| # taz.de -- Körperkunst in Polynesien: Heilige Tinte | |
| > Tattoos waren in Polynesien von höchster kultureller Bedeutung, wurden | |
| > aber lange von der Kirche verboten. Nun erlebt die Körperkunst eine | |
| > Renaissance. | |
| Bild: Tänzer mit traditionellen Tattoos im französischen Polynesien | |
| Tahuata taz | Der Gesang einer Gruppe von Frauen und Männern erfüllt den | |
| kleinen Hafen von Tahuata. Begleitet von Trommeln und Ukulelen, gekleidet | |
| in farbigen Gewändern, begrüßen die Künstler*innen im Licht der | |
| Nachmittagssonne die Gäste eines Kreuzfahrtschiffes. Wer ein | |
| [1][Klischeebild eines Südseeparadieses] sucht, findet es hier in den | |
| Marquesas-Inseln von Französisch-Polynesien. | |
| Die Frauen tragen selbstgemachte Kränze auf den Köpfen, geflochten aus | |
| farbigen Blumen und grünen Blättern. Umrandet von dichtem Urwald, gesäumt | |
| vom kristallklaren Wasser des Südpazifiks, liegt Tahuata buchstäblich am | |
| Ende der Welt. Über drei Stunden Flug sind es in die Hauptstadt Papeete auf | |
| Tahiti, Tage mit dem Schiff. Luftlinie liegt die Insel näher an Südamerika | |
| als an Australien. | |
| Doch es sind nicht nur die exotischen Klänge, die den Besuchern zeigen, wo | |
| sie angekommen sind. Spektakuläre Tätowierungen schmücken die Sänger*innen. | |
| Nur schwarz, keine Farben, aber exakt gestochene, schematische Muster | |
| zieren große Teile ihrer Körper – schnurgerade Motive oder auch | |
| schwunghafte. „Jedes Symbol hat eine Bedeutung für uns“, erklärt eine jun… | |
| Frau einer neugierigen Touristin. „Es zeigt, wo ich herkomme, wer meine | |
| Ahnen sind, es zeigt den Kreis des Lebens.“ | |
| Noch bis vor ein paar Jahrzehnten hätten Besucher Polynesiens kaum je | |
| solche Tattoos gesehen, erklärt die gebürtige Schweizerin Heidy | |
| Baumgartner. Die Expertin für polynesische Felskunst lebt seit den | |
| achtziger Jahren in Tahiti. „Als ich hier angekommen bin, gab es kein | |
| einziges Tattoo“, erinnert sie sich. Erst nach ein paar Jahren sah sie zum | |
| ersten Mal einen traditionell geschmückten Mann: „Er war von Kopf bis Fuß | |
| tätowiert“, sagt die Wissenschaftlerin. | |
| Dabei war das Tattoo über Jahrhunderte ein unverzichtbarer Bestandteil | |
| traditioneller Kultur und Religion unter den Völkern Polynesiens. Die | |
| begabten Seefahrer, die das „polynesische Dreieck“ im Verlauf der | |
| Jahrhunderte besiedelt hatten, entwickelten auf den isolierten Inseln des | |
| Pazifiks ein reiches Geflecht von Kulturen, unter denen Tätowierungen eine | |
| wichtige, ja zentrale Rolle spielten. Das Wort „Tattoo“ stammt vom | |
| polynesischen Wort „tatau“, das bis heute verwendet wird – von Tahiti bis | |
| Tonga. Der britische Entdecker James Cook hatte den Begriff nach seiner | |
| Reise nach Polynesien im Jahr 1771 nach England gebracht. Ein tätowierter | |
| Tahitianer namens Ma’i begleitete Cook damals zurück nach London. Seither | |
| ist das Wort im Westen bekannt. | |
| Da es in der polynesischen Kultur historisch keine Schrift gab, waren | |
| Tätowierungen eine wichtige Form der Kommunikation. Laut dem führenden | |
| amerikanische Tattoo-Anthropologen Lars Krutak zeigten sie den sozialen | |
| Status des Trägers, die Geschlechtsreife, die Herkunft und den Rang einer | |
| Person. So waren in der traditionell sehr hierarchischen polynesischen | |
| Gesellschaft fast alle Erwachsenen tätowiert – ob in Samoa, Tonga, oder die | |
| Maori im heutigen Neuseeland (Aotearoa). | |
| So vielseitig die Völker Polynesiens sind, so vielseitig sind auch die | |
