| # taz.de -- Inflation in Europa: Auf die Straße, fertig, los | |
| > Europa könnte wegen steigender Preise ein Wutwinter bevorstehen. In | |
| > Frankreich bereiten sich die Gelbwesten darauf vor, in Österreich die | |
| > Querdenker. | |
| Bild: Die Gelbwesten wollen an ihre Anfänge 2018 anknüpfen, doch viele haben … | |
| Als wir angefangen haben, kostete ein Liter Diesel 1,54 Euro. Jetzt sind es | |
| 1,84 Euro,“ sagt Damien Mallot*. Der Klempner aus Melun, eine Autostunde | |
| südöstlich von Paris, war 2018 von Anfang an bei den [1][Protesten der | |
| Gelbwesten] dabei. Seine Frau sitzt seit einigen Jahren im Rollstuhl, ist | |
| chronisch krank, arbeitsunfähig. Das Paar lebt mit der 14-jährigen Tochter | |
| in einer 65-Quadratmeter-Wohnung. Mallot hat zwei Jobs, 2.200 Euro im Monat | |
| bringen die insgesamt ein. Nach Abzug aller festen Kosten bleiben ihnen 800 | |
| Euro zum Leben, sagt er. Und bei den Energiepreisen kommt die große | |
| Teuerungswelle erst noch. | |
| Frankreichs Regierung versuche, die Situation unter Kontrolle zu halten – | |
| etwa durch eine Ausweitung des „Kaufkraftpakets“ – scheitere damit aber, | |
| sagt Mallot. „Die Leute haben die Nase voll von den Steuern. Miete und | |
| Heizung bringen viele in sehr große Schwierigkeiten.“ Die Teuerungsrate lag | |
| im Juli bei 6,1 Prozent pro Jahr – ein Jahr zuvor waren es 1,2 Prozent. | |
| „Das sollte die Menschen auf die Straße treiben“, sagt Mallot. | |
| Vom drohenden „Wutwinter“ in Europa ist gerade viel zu hören: Die einen | |
| fürchten, dass er als Konjunkturprogramm für die extreme Rechte wirken | |
| könne. Andere hoffen, mit Druck von der Straße, linke Forderungen wie | |
| Preiskontrollen und Lohnerhöhungen durchsetzen zu können. | |
| In Deutschland warnt der Verfassungsschutz davor, dass Rechtsextreme die | |
| Protestbewegungen kapern könnten, Sozialverbände beklagen eine | |
| Vorab-Diffamierung legitimer Proteste und die grüne Außenministerin | |
| Annalena Baerbock spricht gar [2][von möglichen „Volksaufständen“] gegen | |
| die hohen Gaspreise. | |
| ## Kommen sie wieder? | |
| Sicher ist: Die Inflation von 8,9 Prozent im Juli in der Eurozone ist | |
| Treibstoff für Frust und Widerstand. | |
| Wie in den Ländern Europas der Unmut über die [3][steigenden | |
| Lebenshaltungskosten] politisch zu kanalisieren versucht wird, ist höchst | |
| unterschiedlich. Stets werden drei Themen mitverhandelt: [4][Klimaschutz], | |
| der [5][Ukrainekrieg] und die [6][Coronapolitik]. Die Preisexplosion | |
| verschmilzt mit den anderen Großkrisen dieser Zeit zu einem teils | |
| hochtoxischen Gefüge. | |
| In Frankreich etwa geschieht dies in einer politischen Landschaft, die mit | |
| den Gelbwesten erst kürzlich ein ideologisch heterogenes, aber äußerst | |
| [7][mobilisierungsfähiges Protestmilieu] hervorgebracht hat. Der Regierung | |
| von Emmanuel Macron wurde dies so gefährlich, dass der Schatten der | |
| Gelbwesten bis heute durch Klimaschutzverhandlungen geistert. Und das nicht | |
| nur in Frankreich: Übertreibt es nicht, sonst kommen wir wieder. | |
