessen? | |
Menschenrechte sind nicht vermessen, sondern elementarer Bestandteil von | |
Entwicklungspolitik. Wenn es der Hälfte der Bevölkerung, also den Frauen | |
schlecht geht, dann geht es den Gesellschaften insgesamt nicht gut. Das ist | |
kein Überstülpen von Werten, sondern das sind Menschenrechte, die gelten | |
auf der ganzen Welt. Es geht um elementare Zugänge zu Geld, zu Rechten, zu | |
Land, zu Gesundheitsversorgung, zu Bildung. | |
Dazu brauchen Sie Geld. Im aktuellen Haushaltsentwurf wurden aber Mittel | |
für die Organisation UN Women gekürzt. | |
Dieses Jahr ist es dafür gelungen, aus Sondermitteln so viel wie nie zuvor | |
für UN Women bereitzustellen. Über UN Women hinaus wird es zudem deutliche | |
strukturelle Veränderungen geben. Ich habe für mein Ministerium neue Quoten | |
festgelegt, wonach der Anteil von Projekten für Geschlechtergerechtigkeit | |
in den nächsten Jahren deutlich steigen wird. Aktuell fließen rund 60 | |
Prozent der bilateralen Projektmittel meines Ministeriums in Projekte, die | |
die Gleichberechtigung der Geschlechter berücksichtigen. Da geht es etwa | |
darum, bei Klimaschutzprojekten die Interessen der Frauen von Anfang an | |
mitzudenken. Diese Quote will ich bis 2025 schrittweise auf 85 Prozent | |
steigern. Damit wären wir international wieder in der Spitzengruppe. Bei | |
den Projekten, die sich hauptsächlich der Geschlechtergerechtigkeit widmen, | |
will ich den Anteil von heute 4 auf 8 Prozent steigern. | |
Warum war in den Haushaltsverhandlungen nicht mehr zu holen? War Christian | |
Lindner zu hart oder Sie zu schwach? | |
Wenn der Haushalt insgesamt um 10 Prozent schrumpft, weil wir die | |
Schuldenbremse wieder haben, gibt es wenig Spielraum. Man muss mit den | |
Gegebenheiten klarkommen. Dass ich für mehr Geld kämpfe, ist | |
selbstverständlich, weil ich die globalen Krisen jeden Tag sehe. Ich | |
rechne damit, am Ende in erheblichem Umfang auf die | |
5-Milliarden-Euro-Haushaltsreserve zugreifen zu müssen, die die | |
Bundesregierung dafür beschlossen hat. Denn wir werden in dieser Weltlage | |
zusätzliche Mittel brauchen, um Deutschlands Anteil an der Bewältigung der | |
globalen Krisen zu leisten. | |
Im Koalitionsvertrag gibt es die Vereinbarung, für jeden Euro mehr | |
Verteidigung auch einen Euro mehr für die Entwicklung auszugeben. | |
Eigentlich ein starkes Argument. | |
Das ließ sich bisher nicht durchsetzen. | |
Die Ampel hatte geplant, den Sicherheitsbegriff größer zu denken. Jetzt | |
geht es um Remilitarisierung. | |
Im Koalitionsvertrag hatten wir einen Krieg mit all seinen Folgen nicht | |
eingepreist. Wir arbeiten jetzt im Krisenmodus. Und ich bin froh, dass wir | |
nicht die gleichen Kämpfe haben wie in der letzten Regierung. Olaf Scholz | |
sorgt dafür, dass Konflikte innerhalb der Koalition gelöst und nicht | |
öffentlich ausgetragen werden. Die Nationale Sicherheitsstrategie ist | |
weiter in der Diskussion. Dazu gehört nicht nur die militärische | |
Sicherheit, sondern auch die menschliche Sicherheit. Was wir in der | |
Entwicklungspolitik machen, ist Präventionsarbeit und vermeidet Konflikte | |
auf längere Sicht. | |
Ein Krisenherd ist nach wie vor Afghanistan. Noch immer fordern viele | |
Menschen, die auch für das Entwicklungsministerium oder zugehörige | |
Organisationen gearbeitet haben, Unterstützung und Aufnahme. Sind Sie da | |
dran? | |
Wir haben bisher rund 11.000 Ortskräfte aus der Entwicklungszusammenarbeit | |
mit Familienangehörigen nach Deutschland geholt – und sind weiter dabei, | |
gefährdete Menschen zu retten. Aber bei Weitem nicht jeder, der für | |
Deutsche gearbeitet hat, wird deshalb verfolgt und ist unmittelbar | |
gefährdet. NGOs, deren Arbeit in Afghanistan wir finanzieren, stellen | |
aktuell ja auch wieder nationale Beschäftigte an. Das würden sie nicht tun, | |
wenn es systematische Verfolgung gäbe. | |
Im Koalitionsvertrag sind ein Aufnahmeprogramm und eine Reform des | |
Ortskräfteverfahrens vereinbart, um mehr Gefährdeten zu helfen. Wie ist der | |
Stand der Gespräche? | |
Das neue Aufnahmeprogramm zielt ja gerade nicht auf Ortskräfte, sondern auf | |
die, die keine Ortskräfte waren und zugleich sehr gefährdet sind. | |
Menschenrechtsverteidigerinnen oder frühere Staatsanwältinnen zum Beispiel. | |
Die Gespräche zwischen den Ressorts und der Zivilgesellschaft sind schon | |
weit fortgeschritten. | |
Es gibt Mitarbeiter*innen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, | |
die zum Teil nachweislich bedroht sind und trotzdem keine Hilfe aus | |
Deutschland erhalten. | |
Wie gesagt: Wir haben 11.000 Menschen rausgeholt und unternehmen weitere | |
Anstrengungen. Es werden aber auch Anträge abgelehnt, weil immer | |
individuell geprüft wird: Haben diese Menschen für uns gearbeitet und sind | |
sie deshalb gefährdet? Das finde ich sinnvoll. Wir können nicht alle, die | |
in Afghanistan gute Arbeit geleistet haben, rausholen – so bitter das für | |
die Einzelnen ist. Aber das Land besteht auch nicht nur aus Ortskräften, | |
als Entwicklungsministerin werbe ich dafür, auch an die vielen anderen zu | |
denken. Dort hungern Menschen, vor allem Frauen und Kinder. Wir lehnen die | |
Taliban ab, aber diese Menschen brauchen dringend Hilfe. | |
24 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
Tobias Schulze | |
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