| spirituellen, kulturellen und gestalterischen Hintergründe dieser | |
| permanenten Form von Körperkunst. Praktisch alle Völker dort aber glaubten, | |
| Tätowierungen seien „ein Geschenk des Himmels an die Menschheit“, so | |
| Anthropologen. Einer tahitianischen Legende zufolge waren die Söhne von | |
| Ta’aroa, dem obersten Schöpfer, die ersten Wesen, die sich tätowierten. | |
| Auch die verwendeten Muster und ihre Platzierung am Körper galten als | |
| heilig und unterlagen strikten Regeln. Zwar unterscheiden sich die | |
| Tätowierungen von Inselkette zu Inselkette. Oftmals sollten Motive das | |
| „Mana“ bewahren, die in den polynesischen Völkern bis heute wichtige | |
| „göttliche Essenz“. Von ihr nahm man an, dass sie die Gesundheit, das | |
| Gleichgewicht und die Fruchtbarkeit bestimme. So war das Anbringen von | |
| Tattoos immer auch mit „Tapu“ belegt. Auch dieser Begriff, der im | |
| übertragenen, weitesten Sinne „Verbot“ bedeutet, hat seinen Weg in die | |
| westliche Welt gefunden –„Tabu“. | |
| So durften nur speziell ausgebildete Tätowierer die Tintenkunst anbringen. | |
| Während Tattoos heute fast immer mit [2][feinen, sterilisierten Nadeln und | |
| automatischen Tätowierpistolen gestochen werden], war die Prozedur in ihrer | |
| ursprünglichen Form deutlich weniger angenehm. Eine Tätowierung nach | |
| traditioneller Methode war mit monatelangen, kaum zu ertragenen Schmerzen | |
| verbunden. | |
| In Samoa, einer Inselgruppe mit einer besonders starken Tätowierkultur, | |
| wurde von jugendlichen Männern erwartet, dass sie sich – quasi als | |
| Übergangsritus zum Erwachsensein – einer täglichen über bis zu vier Monate | |
| dauernden Tätowierprozedur unterziehen. Dabei wurde ein mit Tinte | |
| versetzter Kamm oder eine Nadel aus Knochen buchstäblich unter die Haut | |
| gehämmert – ohne jegliche Betäubung. Danach wurde die Wunde mit Salzwasser | |
| gereinigt und zum Schutz vor Infektionen massiert. | |
| „Der gesellschaftliche Druck sorgte dafür, dass die meisten Männer den | |
| Prozess abschlossen“, meint der mit den Traditionen vertraute Journalist | |
| Jonathan DeHart. „Denn sie wollten nicht als Feiglinge gelten und von den | |
| anderen Mitgliedern ihres Stammes gemieden werden.“ Jene, die den Schmerz | |
| nicht mehr ertragen wollten und aufgaben, „trugen ihre unvollständige Tinte | |
| ein Leben lang als Zeichen der Schande“. | |
| Pascal Erhel Hatuuku passt kaum in den Sessel, so wuchtig ist der Mann | |
| gebaut. Mit hüftlangem Haar und einer prominenten Tätowierung auf dem | |
| rechten Bein verkörpert der gebürtige Marqueser das Bild eines | |
| polynesischen Kriegers. Tatsächlich diente Erhel Hatuuku mehrere Jahre lang | |
| in der französischen Armee, bevor er sich in seiner pazifischen Heimat der | |
| Förderung polynesischer Kultur verschrieb. Er erzählt, wie die Tradition | |
| des Tätowierens mit der Ankunft christlicher Religion vor rund 150 bis 200 | |
| Jahren ein abruptes Ende gefunden hatte. | |
| [3][Christliche Missionare] und der Vormarsch des katholischen Glaubens bis | |
| ins hinterste Tal und auf das kleinste Atoll brachten neue Werte und neue | |
| Verbote nach Polynesien. Ein ganz besonderer Dorn im Auge war den | |
| Geistlichen aus fernen Landen die Nacktheit der Polynesierinnen und der | |
| freizügige Umgang mit der Sexualität. Dieses Attribut der Bewohnerinnen auf | |
| einigen Inseln hatte es Jahre zuvor den Matrosen britischer Schiffe | |
| angetan. Einige waren von der Schönheit polynesischer Frauen so begeistert, | |