| „Frankreich in Wut“ so nannten sich die Gelbwesten selbst, es passt zu | |
| einem drohenden „Wutwinter“, es passt auch zu Mallot, der sich eine | |
| Zigarette nach der anderen ansteckt, wie um Druck abzulassen, während er | |
| erzählt, wie das damals war, im Herbst 2018, mit den Sternmärschen und | |
| Großdemos. | |
| Über Facebook, den Messengerdienst Discord und Whatsapp verabredeten sie | |
| sich zur Blockade der Straßenkreuzungen – zunächst, um [8][Emmanuel | |
| Macrons] Pläne für eine CO2-Steuer von 6,5 Cent pro Liter Diesel und 2,9 | |
| Cent für Benzin zu kippen. Die Idee, „alles Fossile zu stoppen, war eine | |
| Dummheit, das ist extrem teuer für die kleinen Leute“, sagt Mallot. | |
| Ihn selbst hatte damals aufgebracht, dass sein Einkommen für die Berechnung | |
| der Behindertenbeihilfe seiner Frau mit angerechnet wurde. So bekam sie | |
| statt 500 nur 185 Euro Beihilfe – während er selbst immer weniger arbeiten | |
| konnte, weil er sich um seine zunehmend hilfsbedürftige Frau kümmern musste | |
| Von Beginn an hat er in seiner Heimatstadt die Aktionen der Gelbwesten | |
| koordiniert. Jede Woche freitags von 19 bis 23 Uhr, samstags von 9 bis 19 | |
| Uhr, standen sie an der Europa-Kreuzung, zu Hochzeiten mit 80 Aktiven. „Ich | |
| habe es geliebt, ich habe unglaubliche Leute kennengelernt“, sagt er. Sie | |
| wollten nicht nur stabile Preise an der Zapfsäule, sondern mehr im | |
| Geldbeutel: höhere Löhne, niedrigere Steuern, mehr Sozialleistungen. | |
| „Umverteilung des Reichtums, darum ging es letztlich“, sagt Mallot. | |
| „Bürgerproteste“ seien das gewesen, ein wenig wie jene der Französischen | |
| Revolution 1789, getragen von der Mittelschicht, das ist Mallot wichtig: | |
| „Denn die zahlt für den ganzen Rest. Für die Reichen, die keine Steuern | |
| zahlen, und für die Armen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind.“ | |
| Melun ist für die Gelbwesten ein besonderer Ort: Hier lebt auch der | |
| Lkw-Fahrer [9][Eric Drouet], der Ende Oktober 2018 zu einer | |
| Autofahrer-Kundgebung auf der Pariser Ringautobahn aufruft. 300.000 machen | |
| schließlich landesweit mit. Die Gelbwesten sind geboren und Drouet ruft zum | |
| Sturm auf den Élysée-Palast. | |
| Alle, die gegen Präsident Macron waren, versuchen damals, die Gelbwesten zu | |
| vereinnahmen. Marine Le Pen, Anführerin des rechten Rassemblement National | |
| (RN), versichert, sie unterstütze die Gelbwesten „seit der ersten Stunde“. | |
| Der Linke Jean-Luc Melenchon, Anführer der populistischen Bewegung La | |
| France Insoumise („Unbeugsames Frankreich“, LFI), bejubelt die Gelbwesten | |
| als „Bürgerrevolution“ und bezeugte Drouet öffentlich seine Bewunderung. | |
| Beide, so sagt Drouet später, hätten ihn erfolglos als Kandidat für die | |
| EU-Wahl im Mai 2019 zu gewinnen versucht. | |
| Auf den großen Gelbwesten-Demos gibt es teils Krawalle, die Polizei | |
| reagiert mit extremer Gewalt. Mitte 2019 flauen die Proteste wieder ab. | |
| Verschwunden aber sind die Westenträger nicht. | |
| Macron führt in diesem Jahr vor den Parlamentswahlen am 19. Juni zwar einen | |
