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# taz.de -- Sozialprotest vor FDP-Parteizentrale: Das erste Zucken der Sozialpr…
> Am Mittwoch fand ein Sozialprotest vor der FDP-Zentrale statt. Einiges
> spricht dafür, dass der Protest noch wachsen wird. Ein Wochenkommentar.
Bild: Tempolimit ist keineswegs immer gut
Berlin taz | Erwartung und Wirklichkeit klafften in Sachen Sozialproteste
in letzten Wochen weit auseinander. Überall war von kommenden Aufständen
gegen die steigenden Preise zu lesen. Prophylaktisch übten sich führende
Politiker:innen schon einmal darin, diese in die rechte Ecke zu
schieben. Doch obwohl die Ampel mit der Gas-Umlage eine Zwangsumverteilung
von unten nach oben verordnete, obwohl sich Finanzminister Christian
Lindner (FDP) über die „Gratismentalität“ derjenigen echauffierte, dessen
tägliche Arbeit den Reichtum der Besitzenden schafft – die Straßen blieben
leer.
[1][Am Mittwochabend] fand dann in Berlin-Mitte der erste Sozialprotest
statt. Wer weiß, vielleicht wird die Kundgebung vor der FDP-Parteizentrale
ja in einigen Jahren als erstes Lebenszeichen der Sozialrevolte vom Winter
2022/23 gelten. Zwar handelte es sich um kaum mehr als ein Zucken: Nur etwa
200 Demonstrierende forderten den Rücktritt Lindners, mehr Umverteilung,
eine Übergewinnsteuer und die Fortführung des 9-Euro-Tickets. Es spricht
allerdings einiges dafür, dass der Protest in den kommenden Monaten noch
wachsen wird.
Der wichtigste Grund hierfür ist die Ampelregierung selbst. Immer
deutlicher wird, dass ihre Loyalität bei den Konzernen, nicht aber bei der
gewöhnlichen Bevölkerung liegt. Welcher Partei, welcher Politiker:in in
dieser Regierung kann denn ernsthaft zugetraut werden, sich für die
Interessen der unteren Einkommenshälfte einzusetzen?
Der Bundeskanzler ist mit CumEx scheinbar in den größten Steuerraub der
bundesdeutschen Geschichte verwickelt. Der Finanzminister scheint der
verlängerte Arm des Porsche-Vorstands zu sein. Und der Wirtschaftsminister
sagt, die Gaspreise könnten nicht gedeckelt werden, weil sonst Menschen die
Heizung aufdrehen und die Fenster aufreißen. Auch wenn diese Regierung
darin ihr Eigeninteresse entdecken würde – sie scheint gar nicht in der
Lage, sich durch Umverteilung die passive Zustimmung der Massen zu
erkaufen.
## Rechte können keinen Sozialprotest
Bleibt die Frage, ob eine [2][reaktionäre Mobilisierung von rechts] droht.
Das ist eine reale Gefahr. Die Mischung aus den Organisationen der
Coronaproteste, der AfD im Parlament und den etablierten
Neo-Nazi-Strukturen schafft ein beachtliches Mobilisierungspotenzial der
reaktionären Rechten. Soziale Abstiegsängste sowie die Corona- und
Klimakrise haben eine große Anzahl bürgerlicher Menschen fehlradikalisiert,
sodass viele bereit sind, den als Verschwörung wahrgenommenen Staat zu
stürzen.
Es gibt dennoch gute Gründe daran zu zweifeln, dass die Rechten in der Lage
sind, eigene Sozialproteste auf die Beine zu stellen. Denn Sozialrevolten
folgen einer anderen Logik als beispielsweise Proteste gegen die
Coronamaßnahmen. In diesen ging es um die negative Freiheit vor kollektiven
Maßnahmen des Gesundheitsschutzes. In ihrem Zentrum stand das bürgerliche
Individuum, das auf jegliches Aufeinander-Acht-geben verzichten wollte. In
diesem Sinne waren die Coronaproteste stets neoliberal geprägt.
Sozialproteste dagegen drehen sich um positive Freiheiten wie die, sozial
abgesichert zu sein, in Solidarität leben zu dürfen oder als Gemeinschaft
die eigene Zukunft zu bestimmen. Sie sind geprägt vom demokratischen Geist
der Gleichheit, an den anzudocken den Rechten noch nie gelungen ist. Das
ist kein Zufall: Das Kernelement der rechten Ideologie ist die
Ungleichheit, ob nun der Menschen, Völker oder Marktsubjekte. Kollektive
Gefühle kennen Rechte nur in Form von Feindschaft zu anderen Gruppen.
## Kernkompetenz der Linken
Ob es nun gegen ökonomische Ungleichheit, patriarchale Strukturen oder
Rassismus geht: Der Kampf für Solidarität ist dagegen die Kernkompetenz der
Linken. Möglich ist, dass dieses intuitive Verständnis von Gerechtigkeit
ein Grund dafür ist, dass bereits ein Konsens bezüglich der Forderungen
gefunden wurde. Übergewinn-, Erbschafts- und Vermögenssteuern,
Energiepreisdeckel, 9-Euro-Ticket und der Rücktritt der Ampel-Regierung
sind ein ausreichend radikaler, aber auch anschlussfähiger
Forderungskatalog. Sowohl sozialdemokratische Rentner:innen als auch
junge Antikapitalist:innen werden sich dahinter stellen können.
Sogar die Pluralität der linken Bewegungen könnte sich in den kommenden
Monaten als Segen erweisen. Wie eine produktive Arbeitsteilung aussehen
könnte, ließ sich am Mittwoch bereits erahnen: Die Gewerkschaften tragen
Arbeitskämpfe aus, Mieter:innen-Inis kämpfen gegen Zwangsräumungen und
Mietsteigerungen. Sozialverbände und Initiativen wie #Ichbinarmutsbetroffen
artikulieren die Missstände. Die Klimabewegung fordert den massiven Ausbau
Erneuerbarer Energien. Antifas halten die Proteste nazifrei. Wer weiß –
vielleicht findet in all dem Trubel ja sogar die Linkspartei ihre Seele
wieder.
Klar gibt es auch Fallstricke. Die [3][Russlandtreue] von einigen in der
Linkspartei etwa, oder die Versuchung des Standortnationalismus, der die
Interessen der bundesdeutschen gegen die der Arbeiter:innenschaft in
der Ukraine oder im globalen Süden ausspielt. Doch werden diese vermieden
und die Kämpfe der linken Organisationen in solidarischer Weise verbunden,
ist es möglich, dass reale Veränderungen erkämpft werden können.
21 Aug 2022
## LINKS
[1] /Sozialprotest-vor-FDP-Zentrale-in-Berlin/!5875543
[2] /Mobilisierung-durch-das-rechte-Lager/!5866953
[3] /Protestaufruf-der-Linkspartei/!5871907
## AUTOREN
Timm Kühn
## TAGS
Sozialproteste
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Christian Lindner
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