| dass sie sich trotz Androhung schärfster Strafen von ihrer | |
| Schiffsmannschaft trennten und sich unter tropischer Sonne mit einer | |
| Polynesierin im Arm ihren eigenen Südseetraum erfüllten. | |
| Mit dem Alten Testament kam auch das Verbot der absichtlichen Veränderung | |
| des Körpers in den Pazifik. „Gott – der katholische Gott, oder Jesus, wenn | |
| Sie wollen – die hätten den Menschen nicht mit einem Tattoo geschaffen“, | |
| habe die Botschaft der weißen Priester geheißen, so Erhel Hatuuku. „Denn | |
| ein Mensch sei auch ohne Tätowierung schön“, sage die Bibel. | |
| Es habe zwar vereinzelt Widerstand gegen die Zerstörung der | |
| Tätowierungstraditionen gegeben, vor allem von den Tahitianern auf den | |
| Gesellschaftsinseln, schreibt Jonathan DeHart. Eine Gruppe einflussreicher | |
| Dichter, Priester und Historiker habe Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts | |
| eine Reihe von „Tattoo-Rebellionen“ durchgeführt, mit denen sie ihre | |
| Souveränität und ihre religiösen Wurzeln behaupten wollten. Auch in Samoa | |
| und Tonga gab es Versuche, die heilige Tradition bewahren zu können. Doch | |
| auf vielen Inseln wurde der katholische Glaube im Verlauf der Jahre derart | |
| dominant, dass polynesische Traditionen kaum noch Überlebenschancen hatten. | |
| Dieser Zustand hielt in weiten Teilen Polynesiens in unterschiedlichem | |
| Ausmaß bis in die 1970er und 1980er Jahre an. Dann erlebten Tätowierungen | |
| eine kulturelle Wiedergeburt. „Zu diesem Zeitpunkt waren die alten Muster | |
| und Bedeutungen bereits völlig verloren“, wird der Anthropologe und | |
| Filmemacher Jean-Philippe Joaquim zitiert. „Als die Menschen begannen, sich | |
| wieder Tätowierungen anzueignen, verwendeten sie Material, das von einigen | |
| deutschen und amerikanischen Wissenschaftlern aus dem 19. Jahrhundert | |
| dokumentiert und gesichert worden war“. Die Forscherin Heidy Baumgartner | |
| hat die „Wende“ in den frühen achtziger Jahren selbst miterlebt. „Es kam… | |
| Polynesien zu einem Wiederaufleben des Interesses an der eigenen Kultur“, | |
| zu einem Wiedererwachen der Identität. „Tätowierungen waren die ersten | |
| Zeichen dieser Renaissance.“ Seither wurde die Praxis wieder so populär, | |
| dass heute auf vielen Inseln im Pazifik ein großer Teil der Erwachsenen | |
| eine Tätowierung trägt. | |
| Pascal Erhel Hatuuku zeigt auf das Tattoo auf seinem Bein. „Es ist wie ein | |
| Markierungszeichen für uns. Das Tattoo zeigt, dass man aus Polynesien | |
| stammt, aus Tahiti, Tuamotu oder aus Neuseeland.“ Zudem kanalisiere eine | |
| Tätowierung „die Kraft, die aus der Umwelt kommt – der Tiere, der Pflanzen, | |
| der Landschaft“. Trotzdem: Gerade unter älteren Generationen sei die | |
| Warnung der Missionare noch spürbar, das Anbringen eines Tattoos sei ein | |
| Vergehen gegen Gott, gegen die Schöpfung. Für seine betagten Eltern etwa | |
| seien Tätowierungen „unsauber“, wie er es ausdrückt, „weil sie den Kör… | |
| verändern“. | |
| Solche Argumente hört man unter jüngeren Menschen kaum noch. Selbst | |
| Polynesier, die sich als gläubige Christen bezeichnen, tragen gerne ein | |
| traditionelles Tattoo. Denn nebst Kultur und Identität haben junge Menschen | |
| noch einen anderen Grund, sich ein Tattoo stechen zu lassen: Eitelkeit. | |
| Pascal Erhel Hatuuku: „Ein Grund ist die Ästhetik. Ein Tattoo ist einfach | |
| auch schön.“ | |
| 2 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Urs Wälterlin | |
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