| mittlerweile auf satte 30 Cent pro Liter angehobenen Tankrabatt ein. Der | |
| soll die Preiserhöhungen durch die Russland-Sanktionen abdämpfen und so den | |
| Populisten das Thema entziehen. Doch der Rabatt läuft Ende August aus. | |
| Ideale Voraussetzungen für ein Comeback der Gelbwesten also. | |
| Die seien allerdings nicht mehr das, was sie mal waren, findet Damien | |
| Mallot. Er hat die Bewegung mittlerweile verlassen. „Destruktiv“ sei diese | |
| geworden. „Es gibt keinen Anführer. Denn jeder, der dies werden wollte, | |
| wurde angegriffen, vom Staat und von innen.“ Dazu komme der „Black Block“, | |
| der Repression der Polizei provoziert hätte, sagt Mallot. | |
| Für die nächsten Wochen planen die Gelbwesten mindestens zwei Großproteste. | |
| Doch das, was da nun komme, sei nicht zu vergleichen mit 2018: Die Aktionen | |
| gehen „mehr von Gewerkschaften und Parteien, nicht mehr von den Bürgern | |
| aus“, sagt Mallot. Vor allem Mélenchons LFI versuche seit jeher die | |
| Gelbwesten zu vereinnahmen und habe dabei zuletzt wachsenden Erfolg. „Eher | |
| nicht mein Ding“, sagt Mallot. Auch viele andere hätten die Bewegung | |
| deshalb verlassen. | |
| Das rechte RN werde die Proteste nicht dominieren können, glaubt er. „Die | |
| Wurzeln des RN liegen in der Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Sie | |
| sind keine republikanische Partei.“ | |
| Doch tatsächlich hatten einer Umfrage von 2019 zufolge 44 Prozent der | |
| Gelbwesten bei den damaligen EU-Wahlen das RN gewählt, mehr als jede andere | |
| Partei. Und auch heute hat das RN eine bessere Ausgangslage, um von | |
| Protestierenden als politische Repräsentanz anerkannt zu werden. Denn die | |
| Partei der Putin-Freundin Le Pen ist seit jeher gegen Russland-Sanktionen. | |
| Der Linke Mélenchon hingegen hält diese im Ukrainekrieg, bei aller Skepsis, | |
| für „das Einzige, was zu tun bleibt.“ | |
| Und auch das, was derzeit in den Aufrufen zur Pariser Gelbwesten-Demo zu | |
| lesen ist, ist durchaus anschlussfähig für Le Pen: Neben Maßnahmen gegen | |
| die Inflation und für mehr öffentliche Dienstleistungen wird ein Ende der | |
| „totalitären“ Gesundheitspolitik – gemeint sind Coronamaßnahmen – sow… | |
| Austritt Frankreichs aus Nato, EU, WHO und „jeder supranationalen | |
| globalistischen Organisation“ gefordert. | |
| Während es also in einem französischen „Wutwinter“ auf das Erbe der | |
| Gelbwesten ankommen könnte, dürfte in Österreich die Querdenkerszene eine | |
| wichtige Rolle spielen. Viele Corona-Demonstrant*innen marschieren direkt | |
| weiter – auf Demos gegen die Teuerung. Etwa im oberösterreichischen Steyer | |
| – einer Hochburg der Corona-„Spaziergänge“, mit teils Tausenden | |
| Teilnehmer*innen und engen Kontakten zur deutschen Querdenken-Bewegung. | |
| Die Wortführerin in Steyer ist die selbst ernannte Schamanin Sabine | |
| Brandner. „Es geht mittlerweile um ein leistbares Leben, darum, dass man im | |
| Winter nicht bei 13 Grad Innentemperatur dasitzen kann,“ sagte sie beim | |
| Spaziergang am vergangenen Sonntag dem Regionalsender RTV. | |
| ## Heterogenes Milieu | |
| Die Querdenkerszene ist dabei stark verbunden mit der rechtsextremen FPÖ, | |
| die seit jeher Putin nahe steht. Deren Botschaft: Der Wohlstandsverlust ist | |
| zu groß, das Land müsse im Ukrainekrieg deshalb eine neutrale Position | |
| einnehmen. Im September wird die FPÖ einen Antrag auf eine Volksbefragung | |
| zu den Sanktionen ins Parlament einbringen. Parallel dazu hetzt sie auf | |
| allen Kanälen gegen angeblich ankommende Flüchtlingsmassen. „2015 | |
| wiederholt sich“ heißt es in einem am vergangenen Sonntag von der FPÖ | |
| veröffentlichten Video, das zeigt, wie angeblich „tagtäglich unzählige | |
| illegale Einwanderer aufgegriffen“ werden. | |
| Mit dem Thema versucht die Partei zu punkten seit es sie gibt. Und seit | |
| 2015 haben sich zwei Dinge zu ihren Gunsten verändert: Das Ressentiment | |
| gegen Flüchtlinge trifft nun auf eine real begründete, wachsende Angst vor | |
| Verarmung. Gleichzeitig hat die FPÖ – anders als 2015 – seit den | |
| Coronademos eine soziale Basis auf der Straße. Denn gegen die | |
| Pandemiepolitik sind Identitäre und andere Rechtsextreme ganz vorn | |
| mitmarschiert. | |
| Ein zuvor [10][sehr heterogenes Milieu von Coronaskeptikern] hat deshalb | |
| fast zwei Jahre lang Verschwörungsideologie und extrem rechte Propaganda | |
| aufgesogen. Die „Plandemie“ ist darin nur der Anfang, Ukrainekrieg und | |
| Preisexplosion sind die Fortsetzung. Alles Übel wird als Teil des „Great | |
| Reset“ hingestellt – einer Art Universal-Verschwörungstheorie. Vor allem | |
| [11][über Telegram] abonnieren heute Hunderttausende nonstop abstruseste | |
| Fake News, die vor allem eine Wirkung haben: Immer mehr Menschen wenden | |
| sich vom demokratischen Gemeinwesen ab. | |
| Konstantina Rösch, eine Allgemeinmedizinerin, der im Februar die Zulassung | |
| als Ärztin entzogen wurde, ist eine der bekanntesten Figuren der | |
| Corona-Demonstrant*innen in Österreich. Die Maskenpflicht nennt sie die | |
| „vorderste Frontline“ im Kampf gegen den „feigen, erbärmlichen und so | |
| lächerlichen Gegner“ – gemeint ist die ÖVP-Grünen-Regierung. | |
| „Die allermeisten Menschen im Land wissen, dass mit der Politik etwas nicht | |
| stimmt, dass das im besten Fall Kasper sind, dass nichts hinhaut“, sagte | |
| Rösch dem extrem rechten Online-Fernsehsender Auf1-TV. „Was sie aber noch | |
| nicht verknüpfen können, ist, dass die Menschen, die sie belogen haben, | |
| schuld am wirtschaftlichen Niedergang, am Verlust der Lebensqualität sind. | |
| Diese Verknüpfung fehlt noch. Wenn die da ist, wird der Zorn der Menschen | |
| sehr ungut werden.“ | |
| Auf1-TV hat allein auf Telegram 210.000 Follower und [12][seit Kurzem ein | |
| Büro in Berlin] – geführt von Martin Müller-Mertens, einem Redakteur des | |
| rechtsextremen Magazins Compact. Wer hier zuschaut kriegt ein | |
| Verschwörungs-Vollprogramm: Die US-Regierung als „Marionetten der | |
| Globalisten“, Klimaschutz als Gesundheitsgefahr und Bill Gates, der „uns zu | |
| überwachten Cyborgs machen will“. | |
| Der Gewerkschaftsbund ÖGB ist indes nach Kräften bemüht, den Rechten nicht | |
| das Feld zu überlassen. Für den 17. September ruft er in vielen | |
| Landeshauptstädten zu „Preise runter“-Demos auf. „Wir sehen es als wicht… | |
| an, über den Kreis der Gewerkschaftsmitglieder hinaus zu demonstrieren“, | |
| sagt ÖGB-Sprecher Patrick Fischer der taz. Das Problem, dass auch | |
| Rechtsextreme zu den Protesten aufrufen „ist uns bewusst. | |
| Wir wollen nicht, dass die bei uns mitlaufen und setzen da eine klare | |
| Schranke“. Dazu biete man „seriöse Ansätze, Analysen und Vorschläge unse… | |
| Experten“. So erhebt der ÖGB Forderungen wie Übergewinnsteuer, | |
| Energiepreisdeckel, Verbrauchersteuersenkungen oder Mietobergrenzen. | |
| So soll die extreme Rechte nicht nur bei den Sozialprotesten, sondern auch | |
| im anstehenden Wahlkampf um die Bundespräsidentschaft am 9. Oktober | |
| ausgebremst werden. | |
| Auch in der Schweiz bereiten sich die Gewerkschaften auf harte | |
| Auseinandersetzungen vor. „Als Gewerkschafter weiß man, dass Argumente | |
| nicht immer ausreichen. Manchmal braucht es mehr“, sagte Pierre-Yves | |
| Maillard, der Präsident des Gewerkschaftsbundes, Anfang August dem | |
| Tages-Anzeiger. „Wenn die Arbeitgeber die Löhne nicht erhöhen, wird es | |
| soziale und politische Unruhen geben.“ Ein Teil der Menschen werde schon | |
| bald echte Probleme haben, die Fixkosten zu stemmen. | |
| „Denken Sie an Heizung, Lebensmittel, aber auch die Krankenkassenprämien.“ | |
| Maillard will der Inflation auf dem klassischen Weg beikommen: durch | |
| Tarifverhandlungen und Streiks. Weil die Inflationsrate in der Schweiz bei | |
| vergleichsweise niedrigen 3,2 Prozent liegt, strebt er Lohnabschlüsse von | |
| rund 5 Prozent an. „Alles andere wäre katastrophal für den Arbeitsmarkt und | |
| den Konsum“, sagt Maillard. | |
| Mit Verweis auf Kaufkraft und Teuerung hatte 2021 die nationalkonservative | |
| SVP das geplante CO2-Gesetz per Referendum gestoppt. „Heizen, Pendeln und | |
| Ferien – alles wird teurer“, warnte die Partei. Und so argumentierte sie | |
| auch gegen andere Maßnahmen zur CO2-Reduktion, die nur dann akzeptabel | |
| seien, wenn sie mit finanziellen Entlastungen einhergingen. Die SVP | |
| forderte Steuersenkungen statt der Erhöhung bestehender Abgaben. | |
| Während sich in der Schweiz die Diskussion um höhere Löhne und Klimaschutz | |
| dreht, ist das südliche Nachbarland Italien – Inflationsrate: 7,9 Prozent – | |
| [13][voll im Wahlkampf]. | |
| Eigentlich wäre Regierungschef und Ex-EZB-Präsident Mario Draghi noch bis | |
| zum kommenden Frühsommer im Amt. Doch im Juli entzogen die | |
| Koalitionspartner ihm das Vertrauen. Am 25. September wird nun gewählt, die | |
| Lage ist kompliziert. | |
| Die Rechten stehen möglicherweise vor der Regierungsübernahme, eine große | |
| Mobilisierung über das Inflationsthema ist für sie aber kaum möglich. Denn | |
| die extrem rechte Lega von Matteo Salvini und die ebenfalls rechte | |
| Berlusconi-Partei Forza Italia sind Teil von Draghis noch amtierendem | |
| Regierungsbündnis. Sozialproteste gegen sich selber anzuführen ist | |
| schwierig. | |
| Gleichzeitig streben die beiden Parteien nach der Wahl ein neues | |
| Regierungsbündnis mit der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia und | |
| deren Vorsitzenden Giorgia Meloni an. Die steht jüngsten Umfragen zufolge | |
| weit oben in der Wählergunst. Gemeinsam müsste der Rechtsblock nach der | |
| Wahl mit der dann wohl voll durchschlagenden Energieteuerung umgehen. Da | |
| fällt es schwer, jetzt unerfüllbare Forderungen zu erheben. | |
| Draghi hatte zuletzt einiges getan, um Italiens Gasversorgung sicher zu | |
| stellen. Er schloss Lieferverträge mit Libyen und Algerien und schaffte | |
| zwei schwimmende Flüssiggasterminals an. Doch auch Italien importiert | |
| bislang noch 46 Prozent seines Gases aus Russland. | |
| Zusätzlich kompliziert ist die Lage, weil sowohl Berlusconi als auch | |
| Salvini seit langem enge Verbindungen zu Russland pflegen, was derzeit in | |
| Italien nicht gut ankommt. Als klar war, dass Draghis Regierung aufgelöst | |
| wird, tat Salvini deshalb das, was er immer tut: Er hetzte gegen | |
| Immigranten. | |
| Um das Inflationsthema kommt die Lega trotzdem nicht herum. Italien soll | |
| mit rund 200 Milliarden Euro die meisten Gelder aus dem | |
| EU-Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ erhalten. Auf dieses Geld | |
| wird auch eine mögliche Rechtsregierung angewiesen sein. Anders als früher | |
| lehnt die Lega die EU deshalb heute nicht mehr ab, sondern beschränkt sich | |
| darauf, mehr nationale Souveränität zu fordern – eine Art „ungarischer | |
| Ansatz“, mit dem sich wohl auch eine mögliche postfaschistische | |
| Ministerpräsidentin Meloni arrangieren würde. Linke – sowohl | |
| antikapitalistisch-außerparlamentarische als auch Gewerkschafter*innen | |
| – argumentieren indes, dass die Milliarden vor allem für Sozialprogramme | |
| statt für Unternehmensrettung genutzt werden sollen. | |
| Eine der wichtigsten Stellschrauben dabei ist das sogenannte Bürgergeld, | |
| dass 2019 auf Initiative der Fünf-Sterne-Bewegung eingeführt wurde und den | |
| Staat derzeit etwa neun Milliarden Euro im Jahr kostet. Die neue Regierung | |
| wird entscheiden müssen, ob und wie sie es als Hilfsmaßnahme gegen die | |
| Inflation weiterführt. | |
| Die Rechten wollen es auf „arbeitsunfähige“ Empfänger*innen beschränken | |
| und dafür Einkommenssteuern senken, Linke wollen es mit | |
| Anti-Betrugs-Maßnahmen und aktivierender Arbeitsmarktpolitik reformieren. | |
| Zumindest vor den Wahlen taugen diese Differenzen vor allem angesichts der | |
| realpolitischen Eingebundenheit der extremen Rechten kaum zur großen | |
| Straßenmobilisierung. | |
| Der Ex-Gelbwesten-Koordinator Damien Mallot hofft indes weiter darauf, | |
| dass die Franzosen mit Druck von der Straße ihre Regierung zwingen, das | |
| Leben bezahlbar zu halten. An Massenproteste wie zu den Hochzeiten der | |
| Gelbwesten 2018 hofft er zwar, glaubt daran aber nicht. „Die Franzosen sind | |
| noch nicht wütend genug.“ | |
| *Name geändert | |
| 28 Aug 2022 | |
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